(Blaue) Karten täuschen optisch und demokratietheoretisch
Tief blau gefärbte Karten über ihre Siege in Wahlkreisen, Städten und Gemeinden prägen die mediale Begleitung des wachsenden Erfolgs der AfD. In geübter Praxis der Wahlberichterstattung werden geographische Einheiten wie Wahlkreise oder Gemeinden in den Farben der Partei mit den meisten Stimmen dargestellt. Dies war zuletzt immer häufiger die AfD. Aktuelle Umfragen lassen erwarten, dass uns im September in Fernsehen, Zeitungen und auf Social Media auch ein besonders blaues Brandenburg, Sachsen und Thüringen begegnen wird.
Wir zeigen, dass diese Karten einen zweifach trügerischen Eindruck vermitteln. Einerseits kreieren sie eine verzerrte Wahrnehmung der tatsächlichen Stärke der AfD (und ggf. anderer Parteien): Die Partei fährt vor allem in vielen Gemeinden des ländlichen Raumes größere Erfolge ein - wo jedoch im Verhältnis zur Fläche relativ wenige Menschen leben. In den Städten, Räume mit hoher Bevölkerungsdichte, ist die AfD schwächer und linke Parteien, insbesondere die Grünen, sind hier stärker. Durch diesen Stadt/Land-Gegensatz wird für die AfD also mehr Fläche pro Wähler blau gezeichnet als z. B. für die Grünen grün. Da der Betrachter häufig intuitiv die Stärke einer Partei über den Flächenanteil erfasst, ist die optische Täuschung perfekt, denn eigentlich interessieren uns die relativen Stimmenanteile der Parteien.
Anderseits legen blaue Karten von Wahlkreisgewinnern einen demokratietheoretischen Fehlschluss nahe. Die absolute Mehrheit ist der Goldstandard demokratischer Unterstützung. Daher ist sie auch für die Wahl vieler demokratischer Ämter als Hürde festgelegt (z. B. bei Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern). Eine absolute Mehrheit identifiziert auch sicher den sogenannten Condorcet-Gewinner - das ist die Alternative, die alle anderen im paarweisen Vergleich schlägt und damit zweifelsfrei demokratischer Sieger ist. Einen Wahlkreis (oder eine Gemeinde) kann man allerdings schon mit den meisten Stimmen gewinnen. Dies können auch nur 20 Prozent sein. Als das deutsche Parteiensystem noch weniger zersplittert war, gewannen die meisten Wahlkreissieger auch absolute Mehrheiten. Inzwischen sind deren Stimmenanteile aber deutlich geschrumpft.
Im Folgenden vertiefen wir diese optische und demokratietheoretische Täuschung, die von den (aktuell meist) blauen Karten ausgehen kann mit einem Fokus auf Brandenburg, Thüringen und Sachsen, wo im September neue Landtage gewählt wird.
Optische Täuschung: Nicht Landmasse wählt, sondern Menschen
Die Karte der vergangenen Europawahl in den Gemeinden Brandenburgs, Sachsens und Thüringens ist sehr blau. In den meisten Gemeinden gelang es der AfD stärkste Kraft zu werden. Man könnte problemlos von Berlin nach Dresden laufen, ohne eine Gemeinde zu durchqueren, in der die AfD nicht die meisten Stimmen auf sich vereinen konnte. Viele Medien fokussierten auf diesem Umstand und produzierten reihenweise blaue Karten. Für Brandenburg, Sachsen und Thüringen haben wir eine solche Karte unten reproduziert.
Abbildung 1: Stimmenanteile bei Europawahl 2024 in Thüringen, Sachsen und Brandenburg
Allerdings werden die “Wahlsiege” der AfD (es sind oft nur die meisten Stimmen, dazu mehr unten) durch das großflächige Blau aufgebläht. Nicht Landmasse wählt, sondern Menschen und diese finden sich in ganz unterschiedlicher Dichte in den Karten. Dies wird in der folgenden Abbildung deutlich, in der das AfD-Wahlergebnis mit der Bevölkerungsdichte einer Gemeinde ins Verhältnis gesetzt wird.
Abbildung 2: AfD Stimmenanteil – Europawahl 2024 auf Gemeindeebene sortiert nach Einwohnerdichte (Einwohner pro Quadratkilometer)
Wenn die Bevölkerungsdichte sinkt (die Blasen werden in der Abbildung dann kleiner), steigt der Stimmenanteil der AfD (die Blasen werden dann dunkler) – er ist also höher in Gemeinden, die im Verhältnis zu ihrer Fläche, nur wenige Einwohner (Wähler) haben. Entsprechend fällt der Flächenanteil der AfD auf Karten deutlich größer aus, als es ihrem Wähleranteil entspricht. Auf der anderen Seite ballt sich die Unterstützung anderer Parteien insbesondere in wenigen Gegenden (bzw. Städten) mit im Verhältnis zu ihrer Fläche deutlich höherer Einwohnerzahl. Im Gegensatz zur AfD nimmt ihre Unterstützung in einer kartografischen Darstellung unterproportional zum Wahlergebnis wenig Fläche ein.
Abbildung 3: AfD Stimmenanteil – Europawahl 2024 auf Gemeindeebene sortiert nach Anteil an Gesamtwählern
Insgesamt bilden die verbreiteten Wahlkarten nicht ab, dass in vielen AfD-Hochburgen, nur ein geringer Teil der wählenden Bevölkerung lebt. Zwar wirken Städte wie Dresden und Leipzig in Sachsen auf einer Karte wie kleine Inseln, sie beherbergen jedoch zusammen fast 20 % der wählenden Bevölkerung des Freistaats.
Die Kombination aus diesen Ungleichgewichten sowie der kartografische Fokus auf die stärkste Partei können zu einem einem enormen Trugschluss führen, der in der folgenden Abbildung illustriert wird.
Abbildung 4: Optische Täuschung: In 93 Prozent der Landmasse stärkste Kraft, aber nur 30 Prozent Stimmenanteil
Die Gemeinden, in denen die AfD bei der vergangenen Europawahl stärkste Partei wurde, vereinen über 90% der Landesfläche von Brandenburg, Sachsen und Thüringen (linkes Kuchendiagramm). Der Stimmenanteil der AfD lag aber nur bei etwa 30%. Die blauen Karten können also die Stärke der AfD massiv übertreiben, was ihre wahrgenommene Legitimation übertreibt und auch die Dramatik der Lage überspitzt, die viele in den Erfolgen der in Teilen rechtsradikalen Partei erkennen.
Demokratietheoretischer Fehlschluss: Wahlkreissieger von AfD (und anderen) gewinnen schon lange keine Mehrheiten mehr
Schauen wir nun den zweiten trügerischen Eindruck näher an: Was für Sieger sind eigentlich Gemeinde- und Wahlkreissieger? Sind sie demokratisch gekrönte Wahlkreis- bzw. Gemeindeköniginnen und -könige, weil sie dort eine absolute Mehrheit hinter sich vereinen oder sind sie nur gerade so als erste durchs Ziel gekommen?
Eine Antwort liefert die Karte in Abbildung 5, die die obige Abbildung 1 invertiert. Anstelle der meist blauen Farbe für die AfD als stärkste Partei ist nun eingefärbt, wie viele Stimmen alle anderen Parteien in einer Gemeinde gesammelt haben. Offenbar war der Eindruck eines tiefblauen Ostens oben trügerisch. In Zeiten eines zersplitterten Parteiensystems bedeuten die meisten Stimmen in einer Stadt oder Gemeinde eben noch lange nicht, dass man auch eine absolute Mehrheit hinter sich bringen kann. Tatsächlich gelang es der AfD nur in einem Bruchteil, nämlich in 51 der insgesamt 1455 Gemeinden der drei Bundesländer, mehr Stimmen als alle anderen Parteien kombiniert zu sammeln. In vielen anderen Gegenden präferierten 60-80 Prozent der Wählerinnen und Wähler eine andere Partei als die AfD.
Abbildung 5: Stimmenanteile bei Europawahl 2024 in Thüringen, Sachsen und Brandenburg
Für eine weitere Antwort zeigt die Abbildung 6 für alle drei Bundesländer die Stimmenanteile der Wahlkreissieger in den vergangenen Landtagswahlen seit 1990. Jeder einzelne Punkt steht für einen Wahlkreissieger und seine Parteifarbe. Das Viereck repräsentiert den durchschnittlichen Stimmenanteil aller Wahlkreissieger in der jeweiligen Wahl.
Abbildung 6: Stimmenanteile von Wahlkreissiegern bei Landtagswahlen
Zunächst fällt ins Auge, dass die Stimmenanteile der Wahlkreissieger sehr stark streuen. In den 1990er Jahren konnten einige Wahlkreisbewerber für die SPD in Brandenburg und die CDU in Sachsen und Thüringen über 60 Prozent der Erststimmen auf sich vereinen. Zugleich haben einzelne Wahlkreissieger bereits in den 1990er Jahren deutlich unter 40 Prozent der Erststimmen eingesammelt. Das bedeutet, dass hinter den gleichen Farben auf den Wahlkreissiegerkarten oft eine unterschiedlich hohe Wählerunterstützung steckt.
Im Zeitverlauf sind die durchschnittlichen Stimmenanteile der Direktmandate erheblich gesunken. Gewannen sächsische und thüringische Direktmandatare im Durchschnitt 1990 etwa 50 Prozent der Stimmen, also knapp eine absolute Mehrheit, waren dies bei den letzten Wahlen 2019 nur noch um die 30 Prozent. Einige Abgeordnete errangen ihr Direktmandat nur mit etwa 25 Prozent, 75 Prozent der Wählerinnen und Wähler hätten hier also andere Kandidaten bevorzugt. Eine unkommentierte Darstellung von Wahlkreissiegerkarten ist heute also noch problematischer als vor 30 Jahren.
Hinter diesem Verlust echter Wahlkreisköniginnen und -könige liegen (wie bei den Gemeindegewinnern) erhebliche Verschiebungen im Parteiensystem der Bundesrepublik und hier insbesondere der Bundesländer. Das Rennen um Direktmandate wurde früher häufig zwischen den beiden (damals) großen Parteien CDU und SPD ausgemacht, auch weil Anhängerinnen und Anhänger kleinerer Parteien mit der Erststimme strategisch wählten. Durch das Schrumpfen der SPD, dem Erstarken der Grünen, später der AfD und jüngst dem Aufkommen des BSW wurden auch die Karten in den Wahlkreisrennen neu gemischt. Inzwischen haben mindestens AfD, CDU, SPD, in den Städten auch die Grünen und eventuell das BSW Aussichten auf einen Wahlkreissieg.
Wie knapp die Wahlkreissiege bisher waren, zeigen die folgenden Abbildungen. Der Balken gibt jeweils den Vorsprung des Wahlkreissiegers vor dem Zweitplatzierten an, der mit einem Punkt in der entsprechenden Parteifarbe markiert ist.
Abbildung 7: Vorsprung des Wahlkreissiegers vor dem Zweitplatzierten (Landtagswahlen 2019)
In allen drei Ländern ist der Wettbewerb um viele Direktmandate enorm eng, selten finden sich komfortable Vorsprünge über 10 Prozent. Durch die weitere Zersplitterung des Parteiensystems mit Aufkommen des BSW dürften die Wahlkreisrennen bei den kommenden Wahlen noch knapper werden und manchmal nur der sprichwörtliche Wimpernschlag und eben nicht die absolute Mehrheit entscheiden, wer einen Wahlkreis gewinnt.
Fazit: Bessere Karten und bessere Wahlsysteme
Offenkundig ist die verbreitete Art der visuellen Kommunikation von Wahlergebnissen mit (aktuell blauen) Karten hochproblematisch. Dies gilt insbesondere, da es dem bundesdeutschen Verhältniswahlsystem - anders als dem Mehrheitswahlsystem im Vereinten Königreich - gleich ist, welche Partei in welcher Gegend stark oder schwach ist. Es kommt auf den Gesamtstimmenanteil an.
Mit Blick auf die voraussichtliche Stärke der AfD bei den kommenden drei Landtagswahlen würde es nicht überraschen, wenn die trügerischen blauen Karten als vermeintlicher Beweis für Dominanz und Machtanspruchs ins Feld geführt werden. Der in der AfD allseits populäre republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump hat es vorgemacht: Bereits mehrmals tweetete Trump (in diesem Fall rote) Wahlkarten mit dem Titel “try to impeach this” - freilich ohne den Hinweis, dass in den zahlreichen roten Wahlreisen im Landesinneren häufig Hundertausende Wähler weniger leben, als in den wenigen blauen Wahlkreisen, die die Metropolen der Küstenregionen bilden. Für die kommenden Landtagswahlen wäre daher zu wünschen, dass die geographische Verteilung des Wahlergebnisses präziser kommuniziert wird. Dazu könnte gehören, dass die hier diskutierten Interpretationsrisiken den Karten quasi als Beipackzettel zur Seite gestellt werden.
Offenkundig ist auch die Zeit der Wahlkreisköniginnen und -könige vorbei und es ist nicht unproblematisch, dass zuerst die Wahlkreissieger Zugriff auf die den Parteien gemäß ihres Zweitstimmenanteils zustehenden Sitze haben. Besonders problematisch könnte dies in Brandenburg und Sachsen wirken, wo der Ausgleich von Überhangmandaten begrenzt ist, was zu verfassungswidrigen Mehrheiten führen könnte. Das Problem der demokratisch schwach legitimierten Direktmandate könnte auf unterschiedliche Art und Weise gelöst werden. Einerseits könnten Direktmandate in einem reinen Einstimmensystem, in dem nachgewiesenermaßen auch geographische Repräsentation erreicht wird, überflüssig werden. Andererseits könnten Direktmandate mit sogenannten ranked-choice-Verfahren gewählt werden. Dabei geben die Wähler eine Präferenzordnung über mehrere Kandidierende an, die in der Auszählung so berücksichtigt wird, dass ein Kandidat mit einer absoluten Mehrheit gekürt wird. Insgesamt gibt es zahlreiche Lösungsangebote der Politikwissenschaft für die Herausforderungen, die aus dem zersplitterten Parteiensystem resultieren. An Willen und Fähigkeit der Politik, diese zumindest zu rezipieren, mangelt es indes erheblich.
Über die Autoren:
Julius Kölzer ist Masterstudent der Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Kiel und Research Assistent an der Technischen Universität Darmstadt sowie an der Universität Konstanz.
Christian Stecker ist Leiter des Arbeitsbereiches „Politisches System Deutschlands und Vergleich politischer Systeme“ und geschäftsführender Direktor des Instituts für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Darmstadt.
Daniel Kuhlen ist Masterstudent der Sozialwissenschaften an der Humboldt Universität Berlin und studentische Hilfskraft an der Technischen Universität Chemnitz.
Leon Siefken ist Doktorand und wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität Mannheim