Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

‚Das Volk‘ kontra die liberale internationale Ordnung? Was der Aufstieg des Populismus über die demokratische Nachhaltigkeit der Globalisierung zeigt. Ein Beitrag von Cédric M. Koch

Autor: Cédric M. Koch

 

Die jüngsten Wahlergebnisse in Schweden und Italien sowie die knappen Midterms der USA unterstreichen es erneut: Die Gefahr populistischer Regierungen ist für liberale Demokratien heute keineswegs gebannt. Die Erstürmung des US-Kapitols im Januar 2021 zeigte plastisch, wie sehr demokratische Verfassungen unter Trumps Rechtspopulismus bedroht sind – in der EU hatte freilich Viktor Órbans FIDESZ-Partei Ungarn bereits seit 2010 schrittweise zu einer elektoralen Autokratie ausgehöhlt. Spätestens seit Brexit und Trump wurde zudem klar, dass Populisten heute Entscheidungen mit international weitreichenden Konsequenzen wie einen EU-Austritt, Handelskriege oder die Beteiligung an globalen Klimaabkommen entscheidend beeinflussen können. In Zeiten globaler Gesundheits- und Energiekrisen stellt die Unterminierung internationaler Zusammenarbeit und wirtschaftlichen Austauschs durch autoritär-nationalistische Populist*innen daher eine zentrale Sorge für Forschende und Entscheidungsträger*innen zugleich dar.

Die politikwissenschaftliche Forschung hat in den letzten Jahren viele wichtige Erklärungen und Befunde zur populistischen Bedrohung liberaler Demokratien und deren internationaler Kooperation vorgelegt. So wichtig diese dominante Perspektive unbestreitbar auch ist, so attestiert sie jedoch auch eine normativ eindimensionale Debatte, die auf teils wackliger konzeptioneller und empirischer Basis den Populismus mit Autoritarismus und Nationalismus gleichsetzt und die liberale (internationale) Ordnung mit Demokratie. Drastisch andere, potenziell nicht-autoritäre Populismusformen wie die von Bernie Sanders in den USA, SYRIZA und Podemos in der EU oder auch die amorphe Fünf-Sterne-Bewegung werden dagegen meist ebenso ausgeblendet wie das zwar liberale aber eben auch in weiten Teilen undemokratische Regelwerk internationaler Institutionen. Aus dieser Sicht bleibt für Demokrat*innen und Internationalist*innen aller Couleur nur, den Status Quo standfest gegen die sprichwörtlichen ‚Barbaren an den Toren‘ zu verteidigen.

 

Dies vernachlässigt jedoch zwei zentrale Fragen: Inwiefern haben die heutigen internationalen Institutionen möglicherweise selbst zum Aufstieg des Populismus beigetragen, speziell im Vergleicht zu wohlbekannten ökonomischen, kulturellen, und nationalen politischen Faktoren? Und unter welchen Bedingungen gewinnen populistische Kräfte mit den autoritär-nationalistischen Zügen der radikalen Rechten, statt in anderen Spielarten, wo Populismus womöglich eher als demokratisches Korrektiv vorgetragen wird? Für die politische Verteidigung demokratischer Prinzipien scheinen fundierte Antworten darauf unabdinglich, wenn internationale Kooperation nicht ungewollt selbst Demokratien schwächen oder Triebfeder für autoritär-nationalistische Herausforderer sein möchte.

 

Ein empirischer Blick auf verschiedene Populismen in der ‚Liberalen Internationalen Ordnung‘

Um diese Fragen zu adressieren, analysiere ich in meiner mit dem diesjährigen Dissertationspreis der DVPW ausgezeichneten Arbeit den Aufstieg verschiedener Populismusformen zwischen 1980 und 2019. Darin argumentiere ich, dass die von westlichen Staaten seit den 1970er Jahren aufgebaute liberale internationale Ordnung (LIO) durchaus selbst die Saat für spätere Wahlerfolge verschiedener Populist*innen gelegt haben könnte. Internationale Institutionen gewannen schließlich stark an Einfluss auf demokratische Gesellschaften um individuelle (ökonomische und politische) Selbstbestimmung zu stärken, blieben jedoch zum Schutz ebendieser Rechte bewusst weitestgehend nicht-mehrheitlich in der Entscheidungsfindung.

Auf Dauer riskiert diese institutionelle Konstellation sich selbst zu untergraben: Bürger*innen und Staaten, die mit der liberalen Stoßrichtung nicht (mehr) einverstanden sind, finden im Gegensatz zum demokratischen Grundversprechen keinen institutionalisierten Kanal in der LIO, um politische Prioritäten effektiv und gleichgestellt zu verändern. Wo gesellschaftliche Unzufriedenheit und demokratische Machtlosigkeit innerhalb einflussreicher internationaler Institutionen zusammenfallen, nährt diese Realisierung daher schrittweise Zweifel am demokratischen Charakter der Politik und stärkt Populist*innen aller Couleur als selbsternannte Verteidiger der Volkssouveränität gegen moralisch korrupte Eliten. Die Institutionen der LIO kreieren also im Laufe der Zeit ungewollt ihre eigenen populistischen Gegner.

Empirisch überprüfe ich dies anhand statistischer Analysen von 37 Demokratien aus Europa, Nordamerika, Ozeanien und Ostasien sowie einer vergleichenden Fallstudie von acht EU-Staaten. Im Rahmen eines vergleichend-historischen Forschungsdesigns berücksichtige ich dabei systematisch alternative ökonomische, kulturelle, nationalpolitische und angebotsseitige Erklärungen. Dadurch isolieren die Untersuchungen auf verschiedenen Ebenen spezifisch, inwiefern größere Einbindung in internationale Institutionen dazu beiträgt, dass demokratische Legitimitätswahrnehmungen erschöpft werden und Populist*innen dadurch Zulauf erhalten. Zudem vergleiche ich unter welchen Bedingungen dies speziell Populist*innen der radikalen Rechten (PRR), der radikalen Linken (PRL), und des selbsternannten ‚Zentrums‘ (CAPs) stärkt (siehe Abbildung 1) und wie sich diese Spielarten des Populismus mit Blick auf Prinzipien liberaler Demokratie und internationaler Kooperation unterscheiden. 

 

 

Die ambivalente populistische Politisierung demokratischer Legitimität

Die Resultate zeigen, dass die Ermächtigung internationaler Märkte und Organisationen in der Tat mit tendenziell niedrigeren Reservoirs demokratischer Legitimität bei Bürger*innen und größeren Wahlerfolgen für Populist*innen einhergeht. Zudem korreliert empfundene demokratische Illegitimität laut Umfragedaten seit 1996 auch auf individueller Ebene mit größerer Unterstützung für populistische Parteien und lässt sich nicht auf heimische politische Schwächen wie Korruption reduzieren. Populist*innen gewannen also seit den 1980ern nicht nur aufgrund bekannter ökonomischer, kultureller oder nationaler Faktoren, sondern zum Teil auch da sie erfolgreich demokratische Legitimitätsdefizite politisierten, inklusive innerhalb einer liberalen aber größtenteils undemokratisch institutionalisierten internationalen Ordnung.

Vergleiche zwischen Einstellungen von Anhänger*innen und Parteiprogrammen zeigen jedoch, dass die PRR und CAPs Volkssouveränitäts-Vorstellungen vertreten, die eine deutliche nationalistische und autoritäre Bedrohung darstellen. Die PRL dagegen mobilisiert den wahrgenommenen Verlust demokratischer Legitimität in einer Weise, die ein potenzielles demokratisches und sogar kosmopolitisches Korrektiv darstellen könnte: Ihre Anhänger*innen respektieren liberale Individual- und Minderheitenrechte als Grenzen der Mehrheitssouveränität und fordern sogar mehr Autorität für internationale Organisationen, wenn diese an größeren Einfluss für bürgerschaftliche Organisationen gekoppelt ist. Generelle Populismus-Verteufelungen scheinen also weder akademisch präzise, noch politisch hilfreich, um zumindest demokratisch motivierte Kritiker*innen der LIO (wieder) zu überzeugen.

Eine tiefergehende Analyse parteipolitischer Dynamiken in acht EU-Staaten zeigt jedoch, warum die PRL in der Praxis strukturell benachteiligt in der Ausnutzung demokratischer Legitimitätsdefizite ist: ökonomische und kulturelle Treiber interagieren auf individueller und (inter-)nationaler Ebene so, dass sich mehr Gelegenheiten für populistische Politisierung von rechts als von links bieten. Zudem stehen Linkspopulist*innen dabei selbst in günstigen Bedingungen größerer Parteikonkurrenz gegenüber als andersherum. Trotz der sehr unterschiedlichen populistischen Spielarten wird die LIO daher insgesamt am Stärksten im Namen einer autoritären Desintegration herausgefordert.

 

Zum Scheitern verurteilt oder zu Reformen gezwungen?

Wenn der liberale internationale Status Quo also Teil des Problems ist, aber der Populismus selbst keine (effektive) demokratisierende Kraft darstellt, was tun? Einerseits bleibt entschiedener Widerstand gegen die Normalisierung ultimativ antidemokratischer rechtsradikaler Politik unabdinglich, selbst wenn sie im vermeintlichen Namen der Demokratie vorgetragen wird. Um Vertrauen in liberale Demokratie und internationale Kooperation wiederherzustellen müssen jedoch auch bestehende Repräsentationslücken geschlossen und Reformen mit Fokus auf bisher Benachteiligte erreicht werden. Politisch benötigt dies nicht zuletzt eine Abkehr von einem immer weniger mehrheitsfähigen Zentrismus und stattdessen mehr Zusammenarbeit progressiver Demokrat*innen auch mit nicht-autoritären linkspopulistischen Akteuren.

Auch auf internationaler Ebene sollte statt einer unkritischen Verteidigung des liberalen Status quo glaubwürdiger für eine Ausweitung von mehrheitsbasierten Entscheidungsverfahren in internationalen Organisationen wie der EU eingetreten werden. Um die selbstuntergrabende Dynamik der LIO zu schwächen bietet sich politisch vor allem an, zusätzliche Autoritätstransfers zur effektiveren Antwort auf (neue) transnationale Krisen von vorneherein an direkt gewählte parlamentarische Kontrolle zu binden. Wo dies nicht machbar scheint (etwa auf globaler Ebene oder in der extrem technischen Geldpolitik), könnten internationale Regelwerke zumindest regelmäßig mit breiter und verbindlicher Bürger*innenbeteiligung angepasst werden, um liberale Institutionen demokratisch responsiver zu machen.

Der Aufstieg verschiedener Populismen zeigt also, dass durchaus ‚mehr Volk‘ auf internationaler Ebene nötig ist – allerdings nicht im Sinne selbsternannter ‚Volksvertreter‘ der radikalen Rechten. Um die demokratische Tragfähigkeit der Globalisierung zu sichern, bleibt zu hoffen (und dafür einzutreten), dass deren autoritär-nationalistische Bedrohung rechtzeitig Mehrheiten für selbstkritische Reformen erzwingt.

Über den Autor: 

Cédric M. Koch ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Global Governance am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und verteidigte 2021 seine Dissertation an der Freien Universität zu Berlin. Auf Twitter ist er (noch) als @ckcedric zu finden.