Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Ein gemeinsamer europäischer Strommarkt? Der Teufel steckt im Detail.

Wann immer es um die Energiewende oder hohe Strompreise geht, wird auch der europäische Strommarkt – wahlweise als Retter oder als Übeltäter – genannt. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) haben historisch sehr unterschiedlich gewachsene Strommärkte, mit unterschiedlichen Zugangsregeln, Eigentumsstrukturen und Förderregeln für erneuerbare Energien. Mittlerweile vier „Energiemarktpakete“ versuchen, diese unterschiedlichen Energiemärkte zu harmonisieren und einen gemeinsamen Markt zu schaffen.

Aus der Implementationsforschung wissen wir aber, dass alleine mit dem Erlass europäischer Richtlinien und ihrer Umsetzung in nationale Gesetze die Arbeit noch nicht getan ist: Auch das nationale Gesetz muss wieder in Verwaltungsvorschriften, regulatorische Entscheidungen, Erlasse etc. umgesetzt werden, bis es „on the ground“ bei den Normadressaten – im Fall der Energiemarktpakete also vor allem Stromerzeuger und Stromnetzbetreiber – ankommt.

Im Aufsatz „Konflikte und Handlungsspielraum von Akteuren in der Implementation europäischer Energiemarktrichtlinien – Das Beispiel Sicherheit der Stromnetze“ in dms – der moderne staat zeigen wir, dass diese Umsetzung kein rein technischer Prozess ist, der die Vorgaben des Gesetzes abarbeitet. Stattdessen finden in dieser Phase des Policy-Prozesses Verteilungs- und Machtkonflikte zwischen den Akteuren des Strommarktes statt, durch die die Auswirkungen des ursprünglichen Gesetzes – und somit auch der europäischen Richtlinie – verschoben werden können.

Das dritte Energiemarktpaket muss in einer komplexen Implementationskaskade umgesetzt werden

In unserer Studie untersuchen wir das Dritte Energiemarktpaket der EU von 2009. Dieses Regelwerk soll die Liberalisierung und Harmonisierung der europäischen Strommärkte vorantreiben, und ist durch eine Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes in deutsches Recht umgesetzt worden. Allerdings sind viele wichtige Detailfragen nicht im Energiemarktpaket geklärt worden. Stattdessen wurden sie in einen eigenen komplexen Implementationsprozess verlagert, der sowohl auf europäischer wie auf nationaler Ebene stattfindet, und den wir in einem Übersichtsbericht aufbereitet haben: Die technischen Einzelheiten, wie der Strommarkt funktionieren soll, werden in sogenannten Network Codes and Guidelines festgelegt, die Guidelines wiederum definieren einen Prozess, in dem Terms, Conditions and Methodologies (TCMs) erarbeitet werden. Erst in diesen TCMs wird letztlich z.B. für die Stromproduzenten oder die Verteilnetzbetreiber ersichtlich, was genau sie tun oder unterlassen sollen.

Die Sicherheit der Stromnetze soll über technische Regulierung sichergestellt werden

Konkret untersuchen wir eine Methodologie aus der System Operations Guideline (SOGL) von 2017. Die SOGL definiert, nach welchen Prinzipien die Betreiber der Übertragungsnetze Versorgungssicherheit gewährleisten, wie sie Verantwortlichkeiten verteilen und sich europaweit koordinieren, welche Maßnahmen im Fall von Problemen mit dem Netzwerk ergriffen werden, und wer wem welche Daten über Netzzustand und -nutzung zur Verfügung stellt. Dies klingt sehr technisch, ist aber wichtig für unsere alltägliche Stromversorgung und die Energiewende. Je mehr in einem Stromnetz Energie aus volatilen Quellen wie Strom und Wind eingespeist werden, desto anspruchsvoller ist es, dieses Stromnetz zu betreiben, desto mehr Informationen sind nötig, und desto mehr Koordination zwischen allen Beteiligten muss stattfinden. Diese zahlreichen Koordinationspflichten regelt die SOGL als Rahmenwerk, in dem wiederum der Auftrag enthalten ist, noch detailliertere Regelungen, eben die TCMs, zu erarbeiten.

Eine der Methodologien der SOGL ist Artikel 40(5). Dieser Artikel regelt auf nationaler Ebene, welche Daten die Übertragungsnetzbetreiber von den anderen Marktteilnehmern – den Stromproduzenten und -verbrauchern, aber vor allem von den Verteilnetzbetreibern – erhalten, um einen sicheren Betrieb sicherzustellen. Die Übertragungsnetzbetreiber sind in Deutschland z.B. 50Hertz oder TenneT. Sie betreiben die Hochspannungsleitungen, die Strom über große Entfernungen transportieren, gewissermaßen das Rückgrat der Stromnetze. Die ca. 900 Verteilnetzbetreiber – viele davon sind Stadtwerke oder regionale Verbünde – betreiben die Netze, die den Strom zu den Endkund*innen bringen. Stromproduzenten sind ebenfalls eine vielfältige Gruppe, und reichen von Großunternehmen wie EnBW bis hin zu kommunalen Windparks.

Gemäß Artikel 40(5) der SOGL musste für die deutsche Umsetzung also eine Liste von Daten erstellt werden, die andere Akteure den Übertragungsnetzbetreibern zur Verfügung stellen müssen. Jedes Mitgliedsland der EU erstellt eine solche Liste. Die Idee des Verfahrens ist, dass die SOGL einen gemeinsamen Rahmen gibt, und die nationalen Daten dann zu einem großen europäischen Datenpool – quasi Informationen über das gesamte europäische Stromnetz – verschmolzen werden können. Die Verfügbarkeit von vergleichbaren Daten ist eine Vorbedingung dafür, dass die europäischen Netze stärker miteinander synchronisiert werden, was auf lange Sicht die Resilienz des Stromnetzes und die Einbindung von erneuerbaren Energien erleichtern kann.

Die Übertragungsnetzbetreiber wollen viele Daten, Verteilnetzbetreiber und Stromproduzenten wollen sie nicht herausgeben

Eine solche Datenliste zu erstellen, klingt nach einer rein technischen Angelegenheit, tatsächlich läuft es aber auf einen klaren Interessenkonflikt hinaus:

Die Übertragungsnetzbetreiber möchten von den Verteilnetzbetreibern und Stromproduzenten, die bei ihnen angeschlossen sind, möglichst viel wissen: Wer ist bei ihnen angeschlossen (Strukturdaten, beispielsweise darüber, wie viel Strom ein Windrad maximal produzieren kann), was tun diese Akteure gerade in diesem Moment (Echtzeitdaten, beispielsweise darüber, wie viel Strom ein Windrad gerade zur Zeit produziert), und Planungsdaten (Prognosen darüber, wie viel Strom ein Windrad an einem Zeitpunkt in der Zukunft produzieren wird). Aus Sicht der Übertragungsnetzbetreiber dienen diese Informationen der Erfüllung ihres Auftrages. Sie sind für die Systemsicherheit zuständig, und je mehr sie wissen, desto besser können sie das Netz sicher betreiben.

Die Verteilnetzbetreiber und Stromproduzenten führen eine Vielzahl von Argumenten dagegen auf: Zum einen haben sie diese Daten teilweise schon anderweitig bereitgestellt, zum anderen ist die Erfassung der Daten oft sehr teuer, und die Übertragungsnetzbetreiber könnten die Daten auch auf anderem Wege bekommen. Darüber hinaus argumentieren die Stromproduzenten, dass sie hier Geschäftsgeheimnisse offenlegen müssen, und durch die Nennung von Planungsdaten in ihren Aktivitäten einschränkt werden.

Die Bundesnetzagentur muss entscheiden

Der Logik des Implementationsverfahrens zufolge legten die Übertragungsnetzbetreiber einen Regelungsvorschlag vor: Eine Liste mit Daten, die sie für notwendig hielten, und die die anderen Akteure liefern sollten. In einem Konsultationsverfahren äußerten die Verteilnetzbetreiber, Stromproduzenten und anderen Marktteilnehmer zahlreiche Bedenken und führten aus, warum sie zahlreiche Daten nicht liefern wollen oder können. Letztlich musste die Bundesnetzagentur (BNetzA) darüber entscheiden, wie die finale Regulierung aussehen sollte, insbesondere weil die Netzbetreiber substanzielle Änderungen an ihrem Entwurf abblockten.

In vielen Punkten gab die BNetzA den Übertragungsnetzbetreibern recht: Am Ende des Prozesses stand eine sehr umfangreiche Liste von Daten, die ihnen die anderen Akteure zuliefern müssen. In anderen Punkten fand die BNetzA aber Lösungen, die stark an die deutsche Energiewende angepasst sind und erwies sich dabei als wichtiges Korrektiv der Übertragungsnetzbetreiber, die bei ihren Vorschlägen vor allem ihr eigenes Interesse und ihren eigenen Auftrag – Systemsicherheit – vor Augen haben. Vor allem kleinere Stromproduzenten sind von umfangreichen Datenlieferungspflichten befreit worden. In anderen Ländern sind hier ganz andere Lösungen gefunden worden, wie wir in unserem Übersichtsbericht zeigen.

Entsteht so ein gemeinsamer europäischer Strommarkt?

Die Datenlieferungspflichten aus Artikel 40(5) SOGL sind nur ein Beispiel von vielen. Letztlich besteht die Regulierung des europäischen Strommarktes aus hunderten solcher Implementationstscheidungen: Wie werden die Sicherheitslimits der Stromnetze berechnet? Wie viel Kapazität kann an den Stromleitungen freigegeben werden, die zwei Länder verbinden? Welche Möglichkeiten haben die Übertragungsnetzbetreiber, bei Störungen in das System einzugreifen? Dürfen sie z.B. einzelne Stromproduzenten kurzzeitig von Netz nehmen? Und wer bezahlt das?

Unsere Forschung zeigt, dass sich die Funktionsweise des europäischen Strommarktes nicht (nur) aus den Richtlinien der Energiemarktpakete ergibt. Viele grundlegende Konflikte sind in den Richtlinien nicht gelöst, sondern tauchen in der Implementation wieder auf und sind dort ganz anderen Akteursinteressen und Prozeduren unterworfen.

Daher ist der Energiemarkt auch nicht so stark integriert, wie er es nach dem Willen der Europäischen Kommission sein sollte: Die Implementation ist am Ende des Tages immer noch stark national beeinflusst, wobei auf der nationalen Ebene der hochpolitische Ausgleich von Systemsicherheit, Umweltschutz und Effizienz vorrangig von privaten Akteuren mit jeweils eigenen Präferenzen behandelt wird.

Unsere Forschung zeigt, dass auch in vermeintlich „technischen“ Feldern abseits der Öffentlichkeit politische Verteilungskonflikte geführt werden. Dabei sind die Implementierungsentscheidungen und die Machtverteilung der Akteure von Land zu Land sehr unterschiedlich, was wiederum zu ganz unterschiedlichen Regulierungen führen kann. Die Vielfalt an Lösungen wiederum stellt die weitere Verknüpfung nationaler Stromnetze vor Probleme, die über den reinen Netzausbau hinausgehen.

Über die Autor*innen:

Simon Fink ist Professor für das politische System der BRD an der Georg-August-Universität Göttingen.

Eva Ruffing ist Professorin für das politische System der BRD im Kontext Europäischer Mehrebenenpolitik an der Universität Osnabrück.

Hermann Lüken genannt Klaßen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für das politische System der BRD an der Georg-August-Universität Göttingen.

Luisa Maschlanka ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für das politische System der BRD im Kontext Europäischer Mehrebenenpolitik an der Universität Osnabrück.