Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

75 Jahre Vereinte Nationen, 40 Jahre humanitäre Rüstungskontrolle: Weshalb das Konsensprinzip auf den Prüfstand gehört

Die Vereinten Nationen (United Nations, UN) werden in diesem Herbst 75, doch dies ist nicht der einzige besondere Geburtstag in der UN-Familie – auch die UN-Konvention über bestimmte konventionelle Waffen (Convention on Certain Conventional Weapons, CCW) wurde im Oktober vierzig Jahre alt. Für die CCW war diese Zeit weniger erfolgreich als für die humanitäre Rüstungskontrolle insgesamt: Nur einer von drei wichtigen Verträgen (das Protokoll über blindmachende Laserwaffen) konnte in der CCW verabschiedet werden, während die beiden anderen (die Konventionen zu Antipersonenminen und zu Streumunition) außerhalb der UN zu Ende verhandelt werden mussten, nachdem in der CCW keine Einigung möglich war. Seit einigen Jahren diskutiert die Konferenz über autonome Waffensysteme – und die Option, die CCW zu verlassen, um eine verbindliche Regulierung  zu erringen, steht erneut im Raum. Warum dies keine gute Lösung ist und welcher prozedurale Schritt angeraten ist, um Beschlüsse in der CCW zu ermöglichen, diskutiert dieser Beitrag.

Humanitäre Rüstungskontrolle in und mit der CCW

Die humanitäre Rüstungskontrolle umfasst Vereinbarungen zum Umgang mit konventionellen Waffen, die als besonders inhuman gelten, weil sie grausame Verletzungen verursachen und/oder Zivilist*innen gefährden. Da der Ursprung dieses Rüstungskontrollstranges im humanitären Völkerrecht liegt, war und ist das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (International Committee of the Red Cross, ICRC) maßgeblich an seiner Entwicklung beteiligt. Erst nachdem die Delegierten auf den Rot-Kreuz-Konferenzen der 1970er Jahre keine Einschränkungen konkreter Kampfmittel beschließen konnten, kam das Thema in die UN, wo die CCW schließlich ausgehandelt und verabschiedet wurde. Sie trat samt ihren ersten drei Protokollen (zu Waffen, die unentdeckbare Splitter produzieren sowie Landminen und Brandwaffen) 1983 in Kraft.

Auf ein Jahrzehnt Stillstand in diesem Politikfeld folgten die drei oben bereits erwähnten Erfolge, die allesamt unter Mitwirkung von, jedoch nur im Fall von Laserwaffen tatsächlich in den Vereinten Nationen erzielt wurden. Dass dennoch auch Landminen und Streumunition verboten werden konnten, verdanken wir einigen Staaten wie auch Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Erstere organisierten Ad-hoc-Verhandlungen außerhalb der UN und luden die Unterstützer*innen entsprechender Verbote ein, sich 1997 am Ottawa-Prozess zu Landminen und 2007/2008 am Oslo-Prozess zu Streumunition zu beteiligen. NGOs brachten sich nicht nur aktiv in beide Prozesse ein, sondern hatten bereits zuvor entscheidend dazu beigetragen, dass es sie überhaupt gab: mit jahrelanger Überzeugungsarbeit bei den Regierungen und mit öffentlichen Kampagnen zu den grausamen Folgen des Einsatzes dieser Waffen. Auch autonome Waffensysteme sind infolge des Drucks aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft im Jahr 2014 auf die CCW-Agenda gelangt – doch nach mehrjährigen Beratungen beginnen führende NGOs wieder, daran zu zweifeln, dass eine Ächtung dieser Waffen in den UN gelingt.

Tabelle 1: Zentrale Abkommen humanitärer Rüstungskontrolle

Vertrag

Verabschiedet/
in Kraft getreten

Vertragsparteien

Verhandlungsforum

Konvention über bestimmte konventionelle Waffen

1980/1983

125

ICRC à Konferenz über bestimmte konventionelle Waffen (UNCCW)

  

1980/1983

 

 

118

ICRC à UNCCW

  

1980/1983

1996 geändert

95

ICRC à UNCCW

  

1980/1983

115

ICRC à UNCCW

  

1995/1999

109

UNCCW

  

2003/2006

96

UNCCW

Landminenkonvention

1997/1999

164

UNCCW à Ottawa-Prozess

Streumunitionskonvention

2008/2010

110

UNCCW à Oslo-Prozess

 

Scheitert CCW an der Regulierung autonomer Waffensysteme?

Die CCW-Konferenz droht nun zum dritten Mal daran zu scheitern, verbindliche Einsatzregeln für eine bestimmte Waffenkategorie zu verabschieden, welche dann im Nachgang eine Koalition der Willigen außerhalb der UN beschließen müsste. Dies könnte weitreichende Folgen für die Legitimität der Vereinten Nationen, für zukünftige Verhandlungen, aber auch für die Bindewirkung der jeweiligen Abkommen haben. Die UN ernten für ihre mangelnde Handlungsfähigkeit seit jeher Kritik – jedes weitere Beispiel hierfür kann als Argument gegen die internationale Zusammenarbeit instrumentalisiert werden und eine selbsterfüllende Prophezeiung befeuern: Der Glaube, dass in bestimmten UN-Organen keine Beschlüsse möglich sind, führt dazu, dass dies nur halbherzig oder gar nicht versucht wird, weshalb sich der Glaube tatsächlich bewahrheitet. Wenn jedoch die CCW nicht mehr als die erfolgversprechende Anlaufstelle angesehen wird, kommt es in Zukunft vielleicht gar nicht erst zu Verhandlungen (etwa über Antifahrzeugminen oder uranangereicherte Munition). Immerhin erfolgte die Initialzündung bislang immer in der CCW, auch wenn die Prozesse extern zu Ende geführt wurden.

Es ist jedoch auch deshalb wichtig, Abrüstungsdiskussionen im UN-Rahmen zu führen, weil diese Diskussionen auch diejenigen (häufig militärisch fortgeschrittenen Staaten) beeinflussen, die die Normen ablehnen: Auch ohne zu flammenden Unterstützer*innen zu werden, passen sie dennoch ihre Positionen und ihr Verhalten an, wenn sie dauerhaft und konzentriert bestimmten Argumenten ausgesetzt sind. Dieser Sozialisationseffekt auf die Rüstungskontrollgegner*innen entfiele, wenn sich statt der gemeinsamen UN-Foren dauerhaft eine separate Blase der Abrüstungsbefürworter*innen etabliert.

David Wreckham, das Maskottchen der Campaign to Stop Killer Robots (Quelle: UN Photo/Evan Schneider)

Plädoyer für Mehrheitsentscheidungen in der CCW

Um die Konferenz über besondere konventionelle Waffen als Gesprächs- und Verhandlungsforum zu erhalten, plädiere ich dafür, sie zu stärken, und zwar mit einer Änderung des Abstimmungsverfahrens: Das bislang geltende Konsensprinzip sollte durch Mehrheitsentscheidungen ersetzt werden. Interessanterweise ist das Konsensprinzip eher eine Tradition als eine verbindliche Vorgabe. Denn der Artikel 34 der CCW-Verfahrensregeln enthält keinen Abstimmungsmodus, sondern schreibt lediglich vor, dass Entscheidungen gemäß Artikel 8 (2b) der Konvention zu treffen sind. Demnach sollen Änderungen und weitere Protokolle auf die gleiche Weise verabschiedet werden wie die Konvention.

Die CCW wiederum wurde im Jahr 1980 ohne Abstimmung angenommen – was substanziellen Konsens signalisiert, ist aber in diesem Fall eher ein Resultat aus prozeduralem Dissens: Die Delegierten haben damals deshalb nicht über die Konvention abgestimmt, weil sie sich nicht auf Abstimmungsregeln einigen konnten. Das Justitiariat der UN stellte hierzu fest, dass eine Abstimmungsweise, die aus einer Nicht-Entscheidung resultierte, keine Regel für zukünftige Abstimmungen begründen kann (United Nations Juridical Handbook 1995, S. 454-455). Die Konferenz sei damit nicht auf Einstimmigkeit festgelegt, sondern habe vielmehr die Möglichkeit, sich andere Entscheidungsregeln zu geben.

Diese Möglichkeit müssen die Delegierten heute nutzen, indem sie Konsens zwar als politisches Ziel beibehalten, die Entscheidungsfähigkeit jedoch durch Mehrheitsentscheidungen absichern (so wie im Ottawa- und im Oslo-Prozess geschehen). Ohne Zweifel haben Konsensentscheidungen eine besondere normative Strahlkraft: Sie sind inklusiver und sollen sicherstellen, dass niemand übergangen wird, was für einige Staaten eine Voraussetzung sein kann, sich überhaupt an der Entscheidungsfindung zu beteiligen; sie signalisieren, dass Überzeugung stattfand und sich das bessere Argument in einem kommunikativen Austausch durchsetzen konnte; und sie lassen auf eine bessere Regeleinhaltung hoffen, wenn zuvor alle Akteure diesen Regeln zustimmten.

Dem Ideal steht doch die Realität entgegen, etwa die eines Scheinkonsenses, der nur vermeintlich von allen mitgetragen wird und Machtstrukturen verschleiert. Zudem fungiert das Konsensprinzip in der CCW als de-facto-Vetorecht eines jeden Mitglieds, das insbesondere rüstungskontrollfeindliche Staaten einsetzen, um ihre militärischen Interessen zu schützen, indem sie das Gremium lähmen. Wenn diese Lähmung anhält und die CCW deshalb nicht in der Lage ist, Entscheidungen zu fällen, werden die Waffen, deren Einsatz solche Entscheidungen beschränken sollen, weiterhin Leid verursachen.

 

Über die Autorin:

Elvira Rosert ist Juniorprofessorin für Internationale Beziehungen an der Universität Hamburg und am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Sie hat mit Tanja Brühl ein Lehrbuch über die Vereinten Nationen geschrieben und sich in ihrem neuen Buch mit Normen der humanitären Rüstungskontrolle befasst. Zuletzt erschien von ihr gemeinsam mit Frank Sauer der Artikel „How (not) to stop the killer robots: A comparative analysis of humanitarian disarmament campaign strategies“ (Contemporary Security Policy, 2020).

Dieser Blog-Beitrag geht auf die Diskussionsrunde "75 Jahre Charta der Vereinten Nationen" im Rahmen der DVPW-Veranstaltungsreihe "Politikwissenschaft im Gespräch" zurück. Anlässlich des Gründungsjubiläums der Vereinten Nationen am 24. Oktober 2020 haben Stefan Aykut, Anna Holzscheiter und Elvira Rosert Bilanz und Perspektiven internationaler Zusammenarbeit in den Bereichen Klima, Gesundheit und Sicherheit diskutiert.