Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Foto: "Proteste vor FDP Bundesgeschäftsstelle" by Martin Heinlein is licensed under CC BY 2.0

 

Klarer Regierungsauftrag? Wie Wähler*innen ein Regierungsmandat aus Wahlergebnissen ableiten

Wahlergebnisse können in ganz unterschiedlicher Weise gelesen und interpretiert werden. Die Deutung der Wahlergebnisse beginnt schon am Wahlabend, wenn Parteien sich zu Wahlsiegern deklarieren (oder Niederlagen eingestehen) und aus dem Ergebnis einen Auftrag der Wähler*innen zur Regierungsbildung ableiten.

Diese Interpretation von Wahlergebnissen ist schwierig, weil sie – wie schon Walter Lippmann 1925 in The Phantom Public festhielt – im Wesentlichen auf Kreuzen oder Namen auf ausgefüllten Wahlzetteln basiert, die aber wenig über die Intention der Wähler*innen bezüglich der programmatischen Ausrichtung oder der parteipolitischen Zusammensetzung einer Regierung verraten. Und nur in wenigen Fällen (z.B. Griechenland) leitet die Verfassung einen Regierungsbildungsauftrag direkt aus dem Wahlergebnis ab. 

In diesem Beitrag wird untersucht, ob und wie Wähler*innen einen Auftrag zur Regierungsbildung aus Wahlergebnissen ableiten. Gibt es eine Regierungsoption, die auf Basis des Wahlergebnisses von der Mehrheit der Wähler*innen ein Mandat ableiten kann? Oder ist die Zuschreibung eines Regierungsbildungsauftrags rein subjektiv und vor allem von den eigenen politischen Einstellungen bestimmt?

Dafür haben wir Daten des GLES Trackings vom Oktober 2024 verwendet. In dieser Umfrage wurden die Teilnehmer*innen zu ihrer Wahrnehmung der Wahlergebnisse der Landtagswahlen in Brandenburg (22. September 2024), Sachsen und Thüringen (beide am 1. September 2024) im Herbst 2024 befragt. Bei den drei Landtagswahlen konnte keine Partei eine absolute Mehrheit der Stimmen (oder Sitze) erreichen (s. Abbildung 1). Stärkste Partei wurde in Brandenburg die SPD, in Sachsen die CDU und in Thüringen die AfD. Die AfD und auch das BSW (als neue Partei) konnten deutliche Stimmengewinne verbuchen. Die Regierungsbildung wurde insgesamt als sehr schwierig eingeschätzt. Wenige Monate vor der (vorgezogenen) Bundestagswahl 2025 erlauben diese Ergebnisse auch Einblicke in den kommenden Regierungsbildungsprozess nach der Bundestagswahl.

Abbildung 1: Zusammenfassung der Wahlergebnisse in Brandenburg, Sachsen und Thüringen 2024

Anmerkungen: Datengrundlage sind die endgültigen Ergebnisse der Verteilung der Zweit- bzw. Listen- bzw. Landesstimmen gemäß der Landeswahlleiter*innen.

 

Konkret wurde gefragt, welche Parteienkonstellation aus Sicht der Befragten „am ehesten den Regierungsbildungsauftrag“ erhalten hat. Als Antwortoptionen standen neben den Minderheitsregierungen aus stärkster und zweitstärkster Partei in jedem Bundesland auch eine Reihe von Koalitionsregierungen zur Auswahl. Befragt wurden neben etwa 1.131 Menschen in ganz Deutschland zusätzlich 791 Menschen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen („boost sample“). Im Folgenden verwenden wir die Antworten aller Befragten. Zum Zeitpunkt der Umfrage (Anfang Oktober 2024) waren Sondierungsgespräche und Koalitionsverhandlungen bereits in allen drei Bundesländern im Gange, der Regierungsbildungsprozess aber noch nicht abgeschlossen.

Keine klaren Regierungsaufträge

Abbildung 2 zeigt, wie verschieden die Wahrnehmung eines Regierungsbildungsauftrags bei den drei Wahlen sind. Keine der Regierungsalternativen wurde von einer klaren Mehrheit als diejenige identifiziert, die einen Regierungsbildungsauftrag besitzt. Auffällig ist, dass die abgefragten Minderheitsregierungen im Mittel nicht schlechter abschneiden als die Mehrheitsregierungen. In Thüringen zum Beispiel hat die seit Dezember 2024 amtierende Brombeer-Koalition aus CDU, BSW und SPD, die eine parlamentarische Mehrheit um einen Sitz verfehlte, aus Sicht der Wähler*innen das stärkste Mandat.

Abbildung 2: Wahrgenommener Regierungsbildungsauftrag nach den Landtagswahlen in Deutschland 2024

Anmerkungen: Datengrundlage ist das gepoolte (inkl. „Boost“) Sample des GLES Tracking T59 (N=1.922). Die Abbildung zeigt den Anteil der Befragten, die – pro Landtagswahl – für eine bestimmten Regierungsalternative „am ehesten den Regierungsbildungsauftrag“ gesehen hat. Die tatsächlich gebildete Regierung ist fett gedruckt. In Sachsen kam es zu einer Minderheitskoalition aus CDU und SPD, die nicht unter den Antwortoptionen war.

 

Regierungsmandat: mehr als nur Parteipräferenzen

Aber drücken diese Antworten mehr aus als reine Parteipräferenzen? Man könnte erwarten, dass Wähler*innen Wahlergebnisse im Sinne der Partei interpretieren, die sie unterstützen, und ein Mandat eher für Regierungsalternativen sehen, an denen die eigene Partei beteiligt ist. Dies ist auch tatsächlich der Fall: Abbildung 3 zeigt das Antwortverhalten der Befragten zum wahrgenommenen Regierungsbildungsauftrag in Abhängigkeit der Partei, die sie bei einer möglichen Bundestagswahl unterstützen würden („Sonntagsfrage“). Genauer zeigt sie den Anteil der Befragten, die einen Regierungsbildungsauftrag für eine Regierung sieht, getrennt für Anhänger*innen der an der möglichen Regierung beteiligten Partei(en) (runde Marker) und allen anderen Wähler*innen (Kreuze als Marker). Deutlich zu sehen ist, dass Wähler*innen häufiger ein Mandat bei Regierungsalternativen sehen, an denen die „eigene“ Partei auch beteiligt ist.

Allerdings sieht ein erheblicher Anteil der Befragten den Auftrag zur Regierungsbildung bei einer Regierung, an der „ihre“ Partei eben nicht beteiligt ist (Kreuze als Marker in Abbildung 3). So sehen zu Beispiel in Sachsen ca. 21 Prozent der Anhänger*innen anderer Parteien (z.B. der LINKEN, der GRÜNEN oder der AfD) ein Mandat zur Regierungsbildung für eine Koalition aus CDU, BSW und SPD (zu der es nach dem Abbruch der Sondierungsgespräche durch das BSW nicht kam). Gerade diese Unterstützung ist entscheidend für die Legitimität einer Regierung, weil sie nicht ausschließlich von den eigenen Wähler*innen kommt.

Abbildung 3: Wahrgenommener Regierungsbildungsauftrag nach „Insidern“ und „Outsidern“

Anmerkungen: Datengrundlage ist das gepoolte (inkl. „Boost“) Sample des GLES Tracking T59 (N=1.922). Die Abbildung zeigt den Anteil der Befragten der in einer bestimmten Regierung „am ehesten einen Regierungsbildungsauftrag“ sieht – getrennt nach Anhänger*innen der an der Regierung beteiligten Parteien („Sonntagsfrage“; runde Marker) und allen anderen Wähler*innen (Kreuze als Marker).

 

Sonderstellung der AfD und ihrer Anhänger*innen

Unterscheidet man die Antworten auch anhand einzelner Parteien, tritt ein weiteres Muster zutage: Anhänger*innen der AfD sehen überwiegend nur dann ein Mandat für eine mögliche Regierung, wenn die AfD an dieser beteiligt ist. Alle anderen Regierungsoptionen werden von Anhänger*innen der AfD selten ausgewählt (Kreuze als Marker in Abbildung 4). Dieses Muster besteht unabhängig davon, ob die AfD stärkste Kraft geworden ist (Thüringen) oder nicht (Brandenburg und Sachsen). Umgekehrt lehnen Anhänger*innen aller anderen Parteien ein Mandat für eine Regierung mit Beteiligung der AfD ab. Diese Polarisierung ist zwischen Anhänger*innen anderer Parteien deutlich schwächer ausgebildet. Zum Beispiel erkennen Anhänger*innen der GRÜNEN in Sachsen in großen Teilen ein Mandat für eine CDU-BSW-SPD-Regierung, und Anhänger*innen der LINKEN in Thüringen ein Mandat für eine Regierung aus CDU, BSW und SPD.

Abbildung 4: Wahrgenommener Regierungsbildungsauftrag nach Parteipräferenz

Anmerkungen: Datengrundlage ist das gepoolte (inkl. „Boost“) Sample des GLES Tracking T59 (N=1.922). Die Abbildung zeigt, getrennt nach Parteianhänger*innenschaft, den Anteil der Befragten, der in einer Regierungsalternative „am ehesten einen Regierungsbildungsauftrag“ sieht. Gezeigt werden pro Bundesland nur Anteile für Anhänger*innen der Parteien, die auch in den Antwortoptionen mindestens einmal vorkommen (siehe Legende für Farbcodierung). An der möglichen Regierung beteiligte Parteien sind durch runde Marker gekennzeichnet; nicht beteiligte Parteien durch Kreuze als Marker.

 

Implizieren Wahlergebnisse einen Regierungsbildungsauftrag?

Insbesondere vor dem Hintergrund der bevorstehenden Bundestagswahlen am 23. Februar 2025 lässt unsere Analyse der Zuschreibung eines Regierungsauftrags durch Wähler*innen folgende Schlüsse zu. Aus Sicht der Wähler*innen lässt sich aus Wahlergebnissen kein eindeutiges Mandat zur Regierungsbildung ableiten. Ein für ein breites Regierungsmandat förderlicher Aspekt ist, dass ein bedeutender Teil der Befragten einen Regierungsauftrag für mögliche Koalitionen auch ohne Beteiligung der „eigenen“ Partei sieht. Gleichzeitig werden Minderheitsregierungen ähnlich häufig wie Mehrheitskoalitionen als legitim wahrgenommen, obwohl hier natürlich offenbleibt, inwiefern sich unsere Ergebnisse auf Länderebene auf den Bund übertragen lassen. Ein problematischer Aspekt bleibt die Polarisierung zwischen Anhänger*innen der AfD und aller anderen Parteien, auch im Hinblick auf die Zuschreibung eines Regierungsmandats. Insbesondere im Hinblick auf einen möglichen Wahlausgang mit CDU/CSU als größter Fraktion und der AfD mit den größten Zugewinnen im Vergleich zur Bundestagswahl 2021, wird diese Polarisierung weiterhin zunehmen, sodass eine Regierung mit einem breiten Regierungsmandat sehr unwahrscheinlich erscheint.

Über die Autor*innen:

 

Alejandro Ecker ist Juniorprofessor für „Politics and Communication in Ibero-America“ am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg.

Thomas M. Meyer ist Professor für politische Institutionen im Vergleich am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien.

Carolina Plescia ist Assoziierte Professorin am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien.