Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Die Unterrepräsentation von Menschen mit Migrationshintergrund in deutschen Parteien – und was dagegen unternommen wird. Ein Beitrag von Joris Frese

Autor: Joris Frese

 

Migrant*innen und Menschen mit Migrationshintergrund sind in politischen Parteien unterrepräsentiert. Dies ist unter anderem dahingehend problematisch, dass eine Parteimitgliedschaft eine der wenigen Formen politischer Beteiligung in Deutschland ist, die auch Menschen ohne Staatsbürgerschaft offensteht und somit für viele Menschen mit Migrationshintergrund besonders attraktiv sein sollte. Bisher haben sich die meisten Forschungsarbeiten zu diesem Thema jedoch auf Migrant*innen in politischen Spitzenpositionen fokussiert. Um diese Analysen zu erweitern und die Mitgliederebene einzubeziehen, habe ich eine Umfrage an Vertreter*innen aller Kreisverbände der sechs größten deutschen Parteien verschickt, welche die parteipolitische Integration von Migrant*innen auf der Mitgliederebene untersucht und der Fragestellung nachgeht, welche Maßnahmen die Parteien ergreifen, um Mitglieder mit Migrationshintergrund zu gewinnen (und wie erfolgreich diese Maßnahmen ggf. sind). Von den 2149 verschickten Fragebögen wurden etwa 500 von Parteivertreter*innen ausgefüllt und in meine Analysen einbezogen. Konkret bestand die Studie aus zwei Teilen, welche zusammengenommen den derzeitigen Stand der parteipolitischen Integration von Migrant*innen sowie mögliche Hürden oder Chancen für einen weiteren Ausbau dieser Integration untersuchen sollten: einem Surveyexperiment, in dem fiktive potenzielle Parteimitglieder vorgestellt und die Parteivertreter*innen nach ihren Vorlieben befragt wurden, sowie einer explorativen, offenen Umfrage, in der die Parteivertreter*innen sich zur Repräsentation von Migrant*innen in ihren Kreisverbänden und ihren Strategien zur Gewinnung von Menschen mit Migrationshintergrund äußern konnten. Das Experiment zeigt, dass Parteien wie die Grünen und die Linke neue Mitglieder mit Migrationshintergrund bevorzugen, während Parteien wie die CDU/CSU und die AfD eine Präferenz für Mitglieder ohne Migrationshintergrund haben. Die explorative Umfrage zeigt, dass nur wenige Parteiverbände einen Fokus auf die parteipolitische Integration von Migrant*innen und Strategien zu diesem Zweck haben.

 

 

 

Präferenzen für neue Parteimitglieder – Ein Surveyexperiment

Um zu prüfen, ob die örtlichen Parteivertreter*innen bestimmte Präferenzen für neue Mitglieder haben, welche potentielle Hürden oder Chancen für eine stärkere Integration von Migrant*innen darstellen könnten, habe ich sie an einem Discrete-Choice-Experiment teilnehmen lassen, bei dem ich sie zwischen zwei potenziellen neuen Mitgliedern mit zufällig variierenden Eigenschaften wählen ließ. Ein Discrete-Choice-Experiment ist ein Studiendesign, bei dem den Teilnehmer*innen zwei fiktive Optionen vorgelegt werden, aus denen sie auf der Grundlage einer Reihe von Merkmalen ihre Präferenz wählen können.

Für die beiden potenziellen neuen Mitglieder habe ich nach dem Zufallsprinzip unterschiedliche Altersgruppen, Berufe, Hobbys, Geschlechter und Herkunftsländer angegeben. Auf der Grundlage dieser Informationen sollten die Parteivertreter*innen dann entscheiden, welcher der beiden Kandidat*innen  besser zu ihrem Kreisverband passen würde. Die übermittelten Präferenzen sind in den Abbildungen 1a-1c dargestellt.

Abbildung 1a zeigt die Mitgliederpräferenzen der Parteivertreter*innen der Grünen und der Linken. Ein Beispiel: 65-Jährige werden als weniger bevorzugt angegeben als 35-Jährige. Darüber hinaus werden neue weibliche Mitglieder gegenüber neuen männliche Mitgliedern bevorzugt. Bei der für die Studie wichtigsten Dimension, den Herkunftsländern, zeigen beide Parteien eine Präferenz für Menschen mit Migrationshintergrund gegenüber gebürtigen Deutschen. Insbesondere Personen aus Bosnien werden als signifikant bevorzugt angegeben.

 

 

Bei der SPD und der FDP sehen die Mitgliederpräferenzen ähnlich aus, bis auf die Tatsache, dass sie keine eindeutigen Präferenzen für Menschen aus irgendeinem Herkunftsland zeigen, wie in Abbildung 1b zu sehen ist. Darüber hinaus haben diese beiden Parteien eine klare Abneigung gegenüber arbeitslosen Neuzugängen, da alle Berufskategorien signifikant positive Koeffizienten im Vergleich mit dem Ausgangswert einer arbeitslosen Person aufweisen.

 

 

Die CDU/CSU und die AfD haben im Vergleich zu den Grünen und Linken eine umgekehrte Präferenz der Herkunftsländer: einheimische Deutsche werden gegenüber Personen mit Migrationshintergrund bevorzugt. Insbesondere Frankreich und die Türkei werden als deutlich weniger wünschenswerte Herkunftsländer angegeben. In diesem Zusammenhang wird auch das Engagement in einem Moscheeverein als das am wenigsten wünschenswerte Hobby für ein potenzielles neues Mitglied angegeben. Dies ist in Abbildung 1c dargestellt.

 

 

Die derzeitige Lage der parteipolitischen Integration von Migrant*innen – Eine explorative Umfrage

Bevor ich die Parteien explizit nach ihren Strategien zur Gewinnung neuer Mitglieder mit Migrationshintergrund befragte, wollte ich herausfinden, wie viele Menschen mit Migrationshintergrund bereits jetzt Mitglied in deutschen Parteien sind. Da die Parteien hierzu keine offiziellen Statistiken veröffentlichen, habe ich stattdessen ihre Vertreter*innen gebeten, eine Schätzung des Anteils von Mitgliedern mit Migrationshintergrund in ihren Kreisverbänden abzugeben, und den Durchschnitt ihrer Antworten in Abbildung 2 präsentiert. Da bei den Antworten eine Verzerrung aufgrund sozialer Erwünschtheit zu erwarten ist, sollten die ermittelten Prozentwerte als Obergrenzen der wahren Werte interpretiert werden, weil die meisten Parteien ihren Anteil an Mitgliedern mit Migrationshintergrund wahrscheinlich eher über- als unterrepräsentieren würden. Dennoch kommt keine einzige Partei auch nur annähernd an den bevölkerungsweiten Durchschnitt der Deutschen mit Migrationshintergrund heran, der bei mehr als 25 % liegt. Den höchsten Anteil hat die SPD mit knapp über 20 %, den niedrigsten die FDP mit knapp 15 %. Dies zeigt, dass noch viel getan werden muss, bis Migrant*innen  in den politischen Parteien angemessen vertreten sind.

 

 

Auf die Frage, bei welchen derzeit unterrepräsentierten Gruppen die sechs Parteien den größten Bedarf für eine stärkere parteipolitische Einbindung sehen, zeigten sie unterschiedliche Prioritäten. Lediglich die Grünen nennen Migrant*innen als primäre Zielgruppe, während die SPD und die AfD auf junge Menschen, die Linke auf Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status und die FDP und die CDU/CSU auf Frauen setzen. Dies ist in Abbildung 3 dargestellt, in der größere und zentralere Begriffe in der Wordcloud häufiger genannte Zielgruppen darstellen.

 

 

Schließlich wurden die Parteivertreter*innen gefragt, ob ihre Kreisverbände über Strategien zur Gewinnung von Menschen mit Migrationshintergrund verfügen. Abbildung 4 zeigt den Prozentsatz der Vertreter*innen, die diese Frage mit ja oder nein beantwortet haben. Wie man sieht, hatte die Linke den höchsten Anteil an Kreisverbänden mit Strategien zur Anwerbung von Migrant*innen  (41 %), während die FDP mit 19 % den niedrigsten Anteil aufwies. Zu den am häufigsten genannten Strategien gehörten die Veröffentlichung mehrsprachiger Dokumente und die Zusammenarbeit mit lokalen Migrant*innenvereinigungen. Zu den weiteren Strategien, die genannt wurden, gehören eine erhöhte Sichtbarkeit von Migrant*innen  in Spitzenpositionen, ein ausdrückliches Bekenntnis zu Vielfalt und die Einrichtung von Arbeitsgruppen zu Themen, die für Migrant*innen von Interesse sind.

 

 

Zusammenfassend lässt sich mit Blick auf die Unterrepräsentation von Migrant*innen in deutschen Parteien sagen, dass es in vielen Parteiverbänden die Bereitschaft gibt, deren Anteil zu erhöhen, dass dies allerdings selten Priorität zu haben scheint. Dies lässt sich konkret an zwei Indikatoren festmachen, welche in der explorativen Umfrage offengelegt wurden: (1) ein stärkerer Fokus auf andere unterrepräsentierte Gruppen, wie Frauen oder junge Menschen und (2) ein Mangel an Strategien zur Integration von Migrant*innen in den meisten Verbänden. Die offensichtlichste Hürde , welche in dem Surveyexperiment deutlich wurde, ist jedoch eine offen kommunizierte Präferenz gegen neue Mitglieder ausländischer Herkunft in konservativen und rechten Parteien.

Über den Autor: 

Joris Frese ist Doktorand in Politik- und Sozialwissenschaft am Europäischen Hochschulinstitut (EUI) in Florenz, Italien. Die hier präsentierten Ergebnisse waren Teil seiner Masterarbeit, welche im Sommer 2022 am Fachbereich Politik- und Verwaltungswissenschaft der Universität Konstanz eingereicht wurde.  Kontakt gerne per E-mail unter joris.freseeuieu oder auf Twitter unter @fresejoris.