Autoren: Matthias Mader und Harald Schoen
Im öffentlichen Diskurs gilt der russische Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 weithin als Ereignis, das zentrale Leitlinien der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik in Frage stellt. Für Bundeskanzler Olaf Scholz handelt es sich um eine Zeitenwende —um ein fundamentales Ereignis, nach dem die Welt nicht mehr dieselbe ist wie davor. Welche Auswirkungen hatte dieses Ereignis auf die Bevölkerung? Gibt es gar Anzeichen dafür, dass es zu einem fundamentalen Umdenken geführt hat, zu einer Zeitenwende auf der Ebene der öffentlichen Meinung? In unserem Beitrag „No Zeitenwende (yet): An early assessment of German public opinion toward foreign and defense policy after Russia’s invasion of Ukraine“ in der Politischen Vierteljahresschrift zeigen wir, dass es zwar gewisse Meinungsänderungen zu spezifischen Sachfragen der deutschen Außen- und Verteidigungspolitik gegeben hat, bislang jedoch wenig auf einen grundlegenden Sinneswandel hindeutet.
Stabilität und Wandel
Betrachtet man Antworten auf identische Fragen, die Deutsche in Umfragen vor und nach Russlands Einmarsch in die Ukraine gaben, zeigt sich ein klares Muster (siehe Abbildung). Meinungsverschiebungen beschränken sich auf Sachfragen, die thematisch eng mit dem Krieg verbunden sind. Hier sind die Veränderungen teils erheblich. So stieg beispielsweise die Zustimmung zu einer Erhöhung der deutschen Verteidigungsausgaben signifikant an (plus 26 Prozentpunkte) und blieb auch danach über den betrachteten Zeitraum (bis Oktober 2022) auf dem neuen Niveau. Erhebliche Stabilität weisen dagegen Einstellungen zu thematisch weiter entfernten Sachfragen wie der deutschen Chinapolitik auf. Gleiches gilt für allgemeine Einstellungen gegenüber China und den USA sowie Grundhaltungen zur deutschen Außen- und Sicherheitspolitik.
(Noch) Keine Zeitenwende
Der russische Einmarsch in die Ukraine führte also zu teils erheblichen Einstellungsänderungen. Doch lässt sich von diesen auf „ein neues Bewusstsein auch in der deutschen Gesellschaft“ schließen, wie Bundeskanzler Olaf Scholz in einem Namensbeitrag für Foreign Policy schrieb? Um dies zu beantworten, scheint es sinnvoll, darauf zu achten, wie signifikant und wie dauerhaft diese Veränderungen sind. Wie signifikant Veränderungen sind, lässt sich wiederum zum einen daran festmachen, wie stark sich Einstellungen verändern, zum anderen daran, welche Einstellungen sich verändern—und welche nicht. Verändern sich tief verankerte Grundhaltungen oder nur Bewertungen tagesaktueller Sachfragen? Dauerhafte, große Veränderungen auch zentraler Haltungen scheinen notwendig, um sinnvollerweise von einer Zeitenwende auf der Ebene der öffentlichen Meinung zu sprechen.
Im Lichte dieser Kriterien legen die vorgelegten Befunde den Schluss nahe, dass ein fundamentales Umdenken unter den Deutschen bislang ausgeblieben ist. Dass sich größere Veränderungen nur auf einen thematisch eng begrenzten Bereich beschränken, wurde bereits betont. Zu unterstreichen ist an dieser Stelle zudem die Stabilität der außenpolitischen Grundhaltungen. Es gehört zu den klassischen Erkenntnissen der politischen Einstellungsforschung, dass Menschen politische Werte und Grundhaltungen aufweisen, die als vergleichsweise stabil gelten, die Einstellungen zu spezifischen Sachfragen beeinflussen und diese wie ein Kleber zusammenhalten. Die hier berücksichtigten Grundhaltungen zählen zu den wichtigsten im Bereich der Außenpolitik. Dass sich genau diese Grundhaltungen in unseren Analysen als stabil erweisen, ist somit ein starkes Indiz für Kontinuität auf der Ebene der öffentlichen Meinung.
Natürlich könnte werden, was noch nicht ist. Unser letzter Datenpunkt wurde im Oktober 2022 erhoben, so dass wir über die Dauerhaftigkeit von Stabilität und Wandel nur spekulieren können. Vielleicht haben sich die Einstellungen seither weiter bzw. stärker verändert—auch die Grundhaltungen. Nach allem, was wir über die Stabilität dieses Typs Einstellung wissen, erscheint uns dies zwar unwahrscheinlich. Doch es wird vom weiteren Verlauf des Kriegs in der Ukraine und seiner politischen Verarbeitung in Deutschland abhängen, ob es noch zu fundamentaleren Verschiebungen kommt.
Alles eine Frage der Meinungsführung?
Ein klares Mandat der Bevölkerung für einen grundlegenden Wandel der deutschen Außen- und Verteidigungspolitik scheint es also bislang nicht zu geben. Je nach eigenem normativem Standpunkt und je nachdem, ob man selbst den Ukraine-Krieg als Zeitenwende betrachtet, mag die deutsche öffentliche Meinung als Stabilitätsanker in stürmischen Zeiten oder als Hindernis dringend notwendiger Veränderungen erscheinen. Bei der Ableitung konkreter politischer Implikationen aus den vorgelegten Befunden ist jedoch Vorsicht geboten.
So laufen einige diskutierte Lehren aus dem Ukraine-Krieg für die deutsche Politik nicht unbedingt auf Veränderungen jener Leitlinien hinaus, auf die sich die hier erfassten Grundhaltungen beziehen. Eine Stärkung der Bundeswehr hat beispielsweise zunächst nichts mit ihrem Einsatz zu tun; folgt man der Logik der Abschreckung, ist ein starkes Militär vielmehr die Voraussetzung dafür, es nicht einsetzen zu müssen. Will man Sonderwege vermeiden und Politik mit Verbündeten koordinieren, würde man sich an der Organisation europäischer Sicherheit „gegen Russland“ beteiligen—wie Deutschlands Freunde und Partner teils schon lange fordern.
Mit Hilfe solcher Argumente könnten Reformwillige erfolgreiche Überzeugungsarbeit leisten, selbst wenn die Deutschen zu noch fundamentaleren Fragen stabile Haltungen aufweisen. Gleiches gilt natürlich für spezifische Sachfragen wie der deutschen Ukrainepolitik (Stichwort Waffenlieferungen). Allerdings dürfte eine solche Meinungsführung einen dauerhaften Elitenkonsens unter den etablierten Parteien voraussetzen. Ob sich ein solcher Konsens herausbilden wird und ob ernsthafte Versuche unternommen werden, die Öffentlichkeit zu überzeugen, bleibt vorerst ungewiss.
Über die Autoren:
Matthias Mader vertritt eine Professur im Bereich Internationale Politik an der Universität Konstanz.
Harald Schoen ist Professor für Politikwissenschaft und Politische Psychologie an der Universität Mannheim.