Die unbekannte kleine Schwester
Jedes Schulkind in Deutschland kennt die Fünf-Prozent-Hürde. Die wenigsten haben jedoch schon einmal davon gehört, dass es auch eine Ein-Prozent-Hürde gibt. Diese entscheidet darüber, ob eine Partei nach einer Landtagswahl Mittel aus der staatlichen Parteienfinanzierung erhält. Bei Bundestags- und Europawahlen reichen hierfür bereits 0,5% der Stimmen.
Üblicherweise wird die Existenz der Ein-Prozent-Hürde folgendermaßen gerechtfertigt: Aus Gründen der Chancengerechtigkeit ist es nötig, die Wettbewerbsnachteile kleinerer Parteien hinsichtlich der Einnahmen aus Spenden- und Mitgliedsbeiträgen durch staatliche Gelder zu verringern. Jedoch soll zugleich vermieden werden, dass der Staat sehr kleine Parteien, die auf sich selbst gestellt dauerhaft nicht überlebensfähig wären, künstlich am Leben hält. Daher der harte Schnitt bei 1%.
Doch ist es wirklich so, dass Parteien unter 1% der Stimmen generell weniger überlebensfähig sind als oberhalb? Wenn man Parteien mit 0,2% und 2% der Stimmen miteinander vergleicht, dann vermutlich ja. Aber was ist, wenn eine Partei 0,9% und eine andere 1,1% der Stimmen erhält? In diesem Fall dürften die Unterschiede in Sachen Überlebenswahrscheinlichkeit minimal sein. Dies zeigt, dass auch ein scheinbar natürlicher Schwellenwert wie 1% der Stimmen letztlich willkürlich gesetzt ist.
Livin’ on the edge: Regressions-Diskontinuitäts-Analyse
Aus normativer Sicht mag das bedauerlich sein. Aus wissenschaftlicher Perspektive hätte einem jedoch nichts Besseres passieren können! Ein Schwellenwert wie die Ein-Prozent-Hürde ermöglicht es, den Effekt einer ‚Behandlung‘, die man bei Überschreitung der Schwelle erfährt, sehr genau zu bestimmen. Ähnlich wie bei einem Experiment kann man davon ausgehen, dass im Fall von Parteien nahe der Ein-Prozent-Schwelle der Zufall darüber entscheidet, ob sie mehr oder weniger als 1% der Stimmen erhalten. Schönes Wetter, ein Fußballspiel am Wahltag oder ein zufällig eintretendes Ereignis, das gut zum inhaltlichen Profil einer Partei passt, mag ausreichend sein, damit die Partei in den nächsten fünf Jahren umfangreiche staatliche Unterstützung erhält.
Um ein natürliches Experiment wie dieses auszuwerten, wäre es am einfachsten, alle Parteien knapp unter und über dem Schwellenwert miteinander zu vergleichen. Leider ist es häufig so, dass es nahe dem Schwellenwert nur sehr wenige Fälle gibt. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, auch die weiter entfernten Fälle zu berücksichtigen. Anschließend vergleicht man die vorhergesagten Werte am Schwellenwert. Diese Methode ist als Regressions-Diskontinuitäts-Analyse bekannt.
Klein, aber oho
In meinem Papier „Auswirkungen staatlicher Parteienfinanzierung und parlamentarischer Repräsentanz bei Landtagswahlen“ habe ich eine Regressions-Diskontinuitäts-Analyse mit den Ergebnissen aller Landtagswahlen zwischen 1994 (dem Einführungsjahr der Ein-Prozent-Hürde) und 2023 durchgeführt. Dabei ergab sich folgendes Bild:
Abbildung 1: Effekt der Parteienfinanzierung auf die Wiederantrittswahrscheinlichkeit bei der nächsten Wahl (Baumert, 2024)
Die Kreise in der Grafik entsprechen den Parteien, die durchgezogene rote Linie der vorhergesagten Wiederantrittswahrscheinlichkeit und die gestrichelten roten Linien der statistischen Unsicherheit (90%-Kredibilitätsintervall). Man erkennt deutlich, dass die Wiederantrittswahrscheinlichkeit an der Ein-Prozent-Hürde einen „Sprung“ macht. Für Parteien mit 1% der Stimmen wird mit staatlicher Unterstützung eine Wiederantrittswahrscheinlichkeit von 82% und ohne staatliche Unterstützung von 60% vorhergesagt. Ein erheblicher Effekt!
Ein denkbarer Einwand wäre, dass nicht alle Parteien unter den gleichen Startvoraussetzungen antreten. Beispielsweise könnte es sein, dass Landesparteien, die in einem anderen Bundesland oder auf Bundesebene Anspruch auf staatliche Parteienfinanzierung haben, von ihren dortigen Parteiverbänden unterstützt werden und so auch von der staatlichen Parteienfinanzierung profitieren. Ebenfalls könnten Landesparteien einen Vorteil haben, wenn sie in einem anderen Landtag oder im Bundestag vertreten sind.
Rechnet man diese Einflüsse heraus, zeigt sich folgendes: Bundestagsparteien treten immer zur nächsten Wahl an, unabhängig davon, ob sie Parteienfinanzierung erhalten. Ist eine Partei in einem anderen Landtag vertreten, erhöht sich die Wiederantrittswahrscheinlichkeit bei Überwindung der Ein-Prozent-Hürde um 18 Prozentpunkte. Für Parteien, die in einem Bundesland oder auf Bundesebene Parteienfinanzierung erhalten, steigt die Wiederantrittswahrscheinlichkeit um 25 Prozentpunkte. Und der Effekt für Parteien, auf die nichts des zuvor Genannten zutrifft, beträgt sogar 29 Prozentpunkte!
Die überschätzte große Schwester
Für die Fünf-Prozent-Hürde kann man nun fast das Gleiche machen. Allerdings wäre es nicht sinnvoll, die Wiederantrittswahrscheinlichkeit zu betrachten. Diese beträgt für Parteien um die 5% der Stimmen immer 100%. Stattdessen bietet sich eine Untersuchung der Wahrscheinlichkeit an, mit welcher eine Partei bei der nächsten Wahl (erneut) in den Landtag einzieht bzw. die Fünf-Prozent-Hürde (erneut) überwindet.
Der Einzug in ein Landesparlament geht mit einem starken Anstieg der einer Partei zur Verfügung stehenden Ressourcen einher. Sie erhält zusätzliche Gelder, bekommt Mitarbeitende finanziert, kann parlamentarische Anfragen stellen und hat Zugriff auf parlamentarische Recherchestellen. Ebenfalls erhält sie zusätzliche öffentliche Aufmerksamkeit. Daher würde man vermuten, dass die parlamentarische Repräsentanz einer Partei in einem Landtag ihre Wiedereinzugswahrscheinlichkeit massiv erhöht. Die folgende Abbildung zeigt, dass es einen solchen Effekt zwar gibt, dieser aber längst nicht so eindeutig ist wie gedacht:
Abbildung 2: Effekt der parlamentarischen Repräsentanz auf die Wahrscheinlichkeit, die Fünf-Prozent-Hürde bei der nächsten Wahl zu überwinden (Baumert, 2024)
Überschreitet eine Partei die Fünf-Prozent-Hürde, erhöht sich ihre Wahrscheinlichkeit, bei der nächsten Wahl erneut in den Landtag einzuziehen, von 53% auf 68%. In der Abbildung erkennt man, dass die gestrichelten Linien, welche die statistische Unsicherheit anzeigen, einander überlappen. Dies bedeutet, dass der Effekt weniger eindeutig als im Fall der Ein-Prozent-Hürde ist.
Erfahrungsgemäß werden kleine Regierungsparteien von den Wähler*innen häufig bei der nächsten Wahl „abgestraft“. Auch könnte es abermals sein, dass in einem anderen Landtag oder im Bundestag vertretene Parteien Vorteile gegenüber anderen Parteien haben. Rechnet man diese Einflüsse heraus, schrumpft der Effekt der parlamentarischen Repräsentanz in sich zusammen: je nach Situation der Partei erhöht sich die (Wieder-)Einzugswahrscheinlichkeit nur noch um 5 bis 7 Prozentpunkte.
Fazit: Nicht auf die Höhe kommt es an
Die Ergebnisse zeigen, dass bei Landtagswahlen die Fünf-Prozent-Hürde längst nicht die bedeutende Rolle spielt, wie man meinen könnte. Statt die x-te Debatte über die Angemessenheit der Fünf-Prozent-Hürde zu führen, sollte man sich daher lieber Gedanken über ihre kleine Schwester machen: Ist die Ein-Prozent-Hürde in ihrer jetzigen Form sinnvoll und angemessen?
Über den Autor:
Jona-Frederik Baumert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft an der Leibniz Universität Hannover.