Autorinnen: Britta Rehder und Katharina van Elten
Durch die erste Musterfeststellungsklage durch Verbraucherschützer*innen im Dieselgate-Skandal sind Rechtsmittel zur Interessendurchsetzung von Verbänden prominent in den Blick der Öffentlichkeit gerückt. Die zunehmende Nutzung von dieser und anderer Formen der Rechtsmobilisierung durch organisierte Interessen hat die Frage aufgeworfen, ob in der deutschen Verbandslandschaft eine schleichende Justizialisierung und somit eine Verrechtlichung von Konflikten Einzug hält, wie sie aus dem US-amerikanischen Raum bekannt ist.
Dies haben wir zum Anlass genommen zu überprüfen, welchen Stellenwert justizielle Praktiken im Handlungsrepertoire und in der Identitätspolitik organisierter Interessen einnimmt. Das heißt konkret: bieten Verbände rechtsbezogene Leistungen wie z.B. Rechtsberatung oder Klageunterstützung an und nutzen sie dies zur Selbstdarstellung? Wir haben hierzu in den Jahren 2014 und 2019 erhoben, wie sich die einhundert Großverbände aus den Politikfeldern Umwelt, Soziales, Wirtschaft und Integration zum Thema rechtsbezogene Interessenpolitik positionieren. In Zuge dessen konnten wir feststellen, dass sozialpolitische Akteur*innen aus der Tradition der Sozialgerichtsbeteiligung und gemeinwohlorientierte Verbände aus dem Umwelt- und Integrationsbereich eher zu Rechtsstrategien neigen, während Wirtschaftsverbände und wirtschaftsnahe Verbände (aller Politikbereiche) sich grundsätzlich eher abwehrend verhalten.
Welche Ziele und Formen von Rechtsmobilisierung lassen sich unterscheiden?
Justizielle Interessenpolitik kann verschiedene Ziele verfolgen. Rechtsmobilisierung kann darauf abzielen, den Wirkungsgrad geltender, aber vernachlässigter Rechtsnormen zu erhöhen. Es kann aber auch Ziel sein, die Wirkungsrichtung von Rechtsnormen zu verändern, indem auf eine gerichtliche Präzisierung und potentielle (Neu-)Auslegung hingewirkt wird. Schließlich kann auch darauf abgezielt werden, geltendes Recht außer Kraft zu setzten oder eine Neuregelung durch den Gesetzgeber zu erreichen.
Unter den rechtsbezogenen Angeboten der Verbände lassen sich grundsätzlich defensive und offensive Rechtspraktiken unterscheiden.
Zu den defensiven Praktiken gehören 1) Rechtsberatungfür Mitglieder, 2) die Dokumentation von Rechtsprechung und ggf. Gutachter-/Sachverständigentätigkeit und 3) Rechtsschutz in Form von individuellen Rechtsschutzversicherungen oder Rechtshilfefonds.
Im Bereich der offensiven Rechtsmobilisierung wurden ebenfalls drei Praktiken unterschieden: 1) Eigene Klageaktivität als Verband oder Unterstützer, 2) Werbung, Formierung und Initiierung von Massenklagen sowie 3) Nutzen oder Werbung für Verbands- oder andere kollektive Klagerechte.
Wer nutzt Rechtsmobilisierung?
Die Neigung zu justiziellem Engagement ist (u.a.) von den Tätigkeiten der Verbände abhängig, aber auch von ihren Ressourcen und ihren Verbindungen zur Politik. Wirtschaft und Sozialverbände sind durch den Korporatismus gut mit der Politik vernetzt. Allerdings liegen bei den Wirtschaftsverbänden die Ressourcen und Expertise in der Regel auf der Mitgliederebene. Umwelt- und Integrationsverbände gehören zu den schwachen Interessengruppen, die vergleichsweise über weniger Ressourcen verfügen, aber auch nicht auf traditionelle politische Verbindungen zurückgreifen können und daher andere Einflusswege suchen müssen.
Insgesamt hat das Bekenntnis zu rechtsbezogener Interessenpolitik jedoch über alle Politikfelder hinweg zugenommen. 2014 verwiesen 58% der Verbände auf die Rolle des Rechtssystems für ihr Handeln, 2019 waren es 78%. Unter den angebotenen Aktivitäten dominieren defensive Angebote. Die Zunahme von offensiven Strategien führen wir auf die intensive Diskussion über kollektive Klagerechte zurück.
Ebenfalls deutlich wird, dass es Unterschiede zwischen den Politikfeldern gibt. Insbesondere Wirtschaftsverbände verhalten sich eher ablehnend, da sie sich eher als Marktakteur*innen und damit als „Opfer“ von Klagen z.B. aus dem Umwelt- und Verbraucherschutz sehen. Auf der anderen Seite sind die Sozialverbände und Gewerkschaften überdurchschnittliches vertreten. Ein wesentliches Ergebnis ist aber auch: Je wirtschaftsnäher die Verbände aus dem Sozialbereich sind (z.B. Wohlfahrtsverbände, die auch soziale Dienstleister sind), desto niedriger ist die Neigung zu Rechtsstrategien. Umgekehrt gilt auch, dass die Neigung zur Rechtsmobilisierung mit der Darstellung wirtschaftlicher Unabhängigkeit steigt.
Die Werte für die „schwachen Interessen“ der Umwelt- und Integrationspolitik sind ambivalent. Die Verbände aus diesen Politikbereichen weisen eher unterdurchschnittliche Indexwerte auf, obwohl man von weniger guten alternativen Zugangsmöglichkeiten ausgehen muss. Auf der anderen Seite sind unter den Umweltverbänden auch diejenigen Organisationen angesiedelt, die am häufigsten offensive Strategien anwenden. Ein Erklärungsansatz für die niedrigen Werte könnte in mangelnden Ressourcen liegen. Begünstigend wirkt sich im Umweltbereich aus, dass Umweltverbände (anders als Integrationsverbände) ein Verbandsklagerecht besitzen.
Drei Logiken kollektiven justiziellen Handelns
Insgesamt lassen sich aus den Ergebnissen drei Logiken des justiziellen Handelns in der deutschen Verbandslandschaft kondensieren:
(1) Korporatistische Rechtsverfolgung: Korporatistische Akteur*innen nutzen das Rechtssystem in voller Breite. Wir interpretieren dies als Erbe der Beteiligung an der Arbeits- und Sozialrechtsprechung. Entgegen der Annahme, dass sich Korporatismus und Justzialisierung widersprächen, nutzen Sozialverbände und Gewerkschaften rechtsbezogene Strategien durchaus, wenn auch mit überwiegend defensiver Ausrichtung.
(2) „Public-Interest-Litigation“: Schwache Interessen aus dem Umwelt- und Integrationsbereich propagieren am häufigsten offensive justizielle Praktiken (Muster- und Massenklagen, Verbandsklagen). Diese Ausrichtung geht mit einer Betonung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit einher und wird durch den gemeinwohlorientierten Charakter der Verbandsarbeit begünstigt. Allerdings tritt dieses Selbstbekenntnis insgesamt eher selten auf.
(3) Abstinenz oder Abwehr justizieller Praktiken. Diese Logik ist vor allem im Bereich der Wirtschaftspolitik zu finden, wo die Machtbasis auf der betrieblichen Ebene angesiedelt ist und den Verbänden nur eine nachgeordnete Rolle zukommt. Die Stärkung kollektiver Klagerechte wird abgelehnt. Dies Tendenz zu einer abwehrenden Haltung trifft politikfeldübergreifend zu, je mehr die Verbände wirtschaftlich oder unternehmerisch aktiv sind.
Eine Klageindustrie in der deutschen Verbandslandschaft?
In der öffentlichen Debatte ist bisweilen der Eindruck erweckt worden, dass organisierte Interessen im Zuge erhöhter Klageaktivitäten den Rechtsweg missbrauchen und damit auch zur Überlastung der Gerichte beitragen. Ein Blick auf die justizielle Identität und die Darstellung der Rechtsaktivitäten kann diesen Eindruck nicht bestätigen. Die Verbände präsentieren sich nicht als Protagonisten einer „Klageindustrie“, sondern – von Ausnahmen abgesehen – zurückhaltend und defensiv ausgerichtet. Gleichzeitig fällt die starke Positionierung zur Debatte um mehr Kollektivklagerechte auf, so dass mit mehr Klagebefugnissen in bestimmten Segmenten der organisierten Interessen auch mehr Klageaktivität stattfinden könnte.
Über die Autorinnen
Prof. Britta Rehder ist Inhaberin des Lehrstuhls „Politisches System Deutschlands“ an der Ruhr-Universität Bochum. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Verbände, Arbeitsbeziehungen, der Wandel von Institutionen, Politik und Recht.
Dr. Katharina van Elten ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Politisches System Deutschlands an der Ruhr- Universität Bochum. Ihre Forschungsschwerpunkte sind organisierte Interessen, Selbstverwaltung, Rechts- und Professionssoziologie.