Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Möglichkeitsräume für Antisemitismus? Die Auswirkungen des Nahostkonflikts auf das Sicherheitsgefühl von Jüdinnen und Juden in Deutschland

Autoren: Heiko Beyer und Bjarne Goldkuhle

 

 

In den Monaten nach den Terrorangriffen der Hamas vom 7. Oktober 2023 erlebte die jüdische Gemeinschaft weltweit eine neue Welle antisemitischer Gewalt. Auch in Deutschland verzeichneten die polizeilichen Behörden eine deutliche Zunahme antisemitischer Straftaten und die Meldestelle RIAS (Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus) berichtete von einem explosionsartigen Anstieg an gemeldeten Vorfällen. Es sind aber nicht nur die Vorfälle als solche, die Auswirkungen auf die Bedrohungslage für Jüdinnen und Juden haben, sondern auch die Reaktionsweisen von Politik, Medien und Bevölkerung. Mittels Daten einer Online-Befragung, die zwischen Mai 2022 und Februar 2023 – also vor dem 7. Oktober 2023 – durchgeführt wurde, untersuchen wir in unserer Studie den Einfluss der „politisch-kulturellen Gelegenheitsstrukturen“ auf den Zusammenhang von „Nahostkonflikt“ und Bedrohungswahrnehmungen.

Politisch-kulturelle Gelegenheitsstrukturen

Das Konzept der politischen Gelegenheitsstrukturen, das seine Ursprünge in der Forschung zu Sozialen Bewegungen hat, verweist auf die Responsivität politischer Institutionen (Parlamente, Gerichte, Polizei) für Forderungen zivilgesellschaftlicher Proteste. Politisch-kulturelle Gelegenheitsstrukturen erweitern den Begriff um die diskursive Dimension und nehmen neben den staatlichen Institutionen zusätzlich die vorherrschende politische Kultur eines Landes oder einer Region in den Blick.

Im Fall der antisemitischen Mobilisierung kann ein Öffnen der politisch-kulturellen Gelegenheitsstrukturen daran erkannt werden, dass einerseits antisemitische Vorfälle von Politiker*innen, Gerichten und Polizei weniger konsequent benannt und verfolgt werden, und andererseits, dass sich die Grenze des Sagbaren im öffentlichen und medialen Diskurs in Richtung antisemitischer Kommunikation verschiebt.

Eskalationsphasen des „Nahostkonflikts“ tragen, so unsere Annahme, zu einer Öffnung der politisch-kulturellen Gelegenheitsstrukturen für Antisemitismus in Deutschland bei, weil antisemitischer Protest sich nun als legitimes Mittel des politischen Kampfes rahmen lässt. Angriffe auf Jüdinnen und Juden oder jüdische Einrichtungen werden nicht nur von den Täter*innen, sondern auch von den politischen Institutionen, Medien und der Bevölkerung teilweise als eine Form des „Widerstands“ interpretiert, wie zum Beispiel der Fall des Wuppertaler Amtsgerichts verdeutlicht, das 2015 nach dem Angriff auf die Wuppertaler Synagoge ein antisemitisches Motiv verneinte und stattdessen ein „politisches Motiv“ unterstellte

Unsere grundlegende Hypothese nimmt an, dass das Sicherheitsgefühl in Deutschland lebender Jüdinnen und Juden vor allem deshalb vom „Nahostkonflikt“ beeinflusst wird, weil durch negative Erfahrungen in der Vergangenheit bei den potenziell Betroffenen die Erwartung entsteht, dass in zukünftigen Eskalationsepisoden des Konflikts von der deutschen Bevölkerung nicht ausreichend zwischen Jüdinnen und Juden und israelischer Politik differenziert wird, die Medien nicht ausreichend über Antisemitismus berichten sowie der Staat nicht ausreichenden Schutz gegen antisemitische Übergriffe bietet.

Befragung in Deutschland lebender Jüdinnen und Juden

Die Grundlage unserer empirischen Ergebnisse bildet eine Online-Befragung von 295 in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden, die zwischen Mai 2022 und Februar 2023 durchgeführt wurde. Bei der Stichprobe handelt es sich um ein sogenanntes „convenience sample“, das zwar nicht repräsentativ für die jüdische Bevölkerung, aber ausreichend heterogen hinsichtlich Geschlecht, Alter, Bildungsgrad, Wohnort, Gemeindemitgliedschaft und politischer Einstellung zusammengesetzt ist. Wir haben die Befragten unter anderem gefragt: „Wie stark ist der Einfluss des sogenannten ‚Nahostkonflikts‘ auf Ihr Sicherheitsgefühl als Jüdin bzw. Jude in Deutschland?“ 4,1% der Befragten antworteten hier mit „gar nicht“, 3,4% mit „ein wenig“, 20,1% mit „mittel“, 32,8% mit „stark“ und 39,6 mit „sehr stark“ (m= 4,0; s= 1,1; n= 295). Insgesamt gibt demzufolge die Mehrheit an, dass sie den Zusammenhang als stark oder sogar sehr stark wahrnimmt.

Politische Institutionen

Wie stark dieser Zusammenhang wahrgenommen wird, hängt unter anderem davon ab, wie groß das Vertrauen in Gerichte ist, „wenn es darum geht, Antisemitismus zu verfolgen“. Das Vertrauen in Polizei und Politik ist hingegen weniger entscheidend. Mittels multipler Ordinary-Least-Squares-Regressionsmodelle fanden wir heraus, dass das Vertrauen in Polizei und Politik durch das Vertrauen in Gerichte mediiert wird, das heißt, es in den Augen der Befragten letztlich auf die Arbeit der Gerichte ankommt, Antisemitismus zu sanktionieren und Politik und Polizei nur deshalb in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen, weil das Vertrauen in sie mit dem Vertrauen in die Gerichte korreliert ist.

Politische Kultur

Eine weitaus größere Rolle als die politischen Institutionen spielt aber die politische Kultur, erfasst zum einen über die Medienwahrnehmung („Inwiefern stimmen Sie der folgenden Aussage zu: ‚In den Medien in Deutschland wird zu wenig über Antisemitismus berichtet‘?“) und zum anderen über das wahrgenommene Meinungsklima („Inwiefern hängt Ihrer Meinung nach die Einstellung gegenüber Jüdinnen und Juden in Deutschland mit dem sogenannten ‚Nahostkonflikt‘ zusammen?“). Insbesondere letzteres wirkt sich stark auf den Zusammenhang zwischen „Nahostkonflikt“ und Sicherheitsempfinden aus. Fast ein Viertel der Gesamtvarianz kann durch diese Wahrnehmung erklärt werden. Aber auch die Medienwahrnehmung ist relevant, wenngleich in etwas geringerem Maße. 

Fazit

Die Bedrohungswahrnehmungen in Deutschland lebender Jüdinnen und Juden sind zu einem erheblichen Maße vom „Nahostkonflikt“ beeinflusst. Allerdings darf dieser Zusammenhang nicht als selbstverständlich hingenommen werden, vielmehr geht er zu einem bedeutenden Teil auf das wahrgenommene Verhalten der politischen Institutionen und Medien sowie die Meinung der Bevölkerung zurück. Dass das Sicherheitsgefühl vom „Nahostkonflikt“ so sehr beeinflusst wird, ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass bei den potenziellen Betroffenen die Erwartung entsteht, dass in zukünftigen Eskalationsepisoden des Konflikts von der deutschen Bevölkerung nicht ausreichend zwischen Jüdinnen und Juden und israelischer Politik differenziert wird, die Medien nicht ausreichend über Antisemitismus berichten sowie dass der Staat nicht ausreichenden Schutz gegen antisemitische Übergriffe bietet. Angesichts von Fällen wie dem Wuppertaler Urteil von 2015 oder dem Befund der Leipziger Autoritarismus Studie von 2020, bei der 43% der Befragten teilweise oder ganz der Aussage zustimmten, dass ihnen „durch die israelische Politik [...] die Juden immer unsympathischer“ würden, scheinen die Befürchtungen unserer Befragten leider nur allzu begründet.

 

Über die Autoren:

Heiko Beyer ist Professor für Soziologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Bjarne Goldkuhle ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.