Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Sexuelle Gewalt in Konflikten: Endlich soll wirksam gehandelt werden – nur wie?

Am 23. April 2019 nahm der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (VN) mit 13 Ja-Stimmen und zwei Enthaltungen (vonseiten Russlands und Chinas) die von Deutschland eingebrachte „Resolution 2467 zur Bekämpfung von sexualisierter Gewalt in Konflikten“ an. Diesem Abstimmungsergebnis waren harte Verhandlungen vorausgegangen. Bis zuletzt drohte ein Veto der Vereinigten Staaten. Deren Abgesandte verweigerten die Zustimmung zu Formulierungen, die Frauen ein Recht auf sichere Abtreibungen zugestanden hätten. Aber immerhin sind der deutschen Delegation mit dieser Resolution zwei wichtige Errungenschaften gelungen: eine Stärkung der Rechenschaftspflicht, indem explizit auf die Möglichkeit von Sanktionen gegen sexuell gewalttätige Kriegsparteien hingewiesen wird, sowie eine Stärkung der Rechte von Überlebenden sexueller Gewalt.

Aber was genau bedeuten derartige „Stärkungen“ für die Betroffenen konkret? Zunächst erst einmal wenig, zumal die aktuelle Resolution dem bestehenden Völkerrecht nur unverbindliche Nuancen hinzufügt. Am ehesten lassen sich solche „Stärkungen“ als Bekräftigungen einer ernsthaften Absicht verstehen: sexueller Gewalt in Konflikten soll endlich wirksam begegnet werden und Überlebende sollen endlich Hilfe, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung erfahren. Offen bleibt weiterhin, wie diese Ziele erreicht werden können.

Die klaffende Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Begleitet wurden die Verhandlungen über die Resolution von einem gemeinsamen Artikel des deutschen Außenministers Heiko Maas und der VN-Botschafterin Angelina Jolie, den die Washington Post am 22. April veröffentlichte. Maas und Jolie berichten von Gesprächen mit Überlebenden sexueller Gewalt aus dem Irak, Bosnien und Sierra Leone. Die Botschaft des Artikels ist klar und deutlich: es ist Zeit zu handeln. Zwischen den Zeilen lässt sich allerdings noch ein weiterer und höchst unbequemer Befund herauslesen: nämlich die längst klaffende Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der Arbeit für Überlebende sexueller Gewalt. 

Dabei es ist keinesfalls so, dass bislang nicht gehandelt wird, und auch die Idee eines opfer- bzw. überlebendendenzentrierten Ansatzes ist nicht neu. Sie existiert seit Jahren in den Bemühungen um Übergangsgerechtigkeit (Transitional Justice) in Post-Konflikt-Gesellschaften, die von der Bundesregierung bereits im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit unterstützt werden. Zentraler Bestandteil solcher Bemühungen sind in vielen Ländern sogenannte Wahrheitskommissionen, in denen Überlebende selbst zu Wort kommen und über die ihnen angetanen Verbrechen berichten. Darüber hinaus spielen Wahrheitskommissionen eine zentrale Rolle bei der Vorbereitung von Reparationsprogrammen, die Überlebende sexueller Gewalt (und Angehörige anderer Opfergruppen) darin unterstützen sollen, sich ein neues Leben aufzubauen. Dies zumindest ist die Theorie.

Tatsächlich belegen jedoch qualitative Ergebnisse aus unserer aktuellen Forschung in Sierra Leone und Kenia, dass Überlebende nur selten lebensverändernde Unterstützung erhalten. In beiden Fällen warten Überlebende bereits seit vielen Jahren auf versprochene Leistungen. In Sierra Leone ist der Reparationsprozess mittlerweile offiziell abgeschlossen. Die meisten Überlebenden gingen leer aus oder erhielten nur unzureichende Leistungen und Unterstützungen. In Kenia verweigert die Regierung Überlebenden sexueller Gewalt weiterhin die versprochenen Reparationszahlungen – ganz abgesehen davon, dass es dort im Kontext der 2017er Wahlen erneut zu sexueller Gewalt kam.

Bildunterschrift: Eine Überlebende sexueller Gewalt spricht im März 2018 auf einer Veranstaltung in Nairobi anlässlich des Internationalen Tags für das Recht auf Wahrheit über schwere Menschenrechtsverletzungen und für die Würde der Opfer. Auf dem Podium sitzen neben einer Vertreterin von UN-Women sowohl Angehörige der Zivilgesellschaft als auch eine Regierungsvertreterin. ©Anne Menzel

Der begrenze Nutzen von Professionalisierung

In unserem aktuellen DFG-geförderten Forschungsprojekt untersuchen wir, wie Wahrheitskommissionen den opferzentrierten Ansatz umsetzen. Unser besonderes Augenmerk liegt auf der Frage, wie und mit welchen Konsequenzen insbesondere Frauen und Mädchen von Wahrheitskommissionen als Opfer sexueller Gewalt definiert werden. Wir analysieren sowohl die veröffentlichten Wahrheitskommissionsberichte als auch die Praxis, welche diese Berichte hervorgebracht hat. Hierfür greifen wir auf Interviews, Archivmaterial und Dokumenten zurück, die entweder öffentlich zugänglich sind oder an uns weitergereicht wurden. Dabei sind wir auf ein Ergebnis gestoßen, welches die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der Arbeit für Überlebende sexueller Gewalt besser verständlich macht: nämlich auf den begrenzten Nutzen von Professionalisierung.

Die Arbeit für Überlebende ist mittlerweile hoch professionalisiert, was sich sowohl in der Praxis als auch in den Berichten von Wahrheitskommissionen niederschlägt. In der Praxis kommen Expert*innen und Berater*innen zum Einsatz, die beispielsweise darauf achten, dass Überlebende in einem angemessenen Rahmen zu Wort kommen, so dass sie nicht erneut Angst und Traumatisierung ausgesetzt sind. Auch die Berichte selbst werden von Expert*innen und Berater*innen mitverfasst, die entweder von den Kommissionen selbst angestellt sind oder ihnen geberfinanziert zur Verfügung gestellt werden. Dies hat zur Folge, dass Wahrheitskommissionsberichte sich in ihren Darstellungen und Interpretationen sexueller Gewalt längst kaum mehr von wissenschaftlichen Arbeiten unterscheiden. Auch Empfehlungen für Reparationsprogramme werden von Expert*innen formuliert, die sowohl normative Ansprüche als auch finanzielle Machbarkeiten und „lessons learned“ aus bisherigen Programmen in ihre Arbeit einfließen lassen.

Allerdings: Diese in vielen Aspekten begrüßenswerte Professionalisierung führt bislang nicht dazu, dass die Masse der Überlebenden von sexueller Gewalt in Konflikten tatsächlich dringend benötigte Leistungen erhält – geschweige Wiedergutmachung und Gerechtigkeit erfährt. Hier prallt die geballte Expertise auf mindestens zwei bislang unüberwindbare Hürden. Zum einen sind in vielen Post-Konflikt-Gesellschaften die Lebensverhältnisse für weite Teile der Bevölkerung so schwierig, dass punktuelle Unterstützung für Überlebende verpufft. Ein einmalig ausgezahlter Geldbetrag, eine kurze Berufsausbildung ohne weitere Perspektiven oder die zeitlich eng begrenzte Behandlung gesundheitlicher Probleme werden unter diesen Bedingungen nicht als lebensverändernd erfahren. Zum anderen wird selbst solche punktuelle Unterstützung oft durch mangelnden politischen Willen aufseiten nationaler Regierungen verhindert, die Reparationsprozesse jahrelang verschleppen. Besonders nachdenklich stimmt in diesem Zusammenhang die Einschätzung eines kenianischen Juristen, der selbst als Experte an der Ausarbeitung des nicht umgesetzten kenianischen Reparationsprogramms beteiligt war. Er erklärte im Interview selbstkritisch, Expertise könne nicht politische Bewegungen ersetzen, die dauerhaft Druck auf politische Akteure ausüben – und sie vielleicht eines Tages zum Handeln zwingen.

Wirksames Handeln = Politisches Handeln

Insgesamt drängt sich der Schluss auf, dass handfeste Verbesserungen für Überlebende sexueller Gewalt nicht ohne hartnäckige politische Auseinandersetzungen zu erreichen sind. Abstrakte „Stärkungen“ wie die der kürzlich verabschiedeten Resolution 2467 mobilisieren im besten Fall externe Unterstützung für Überlebende und ihre Mitstreiter*innen. Es muss aber auch damit gerechnet werden, dass sie im schlechtesten Fall bedeutungslos bleiben.  

Anne Menzel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Konfliktforschung in Marburg. In ihrer Forschung kombiniert sie ethnologische, soziologische und politikwissenschaftliche Perspektiven auf humanitäre Hilfe, Entwicklungsarbeit, Peacebuilding und Transitional Justice.

Susanne Buckley-Zistel ist Professorin für Friedens- und Konfliktforschung am Zentrum für Konfliktforschung in Marburg. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte sind Transitional Justice sowie Erinnerungspolitik und -praxis.