Politikwissenschaft im Gespräch anlässlich des Internationalen Frauentages am 8. März 2024
Drei Expert*innen sprechen zu Stand und Perspektiven der Gleichstellungspolitik in Deutschland
Seit mittlerweile mehr als 100 Jahren bietet der Internationale Frauentag am 8. März Gelegenheit, Errungenschaften der Frauenrechtsbewegung und Erfolge bei der Gleichstellung der Geschlechter zu feiern. Gleichzeitig ist er stets Anlass, den aktuellen Stand der Gleichstellung und Gleichstellungspolitik zu reflektieren und Handlungsbedarf auszuloten. Wie ist es um die Inklusion von Frauen in verschiedenen Bereichen bestellt, so z.B. der Gleichstellung in der Arbeitswelt, der geschlechtergerechten Bezahlung oder der Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit? Zugleich lädt der Begriff der „Inklusion“ ein, über die Gleichstellungspolitik für Frauen und Männer hinauszublicken: Wie steht es um Inklusion, Repräsentation und politische Partizipation von LGBTQ+ Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland?
Drei Expertinnen und Experten berichten zu aktuellen Forschungsergebnissen und diskutieren über den Stand und die Perspektiven der Gleichstellungspolitik in Deutschland. Welche Ungleichheiten existieren? Was bleibt – aus politikwissenschaftlicher Perspektive – zu tun und wie kann das gelingen?
Silke Bothfeld, Professorin für Politikwissenschaft an der Hochschule Bremen und zudem aktuell Vorsitzende der Sachverständigenkommission für den Vierten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung, sieht „ein gemischtes Bild“: Es gibt eindeutig positive Entwicklungen im Bereich Vereinbarkeit (Betreuungsquote), Bezahlung (Rückgang gender pay gap) und dem Anteil an Frauen in Führungspositionen. Die Emanzipation wirkt aber nur selektiv, denn gleichzeitig findet eine Verschärfung der Ungleichheit statt, wie die Zunahme von Armut bei Alleinerziehenden und Partnerschaftsgewalt zeigt. Besonders beschäftigt Silke Bothfeld die Frage, wie der sozial-ökologische Wandel sich auf die Geschlechterverhältnisse auswirkt: wird die Gleichstellung zum neuen ‚Nebenwiderspruch‘? Wir brauchen, so stellt sie fest, neue „Leitbilder für eine Politik des guten Lebens“, um die sozial-ökologische Transformation geschlechtergerecht zu gestalten.
Annette Henninger, Professorin für Politik und Geschlechterverhältnisse an der Universität Marburg, stellt fest: „Der Frauenanteil im Bundestag ist stark von der parteipolitischen Zusammensetzung des Parlaments abhängig und 2021 zurückgegangen“. Sie betont zudem die aktuellen Bedrohungen der Gleichstellungspolitik angesichts der Politisierung von ‚gender‘, rechter Angriffe und antifeministischer Mobilisierungen. In der aktuellen Ampel-Regierung hat beispielsweise „die FDP eine offene Flanke zu Männerrechts-Positionen“. Es gibt ganz unterschiedliche Spielarten des Antifeminismus: Zum einen eine genderzentrierte Variante, zum Beispiel Angriffe gegen die Gender Studies. Zum anderen einen familienzentrierten Antifeminismus, der sich häufig mit rassistischen Diskursen verknüpft. Annette Henninger sieht die Erfolge des geschlechterpolitischen Modernisierungsdiskurses der vergangenen Jahre gefährdet und macht auch auf neue, noch nicht aufgearbeitete Probleme aufmerksam: „Erster internationaler Evidenz zufolge haben wir es mit einem großen Problem geschlechtsbasierter Gewalt in Parlamenten zu tun“
Auch Dr. Michael Hunklinger, der an der Universität Amsterdam zu Fragen der politischen Repräsentation und Partizipation von LGBTQ + Personen forscht, sieht den aktuellen Stand der Gleichstellungspolitik ambivalent: „Wir sehen in den letzten Jahren eine Entwicklung hin zum Ausbau von LGBTQ+ Rechten. Es gibt Fortschritt auf rechtlicher Ebene. Gleichzeitig sehen wir eine steigende Homo- und Transphobie in der Gesellschaft und das Bemühen, gewonnene Rechte zurückzudrängen.“ Wie wir über Gleichstellungspolitik sprechen, wird in den nächsten Jahren eines der großen Themen sein, denn: „Die größte Herausforderung für Gleichstellungspolitik ist, dass es immer schwieriger wird, seriös oder neutral über Gleichstellungspolitik zu diskutieren, sondern dass wir immer mehr in einen Kulturkampf abdriften, bei dem auch Themen vermischt werden“
Die vollständige Aufzeichnung des Gesprächs, das am 26.02.2024 stattfand, finden Sie als Video auf unserer Webseite.
Aus dem Gespräch kann frei zitiert werden. Gerne können Sie die beteiligten Wissenschaftler*innen auch direkt kontaktieren.
Kontaktdaten der Expert*innen
Prof. Dr. Silke Bothfeld
Hochschule Bremen
Kontakt: E-Mail | Homepage
Prof. Dr. Annette Henninger
Universität Marburg
Kontakt: E-Mail | Homepage
Dr. Michael Hunklinger
Universität Amsterdam
Kontakt: E-Mail | Homepage | X (Twitter): @m_hunklinger
Kontaktdaten der Organisator*innen
Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) e.V.
c/o Freie Universität Berlin, Ihnestr. 26, 14195 Berlin
Kontakt: E-Mail | Homepage | X (Twitter): @dvpw | Mastodon: @dvpw@polsci.social
Prof. Dr. Tanja Klenk (DVPW-Vorstand)
Helmut-Schmidt-Universität Hamburg
Kontakt: E-Mail | Homepage | X (Twitter): @KlenkTanja)
Prof. Dr. Sonja Blum (DVPW-Vorstand)
Universität Bielefeld
Kontakt: E-Mail | Homepage | X (Twitter): @_sonjablum)