Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Warum beeinflusst öffentliche Meinung (nur) manchmal Politik? Eine Analyse am Beispiel der Bildungspolitik

Alle wollen Bildung! – oder?

Öffentliche Meinungsumfragen haben wiederholt gezeigt, dass große Mehrheiten von 70-90 Prozent sich dafür aussprechen mehr in Bildung zu investieren und Bildungspolitik als zentrales Politikfeld sehen.

Viel Genaueres wussten wir allerdings noch nicht. Tritt die große Mehrheit weiterhin für mehr Bildungsausgaben ein, auch wenn dies höhere Steuern oder öffentliche Verschuldung bedeutet? Was, wenn das Geld für Bildung durch Einsparung an anderer Stelle, beispielsweise durch Rentenkürzungen oder niedrigere Arbeitslosengelder finanziert würde? Und wofür genau soll eigentlich Geld ausgegeben werden? Für Kitas? Schulen? Hochschulen? Berufliche Bildung? Welche Rolle sollen Privatschulen spielen – oder wer soll überhaupt verantwortlich sein für Bildungspolitik?

Weil diese und viele andere Fragen bislang auf Grund fehlender Daten unbeantwortet geblieben sind, haben wir im Rahmen eines vom European Research Council finanzierten Projektes eine repräsentative Umfrage zu Bildungs- und Sozialpolitik in acht europäischen Staaten durchgeführt (alle Informationen und Daten sind über die GESIS zugänglich).

Ein erstes wichtiges Ergebnis: Bildung bleibt ein extrem populäres Thema, selbst wenn es in Zielkonflikten mit anderen Themen steht. Unsere Umfrage hat z.B. erhoben, für welchen Bereich die Befragten mehr Geld ausgeben würden, wenn sie sich für nur einen entscheiden müssten. Abbildung 1 zeigt die Ergebnisse. Wir sehen, dass Bildung in allen Ländern einen hohen Stellenwert einnimmt. Nur der Gesundheitsbereich wird in manchen Ländern noch häufiger priorisiert – und in Frankreich der Arbeitsmarkt.

 

Ein zweites wichtiges Ergebnis: Bildung bleibt zwar populär, wenn die Kosten sichtbarer werden – aber die Zustimmungswerte sinken. Abbildung 2 zeigt das in Kürze mit Ergebnissen aus einem Umfrageexperiment: 72 Prozent der Befragten sprechen sich generell für höhere Bildungsausgaben aus. Erwähnt man jedoch, dass dies durch höhere Steuern finanziert werden könnte, sinkt die Zustimmung auf 48 Prozent; noch unbeliebter wäre eine Finanzierung durch staatliche Neuverschuldung (41 Prozent). Was die Befragten aber am stärksten ablehnen, wäre eine Kürzung bestehender Sozialleistungen, um mehr für Bildung ausgeben zu können. In Abbildung 2 zeigen wir dies am Beispiel der Renten (25 Prozent würden zustimmen, Bildungsausgaben auf Kosten der Renten zu erhöhen).

Wichtig ist dieses Ergebnis, da unsere heutigen Wohlfahrtsstaaten durch bereits hohe Sozialausgaben, öffentliche Verschuldung und Steuerlast, sowie durch neue sozio-ökonomische Herausforderungen zunehmend unter finanziellem Druck stehen (man spricht vom sogenannten „Silver Age of the welfare state“). Politiker*innen und Bürger*innen sind also ständig von diesen Zielkonflikten umgeben.

 

Spielt es irgendeine Rolle, was Leute wollen? - Es kommt auf Salienz an...

Wir argumentieren, dass es auf zwei Faktoren ankommt: Salienz und Kohärenz. Erstens ist wichtig, wie salient ein bestimmtes Thema ist, d.h. wie viel Aufmerksamkeit es im öffentlichen politischen Raum einnimmt. Manche Themen sind sehr salient, wie beispielsweise eine Schulzeitverkürzung um ein Jahr, die flächendeckende Einführung von Ganztagsschulen oder die Einführung von Studiengebühren. Bei diesen Themen haben die meisten Menschen eine Meinung und das Thema ist vielen wichtig (Schüler*innen, Eltern, Großeltern, Lehrer*innen, etc.).

Andere Themen dagegen sind gesamtgesellschaftlich kaum salient, z.B. die Frage, ob in Berufsschulen mehr oder weniger Mathematik unterrichtet werden soll, ob nicht-pädagogisches Personal in Bildungseinrichtungen höhere Gehälter erhalten sollte, oder wie Privatschulen reguliert werden sollten. Bei diesen Themen haben zwar bestimmte gesellschaftliche Gruppen ein großes Interesse, doch den meisten Leuten ist es recht egal.

Wir können zeigen, dass eine hohe Salienz eine notwendige Bedingung für den Einfluss von öffentlicher Meinung ist. Sprich: öffentliche Meinung spielt keine Rolle für Politik, wenn das Thema nicht salient ist.

...Salienz allein reicht nicht – es geht auch um Kohärenz

Zweitens aber zeigen wir, dass es nicht nur um Salienz geht, sondern auch darum, wie viel Übereinstimmung es in der öffentlichen Meinung zu einem bestimmten Thema gibt. Das nennen wir „Kohärenz“.

Manche Themen sind sehr salient und eine große Mehrheit der Bevölkerung teilt dieselbe Ansicht. In diesem Fall sendet die öffentliche Meinung ein „lautes und klares“ Signal an Politiker*innen, die aus wahlstrategischen Gründen darauf reagieren müssen. Hier spielt öffentliche Meinung die größte Rolle. Dies nennen wir „Loud Politics“.

Andere Themen dagegen sind zwar auch sehr salient, aber die öffentliche Meinung ist gespalten (also nicht kohärent) – z.B. wollte in Schweden etwa die Hälfte der Bürger*innen eine staatliche Regulierung von Privatisierung im Bildungsbereich, während die andere Hälfte dagegen war. Hier sprechen wir von „Loud but noisy politics“: Die öffentliche Meinung sendet ein sehr ambivalentes Signal an Politiker*innen; das Thema ist zwar Vielen wichtig, aber es ist unklar, was Politiker*innen machen sollen. Wir können zeigen, dass in diesem Szenario öffentliche Meinung zwar hilft, ein bestimmtes Thema auf die politische Agenda zu bringen, dass die konkrete Politik in diesem Szenario aber maßgeblich durch die jeweils regierenden Parteien entschieden wird. Entscheidend sind also Parteien – und nicht öffentliche Meinung.

Tabelle 1 fasst unser Argument knapp zusammen:

 

Kohärente Einstellungen

Nicht kohärente Einstellungen

Hohe Salienz

“Loud politics”

 -> öffentliche Meinung spielt eine zentrale Rolle

“Loud, but noisy politics”

-> öffentliche Meinung bringt Themen auf die politische Agenda, aber Regierungsparteien entscheiden über Reformen

Niedrige Salienz

Quiet politics

-> öffentliche Meinung spielt keine Rolle, Interessengruppen sind mächtig

 

Unter welchen Bedingungen ist öffentliche Meinung also wichtig?

Warum beeinflusst öffentliche Meinung also manchmal, aber nicht immer, Politik? Unsere Analysen zeigt, dass es darauf ankommt, wie salient und wie kohärent öffentliche Meinung zu dem jeweiligen Thema ist. Während wir dies empirisch am Beispiel der Bildungspolitik untersucht haben, ließe sich das theoretische Modell problemlos auf alle anderen Politikbereiche anwenden.

 

Über den Autor:

Julian Garritzmann ist Professor für Politikwissenschaft an der Goethe Universität Frankfurt.