Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Flucht und Migration: Wie internationale Organisationen auch ohne Mandat und Abkommen „regieren“

Autorin: Nele Kortendiek

 

 

Die Themen Migration und Asyl sind auch auf der internationalen Ebene politisch hoch umstritten. Staatenvertreter*innen können sich nicht darauf verständigen, ob es sich hierbei um eine humanitäre, eine Rechts- oder eine Sicherheitsfrage handelt. Die sogenannte „gemischte Migration“ – die gemeinsamen, unautorisierten Wanderungsbewegungen von Asylsuchenden und Migrant*innen – ist besonders politisiert. Infolgedessen sind internationale Instrumente zu diesem Thema, zuletzt etwa der Global Compact for Migration, vage und rechtlich unverbindlich. Die multilaterale Zusammenarbeit bleibt begrenzt, obwohl die Zahlen zu Flucht und Migration steigen. Das heißt auch, dass intergouvernementale Organisationen und UN-Agenturen wie die Internationale Organisation für Migration (IOM) und der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) nur über begrenzte Mandate verfügen: Ihre formalen Mittel, die komplexen Herausforderungen zu bewältigen, die sich aus der großen Zahl an Menschen ergeben, die irregulär internationale Grenzen überqueren, um Konflikten, Gewalt, Not und Ausbeutung zu entkommen, sind eingeschränkt. Bedeutet dies, dass internationale Organisationen Migration und Asyl nicht regulieren können? In meinem neuen Buch, Global Governance on the Ground. Organizing Migration and Asylum at the Border (Oxford University Press, 2024) zeige ich, dass internationale Akteure zwar über keine umfassenden offiziellen Kompetenzen verfügen, aber dennoch die globale Migrations- und Asylpolitik gestalten – durch ihre Praxis vor Ort.

Informelle Entscheidungsfindung im Feld

In meiner Studie untersuche ich, wie das operative Personal von Organisationen wie dem UNHCR und der IOM sowie von humanitären Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und regionalen Agenturen wie der Europäischen Agentur für Grenz- und Küstenwache (Frontex) Migration und Vertreibung vor Ort adressiert. Auf der Grundlage ethnografischer Feldforschung an der europäischen Außengrenze in Griechenland während der "Migrations- und Flüchtlingskrise" 2015/16 und von Expert*inneninterviews zeige ich, dass die Mitarbeiter*innen im Feld im Gegensatz zu Bürokrat*innen und Diplomat*innen in offiziellen Politikarenen in New York, Washington, Genf, Brüssel und Nairobi mit globaler Flucht und Migration auf sehr direkte Weise konfrontiert sind. Diese unmittelbare Konfrontation bedeutet, dass sie sich zumindest vorläufigen Entscheidungen zur Handhabung von Flucht und Migration kaum entziehen können – trotz der politischen Umstrittenheit einer internationalen Politik.

Aufgrund ihrer Stellung im Feld, treffen Grenzschutzbeamt*innen, Asylsachbearbeiter*innen, medizinisches Personal, Sozialarbeiter*innen, Such- und Rettungsfachkräfte, Logistikexpert*innen und andere Praktiker*innen spontane Entscheidungen und improvisieren lokale Lösungen. Diese Lösungen sind oft nicht in den Aufgabenbeschreibungen ihrer Organisation und den offiziellen politischen Regeln vorgesehen: sie sind das Ergebnis von trial-and-error-Prozessen vor Ort. Nichtsdestotrotz verringern sie politische und institutionelle Unsicherheiten, definieren gemeinsame Ziele und koordinieren Verhalten. Sie beschränken und ermöglichen Handlungsmöglichkeiten für Migrant*innen und Asylsuchende und haben damit unmittelbare regulierende Auswirkungen auf deren Leben. Mit anderen Worten: Trotz der Lücken in formalen governance-Rahmenwerken, regulieren die Mitarbeiter*innen internationaler Organisationen vor Ort gemischte Migration an Grenzen, in Flüchtlingslagern, auf See und an ähnlichen Einsatzorten.

Bei diesen street-level Entscheidungsfindungsprozessen interagieren Praktiker*innen regelmäßig mit Kolleg*innen aus anderen Organisationen: Sie improvisieren über Organisationsgrenzen hinweg. Dieses Muster lässt sich in Bezug auf eine Vielzahl von Praktiken beobachten, von der Seenotrettung und Registrierung neuankommender Asylsuchender bis hin zu Asylanhörungen, der humanitären Betreuung, Familienzusammenführung und Rückführungen. Ihre formale Zugehörigkeit zum UNHCR, zum Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO), zur IOM, zu Frontex und zu humanitären NGOs hindert sie nicht daran, eng miteinander zu kooperieren und zu konkurrieren, um provisorische Lösungen für die Herausforderungen gemischter Migrationsbewegungen zu finden.

Die Stabilisierung improvisierter Entscheidungen

Improvisierte politische Lösungen bleiben oft nicht an ihre lokalen Entstehungsorte gebunden. Die Organisationen, die vor Ort tätig sind, verfügen in ihren Sekretariaten über Ausbildungsabteilungen. Die Bürokrat*innen, die dort arbeiten, organisieren regelmäßige debriefings mit dem Einsatzpersonal, das im Feld tätig war, um so Handbücher und anderes Trainingsmaterial zu entwickeln. In Politikfeldern, in denen es kaum formale politische Anweisungen gibt, stellt Erfahrungswissen eine wertvolle organisationale Ressource dar: Meine Interviewpartner*innen betonten, dass sie ihre Organisationen „qualifizieren“ („skill up“) wollen, indem sie aus der Praxis lernen. Sie stellten klar, dass sie Schulungsprogramme nicht nur dazu nutzen, die Bedeutung bestehender rechtlicher Bezugsrahmen (z.B. der UN Flüchtlingskonvention) für die Praxis zu klären. Vielmehr nutzen sie Schulungskontexte, um Innovationen aus dem Feld zu stabilisieren und zu bestimmen, was der Migration-Asyl-Nexus politisch bedeutet. Somit ersetzt Trainingsmaterial de facto die fehlenden globalen Politiken, wie es ein Interviewpartner ausdrückte. Solange umfassende Mandate und internationale Abkommen fehlen, sind praktische tools für internationale Akteur*innen oft handlungsleitend.

Wie können Migrant*innen und Geflüchtete einbezogen werden?

Diese informellen Formen des Regierens werfen normative Fragen auf. Wir kennen zahlreiche Fälle, in denen street-level Bürokrat*innen ihre Ermessensbefugnisse missbraucht haben oder in denen lokale Handlungsmuster innerhalb einer Organisation standardisiert wurden, die den Zielgruppen des globalen Regierens letztlich Schaden zufügen. Um diese Risiken abzumildern, braucht es institutionelle Reformen wie die Einrichtung von Ombudspersonen und individuellen Beschwerdeverfahren, die die Rechenschaftspflicht der global governance vor Ort erhöhen, insbesondere gegenüber ihren direkten Adressat*innen wie Migrant*innen, Asylsuchenden und Geflüchteten.

Neue, hochpolitisierte und krisengeschüttelte globale Herausforderungen sind in der Regel unterreguliert. Unterregulierung wiederum begünstigt informelle Formen des Regierens. Angesichts der anhaltenden Krise des Multilateralismus ist daher mit einer Zunahme informeller governance-Modi zu rechnen. Daraus ergibt sich die Aufgabe für Politikwissenschaftler*innen, genau zu untersuchen, wie Akteur*innen vor Ort mit transnationalen Problemlagen umgehen, auch jenseits von Migration und Asyl. Nur dann können wir weiter darüber nachdenken, wie globale Politik in Zukunft effektiv und legitim bleiben oder werden kann.

 

Über die Autorin:

Nele Kortendiek ist Max-Weber-Fellow am Europäischen Hochschulinstitut und Postdoktorandin an der Professur für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Internationale Institutionen und Friedensprozesse an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Für ihr Buch „Global Governance on the Ground. Organizing Migration and Asylum at the Border“ (Oxford University Press, 2024) hat sie den DVPW-Dissertationspreis 2024 und den Chadwick-Alger-Prize 2025 der International Studies Association (ISA) erhalten.