Autorin: Anja Thomas
Deutschland hatte von 1. Juli bis zum 31. Dezember 2020 die EU-Ratspräsidentschaft inne. Das Treffen des Europäischen Rates am 10. Dezember 2020 hat eine Einigung gebracht, die in den Augen vieler Beobachter einen symbolisch weitreichenden Schritt für die europäische Integration darstellt: Die 27 Staats- und Regierungschef*innen haben sich unter anderem auf die Aufnahme gemeinsamer Schulden geeinigt, um einen europäischen Fonds zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise in den Mitgliedstaaten aufzulegen. Ein solches Instrument wurde bereits im März durch einen Brief von neun Mitgliedsregierungen unter der Führung Frankreichs und Italiens unter dem Stichwort „Coronabonds“ gefordert. Während sich Deutschland in der Eurozonenkrise strikt gegen Formen der kollektiven Schuldenfinanzierung gesperrt hat, hat es schon im Mai zusammen mit Frankreich eine Initiative vorgelegt, die solche Instrumente vorsieht.
Wie bestimmte die Übernahme des Vorsitzes im Rat der EU im zweiten Halbjahr 2020 diesen in Europa weithin beachteten „Sinneswandel“ der deutschen Bundesregierung?
Die Ratspräsidentschaft als institutionell-symbolische Rolle
Aus Sicht der soziologischen Rollentheorie verbindet sich mit der Übernahme einer institutionellen Position ein Zusammenspiel von Handlungserwartungen von innen und außen, die über die formalen Funktionen und die damit verbundene Machtfülle hinausgehen und bedeutende Effekte für gesellschaftliche und politische Prozesse haben können. Was passiert, wenn die Regierung Merkel in die „Rolle der Ratspräsidentschaft“ schlüpft?
Proben beginnen vor dem Auftritt: Über den eigentlichen Vorsitz im Rat hinaus haben Ratspräsidentschaften eine wichtige symbolische Rolle für die Vermittlung zwischen nationalen und europäischen politischen Prozessen. Eine Ratspräsidentschaft mobilisiert über einen langen Zeitraum nationale politische und Verwaltungsakteure, aber auch Gesellschaftsakteure, wie Medienvertreter*innen und Vertreter*innen von Vereinen und Verbänden oder der Wissenschaft für europäische Prozesse. Die Vorbereitung einer Ratspräsidentschaft nimmt zwei bis drei Jahre in Anspruch und generiert eine gesteigerte Aufmerksamkeit für die Europapolitik. Ministerien schreiben zusätzliche Stellen aus. Über zahlreiche Kanäle werden (mehr oder weniger symbolische) Beteiligungsmöglichkeiten für europapolitisch engagierte Bürger*innen eröffnet, wenn zusätzliche Gelder für Diskussionsveranstaltungen, Fortbildungen oder Schulwettbewerbe zur Verfügung gestellt werden.
Erwartung des Publikums: Als Resultat dieses Prozesses kommen auf die Regierung des Präsidentschaftslandes aus der eigenen nationalen Öffentlichkeit gesteigerte Erwartungen zu, während Bürger*innen anderer Länder die Ratspräsidentschaft vermutlich nur am Rande wahrnehmen. Eine Ratspräsidentschaft soll spezifische „Impulse“ auf der europäischen Ebene setzen, die nicht zuletzt aus den nationalen europapolitischen Diskussionen stammen. Gleichzeitig soll sie „Erfolge“ präsentieren, für die sie auf die europäischen Partner*innen angewiesen ist. Eine Ratspräsidentschaft hat die schwierige Aufgabe, gleichzeitig die europäische und die nationale Öffentlichkeit bedienen zu müssen. Ihre besondere Position als Vermittlerin zwischen verschiedenen Arenen hilft der Regierung allerdings auch, ihrer Rolle als Erwartungsmanagerin gerecht zu werden. Die „gemeinsame nationale Aufgabe“ der Ratspräsidentschaft, auf die bestimmte „europäische Erwartungen zukommen“, kann einen einigenden Effekt auf nationale Debatten haben und die europapolitische Arbeit erleichtern.
Haupt- und Nebenrolle: Nicht jede Rolle ist aus Sicht dieser Theorie gleich prägend. Besonders dort wo typische Handlungsmuster und Erwartungen mit einer Position verknüpft sind sollte sich Handlung verändern. Die deutsche Ratspräsidentschaft gleicht einer prägenden Hauptrolle. Deutschland kann auf eine Fülle von vorherigen Ratspräsidentschaften zurückblicken, die von innen Handlungsmuster bereitstellen und von außen Erwartungen schüren.
Drei Thesen zum Effekt der deutschen Ratspräsidentschaft auf das Zustandekommen des EU-Wiederaufbaufonds
Schaut man sich das vergangene Jahr an, so kann man drei Thesen dazu aufstellen, wie sich die deutsche Ratspräsidentschaft als institutionell-symbolische Rolle schon im Vorfeld auf die deutsche Haltung zum EU-Wiederaufbaufonds ausgewirkt hat. Dies bedeutet nicht, dass sich materielle Interessen und formale Anforderungen geändert haben, sondern, dass sich Spielraum und Zeitspanne der Lösungssuche durch die Übernahme der Ratspräsidentschaft geändert haben.
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1. Die anstehende Übernahme der Ratspräsidentschaft beschleunigte die Antwort Deutschlands auf die Vorschläge Frankreichs und anderer europäischer Partner im März
Von Ratspräsidentschaften wird erwartet, dass sie „Impulse“ setzen, auch für den Integrationsprozess. Dies gilt im Besonderen für die deutsche Ratspräsidentschaft, an die traditionell hohe Erwartungen geknüpft werden. Dies hat mit der besonderen Position Deutschlands in der EU zu tun und mit Modellen erfolgreicher deutscher Ratspräsidentschaften aus der Vergangenheit. Man denke an die Kompromisse zur Agenda 2000 unter Gerhard Schröder und die politische Einigung über den Lissabonvertrag 2007 schon unter Kanzlerin Angela Merkel.
Man kann davon ausgehen, dass die anstehende Ratspräsidentschaft die deutsche Bundesregierung im Vorfeld unter erhöhten Zugzwang stellte, schnell zu Kompromissen mit den europäischen Partner*innen zu kommen. Es war abzusehen, dass die Antwort auf die ökonomischen Folgen der Coronakrise auch noch im zweiten Halbjahr 2020 die Europapolitik dominieren würde. Hier konnte eine angehende deutsche Ratspräsidentschaft keine Leerstelle lassen und musste mit Partner*innen frühzeitig Lösungsvorschläge erarbeiten. Man muss sich hier auch noch einmal vor Augen führen, dass sich Deutschland zu Beginn der Eurozonenkrise besonders von Frankreich und anderen europäischen Partner*innen dem Vorwurf ausgesetzt sah, sehr spät auf französische Vorschläge reagiert und damit die Krise deutlich verstärkt zu haben.
2. Die Ratspräsidentschaft machte die Einigung zu europäischen Wirtschaftshilfen schon im Vorfeld zu einer „europäischen“ Aufgabe für die deutsche Bundesregierung
Von Ratspräsidentschaften wird erwartet, Europapolitik „voranzubringen“. Nach dem Coronabonds-Vorschlag im März wurde die Suche nach gangbaren Lösungen mit dem französischen Partner schon im Vorfeld zu einer „europäischen“ Aufgabe für Deutschland.
Durch die kommende deutsche Ratspräsidentschaft wurde der Druck auf deutsche Akteur*innen erhöht, eine Lösung zu finden, die einerseits traditionellen deutschen Positionen zur Wirtschafts- und Währungsunion (keine Transferunion, kein zeitlich unbegrenztes Instrument) und gleichzeitig den in den südlichen Mitgliedsländern formulierten Solidaritätsansprüchen entsprach. Letztere fokussieren sich seit langem auf ein gemeinsames Finanzmarktinstrument.
Die Übernahme der Ratspräsidentschaft erschwerte hier eine offene Opposition gegen die europapolitischen Positionen der Bundesregierung aus den Reihen der Großen Koalition selbst (und hier im Besonderen der CDU/CSU).
3. Die Ratspräsidentschaft beeinflusste die Deutungsrahmen für die Debatte um europäische Corona-Hilfen, die die Bundesregierung in der deutschen Öffentlichkeit verwendete
Von Ratspräsidentschaften wird erwartet, dass sie sinnstiftend sind und europäische Kompromisse nach innen und nach außen vertreten. Dies hat dazu geführt, dass Mitglieder der Bundesregierung die europäische Kompromisssuche schnell von einer „Debatte um Überschuldung“ zu einer „Debatte um Instrumente für eine notwendige Solidarität“ bezüglich der wirtschaftlichen Folgen der Coronapandemie wandelten.
Kurz nach dem Vorschlag im März sprach Wirtschaftsminister Peter Altmaier im Handelsblatt noch von einer „Gespensterdebatte“, das Instrument gehöre zu den „in der Geschichte begrabenen Lösungen für europäische Schuldenkrisen“. Angela Merkel verwendete wenig später in ihrer im Ausland vielbeachteten Bundestagsansprache am 23. April die Formel von „gemeinsamen Lösungen im Geiste der Solidarität“.
Die Covid-19 Krise wurde somit im politischen Diskurs der großen Koalition zu einer „symmetrischen“ Krise - einer Naturkatastrophe, die alle Mitgliedstaaten gleichermaßen traf - statt zu einer asymmetrischen Schuldenkrise, die Mitgliedstaaten je nach verantwortlicher vorheriger Fiskalpolitik „selbstverschuldet“ hatten. Letztere Deutung wurde in Bundestagsdebatten von Seiten der FDP und der AfD durchaus versucht – vergeblich, denn eine wirtschaftspolitische Moraldebatte konnte sich angesichts der inneren und äußeren Erwartungen an die deutsche Ratspräsidentschaft nicht durchsetzen.
Ratspräsidentschaft als nachhaltig wichtiger Mobilisierungs- und Sozialisierungsprozess
Diese Thesen zeigen, wo und wie die Ratspräsidentschaft verstärkte Auswirkungen auf innerdeutsche Debatten hatte und die deutschen Reaktionen auf den EU-Wiederaufbaufonds beschleunigt hat. In Anbetracht der Tatsache, dass jedes Land in einer EU mit 27 Mitgliedstaaten nur selten diese Rolle innehat, ist dies natürlich immer auch eine historisch kontingente Konstellation. Die Positionen der deutschen Bundesregierung muss – besonders im Licht der vorangegangenen Eurozonenkrise und der hier an Deutschland und der Kanzlerin geäußerten Kritik – in diesem Zusammenhang verstanden werden.
Dennoch weist das Beispiel auch auf eine Reihe dauerhaft wichtiger Scharnierfunktionen von Ratspräsidentschaften in einer Europäischen Union hin, in der nationale Entscheidungsprozesse und Öffentlichkeiten eine zentrale Rolle spielen. Auf der einen Seite sind das Europäische Parlament und die Europäische Kommission zu wichtigen Akteuren geworden, die auch Aufmerksamkeit in den nationalen Öffentlichkeiten erhalten. Auf der anderen Seite finden politische Debatten, aber vor allem auch politische und Verwaltungskarrieren immer noch überwiegend im nationalen Raum und mit nationalen Referenzpunkten statt. Jede Ratspräsidentschaft ist hier ein wichtiger Mobilisierungs- und Sozialisierungsmoment, der weit über die sechs Monate des eigentlichen Vorsitzes hin nationale Eliten und inhaltliche Arbeit auf Europa ausrichtet.
Über die Autorin:
Anja Thomas ist Research Associate im European Governance and Politics Programme des Robert Schumann Centers for Advanced Studies (RSCAS) am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz, wo sie bis August 2020 Max Weber Fellow war. Zuvor war sie Postdoc im Programm OxPo von Sciences Po Paris und der Universität Oxford. Am RSCAS ist sie Ansprechpartner für die Forschung zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Europäische Union und die europäische Integration und leitet ein Projekt zu europäischen Krisenmechanismen im Spiegel nationaler Parlamente. Sie interessiert sich aus historisch-vergleichender und institutionensoziologischer Perspektive insbesondere für die Beteiligung nationaler Akteure an europäischen Entscheidungsprozessen und ihrer Rückwirkungen auf die Legitimation europäischen Regierens. 2017 erhielt sie den Prix Pierre Pflimlin der Universität Straßburg für eine herausragende Doktorarbeit zur Europäischen Integration. Zuletzt erschien von ihr unter anderem Assemblée nationale, Bundestag and the European Union. The Micro-Sociological Causes of the European Integration Paradox (NOMOS 2019).
Dieser Blog-Beitrag geht auf die Diskussionsrunde "Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft" im Rahmen der DVPW-Veranstaltungsreihe "Politikwissenschaft im Gespräch" zurück. Kurz vor Ende der deutschen Ratspräsidentschaft haben Andreas Maurer, Uwe Puetter und Anja Thomas im Dezember 2020 eine erste Bilanz gezogen.