Autoren: Jan Philipp Thomeczek, L. Constantin Wurthmann und Christian Stecker
Die Europawahl 2024 hat Entwicklungen im Parteiensystem sichtbar gemacht, die eine nachhaltige Transformation einleiten könnten. Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), das formal vor einem halben Jahr noch gar nicht existierte, konnte bei seiner ersten Wahlteilnahme überhaupt mit 6,2% der Stimmen bei der Europawahl ein bemerkenswertes Wahlergebnis erzielen. Die Linke befindet sich dagegen elektoral im freien Fall und fällt mit 2,7% der Stimmen weit unter die bei Bundestagswahlen relevanten fünf Prozent. Mit den Freien Wählern und Volt konnten zwei aufstrebende Parteien mehr als zwei Prozent der Stimmen sammeln. Angesichts dieser massiven Verschiebungen stellen sich Fragen nach den inhaltlichen Angeboten der Parteien und ob insbesondere BSW oder Volt bestehende Nischen auf den Wähler*innenmärkten langfristig bedienen könnten. Unser Beitrag wirft einige Schlaglichter auf diese Fragen.
GEPARTEE Expert*innenbefragung
Die Befunde in diesem Beitrag basieren auf der Auswertung aus einer Befragung, die wir im Mai 2024 unter Parteiexpert*innen durchgeführt haben. Die einzelnen Fragen sind an internationale Expert*innenenbefragungen wie den Chapel Hill Expert Survey (CHES), Populism and Political Parties Expert Survey (POPPA) oder den Global Party Survey (GPS) angelehnt. Die Auswertung der vorliegenden Analyse basiert auf der Einschätzung von 24 Expert*innen, welche mindestens die Hälfte aller Fragen beantwortet haben. Die Parteipositionen der Befragung wurden zur Entwicklung der Wahlhilfe "Euro Party Check" verwendet. Die Daten sind frei zugänglich.
Allgemeine Verortung
Wir diskutieren zunächst eine zweidimensionale Verortung der Parteipositionen entlang einer wirtschafts- und sozialpolitischen sowie einer gesellschaftspolitischen Achse. Diese beiden Dimensionen gelten auch als die wichtigsten programmatischen Strukturparameter westeuropäischer Parteiensysteme, welche in unterschiedlichen Variationen von Expert*innenenbefragungen aufgegriffen werden. Die gesellschaftspolitische Dimension wird bei CHES beispielsweise auch GAL-TAN genannt und trennt zwischen Grün-Alternativ-Libertären (GAL) und Traditionell-Autoritär-Nationalistischen (TAN) Positionen.
In Abbildung 1 sind die Positionen der Parteien aus unserer Befragung präsentiert. Unter den Befragten haben wir dabei die Mittelposition (Median) der Verortung ausgewählt. Zunächst zeigt sich das von der Bundestagswahl 2021 bekannte Muster, das sich ein “linkes Lager” mit SPD, Grünen (progressivste Partei) und Linken (wirtschaftlich linkeste Partei) und ein bürgerliches Lager mit CDU, CSU und AfD (sowohl die wirtschaftlich rechteste als auch konservativste Partei) in den jeweiligen Quadranten gegenüberstehen. Die FDP nimmt eine Sonderstellung ein, da sie gesellschaftlich liberal/progressiv, aber wirtschaftlich klar rechts verortet ist. Die Freien Wähler gliedern sich in das bürgerliche Lager ein, wobei sie in ihrer Position auf Höhe der CSU eingeordnet werden. Volt, als stark progressive, aber wirtschaftlich gemäßigt linke Partei (auf Höhe der SPD) ist hingegen im linken Lager verortet. Interessant ist die Verortung des BSW: Es besetzt, spiegelbildlich zur FDP, einen bisher verwaisten Raum. Auf der gesellschaftlichen Dimension ist die Partei ähnlich konservativ wie die CDU verortet, wirtschaftlich hingegen rangiert sie zwischen Linken und SPD.
Wirtschafts- und Sozialpolitik
Diese abstrakten wirtschafts- und sozialpolitischen Positionen werden in Abbildung 2 auf die konkreten Themen wirtschaftspolitischer Interventionismus, Umverteilung und Freihandel heruntergebrochen. Abbildung 2 zeigt, dass die Positionen bezüglich Interventionismus und Umverteilung sehr stark mit der allgemeinen Einordnung auf der übergeordneten Dimension korrelieren. Die Positionen bezüglich der Handelspolitik zeigen hingegen ein anderes Bild. Linke, BSW, Freie Wähler, AfD und (deutlich gemäßigter) die Grünen sind hierbei im protektionistischen Lager verortet. Dem gegenüber stehen die CDU mit einer leichten Präferenz für Freihandel sowie Volt und die FDP, die am unteren Ende der Skala (pro Freihandel) positioniert sind. SPD und CSU wurden von den Expert*innen an der Mittelposition verortet.
Gesellschaftspolitik
Auch die gesellschaftspolitischen Positionen können anhand konkreter Themen differenzierter dargestellt werden (Abbildung 3). AfD, CDU, CSU, Freie Wähler und BSW erweisen sich in dieser feineren Aufgliederung als inhaltliche Nachbarn. Dies zeigt sich etwa bei der Bekämpfung von Kriminalität, für die auch Einschränkungen der Freiheitsrechte in Kauf genommen werden oder auch bei einem restriktiven migrationspolitischen Ansatz. Gleiches gilt für ihre integrationspolitische sowie klimapolitische Position oder die Rechte sexueller und geschlechtlicher Minderheiten. Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke, SPD und Volt bilden hierbei einen progressiv-kosmopolitischen Gegenpol einer liberalen Gesellschaftspolitik. Während die SPD dabei zumeist noch die Rolle als vermittelnde Brücke zwischen beiden Lagern einnimmt, ist die Position der FDP wiederum nicht zwangsläufig kohärent. In Klima-, Migrations- und Integrationsfragen wird sie tendenziell konservativer positioniert, steht aber mit Blick auf sexuelle Minderheiten oder die Kriminalitätsbekämpfung sehr klar im liberal-progressiven Lager der sozioökonomisch eher linken Parteien.
Europapolitik
Zur Europapolitik wurden die Parteien neben einer allgemeinen Einschätzung zur europäischen Integration (X-Achse) bezüglich vier spezifischer EU-Themen eingeordnet werden: der Kohäsisionspolitik/Strukturfonds (der Förderung wirtschaftlich schwacher Regionen), zu potentiellen EU-Erweiterungen, zur gemeinsamen Außenpolitik und zur Übertragung von nationalen Kompetenzen an die EU. Bei der allgemeinen Stellung zur europäischen Integration nimmt lediglich Die Linke eine Mittelposition ein; die anderen Parteien lassen sich klar einem von zwei Lagern zuordnen, die von der AfD als der EU-skeptischsten und von Volt als der EU-freundlichsten Partei angeführt werden. BSW und Freie Wähler werden dabei leicht EU-skeptisch bewertet, alle anderen Parteien als EU-Befürworter eingestuft.
Bezüglich der vier Subdimensionen ist eine starke Korrelation beobachtbar: Wer positiv zur europäischen Integration steht, befürwortet auch Strukturfonds, die Aufnahme von mehr Mitgliedsstaaten, den Ausbau der gemeinsamen Außenpolitik und eine Übertragung weiterer Rechte von der nationalen auf die EU-Ebene. Volt nimmt jeweils auf allen Achsen den Maximalwert, die AfD den Minimalwert ein. Unter den Bundestagsparteien sind jedoch CSU, CDU und FDP meistens in der Mittelkategorie der Subdimensionen eingeordnet; hier sehen die befragten Expert*innen also keine eindeutige Präferenz in die eine oder andere Richtung.
Fazit
Unsere Expert*innenenbefragung deutet in Zusammenschau mit den Ergebnissen der Europawahl an, dass das Parteiensystem der Bundesrepublik einem weiteren Umbruch entgegensieht. Mit dem BSW etabliert sich eine neue politische Kraft, die in einem politisch zuvor verwaisten Quadranten zu verorten ist, in dem eine umverteilungsorientierte Wirtschafts- und Sozialpolitik mit einer konservativen Gesellschaftspolitik kombiniert wird. Bemerkenswerte Erfolge konnte die Partei vor allem im Osten Deutschlands erzielen. Da dort im September in drei Bundesländern Landtagswahlen anstehen, ist nicht auszuschließen, dass sich das neue Themenangebot auch bald in materiellen Politikergebnissen niederschlägt. Mit Blick auf Volt gilt es abzuwarten, ob die Erfolge bei Europa- und einigen Kommunalwahlen auf Landtags- und Bundestagswahlen übertragen werden können und eine neue links-progressive Partei der bisherigen Landschaft hinzugefügt wird. Während Volt die Koalitionsoptionen des linken Lagers erweitern könnte, gilt dies umgekehrt für die Freien Wähler und das bürgerliche Lager.
Über die Autoren:
Jan Philipp Thomeczek ist Post-Doc an der Universität Potsdam. Er forscht zu populistischer Kommunikation und Parteien und ist daher besonders an der Entwicklung und Etablierung des BSWs interessiert.
L. Constantin Wurthmann ist Vertretungsprofessor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Christian Stecker ist Professor für das Politisches System Deutschlands und Vergleich politischer Systeme an der Technischen Universität Darmstadt.