Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Das Problem der Unterrepräsentation Ostdeutscher: Parteien als Vorbild?

16. September 2025

Autor*innen: Astrid Lorenz und Benjamin Höhne

 

 

 

Ein ostdeutscher Chef eines DAX-Unternehmens, eine ostdeutsche Hochschulpräsidentin – davon hört man kaum. In vielen Bereichen finden sich auch 35 Jahre nach der deutschen Einheit weit weniger Ostdeutsche in den höchsten Leitungspositionen, als ihr Anteil an der Bevölkerung Deutschlands ausmacht (laut einer DeZIM-Studie ca. 16,7% „Geo-Ostdeutsche“ inkl. Ost-Berlin bzw. 20% „Bio“-, d.h. gebürtige Ostdeutsche). Ostdeutsche nehmen diese Lücke stärker und kritischer wahr als Westdeutsche, besonders solche, die mit der Funktionsweise der Demokratie unzufrieden sind, so der Leipziger Elitenmonitor. In der „Riemser Erklärung“ mahnten 2022 die damalige Bundesregierung und alle ostdeutschen Regierungsspitzen eine Verbesserung der Repräsentation von Ostdeutschen in Führungs- und Spitzenpositionen an. Könnte man die Parteien als Vorbild dafür heranziehen? Unsere aktuelle Research Note in der PVS zeigt, dass Ostdeutsche in den Spitzenpositionen der Parteien zumeist sogar überrepräsentiert sind, wenn man den ostdeutschen Bevölkerungsanteil oder die jeweiligen ostdeutschen Mitgliederanteil der einzelnen Parteien (worauf wir hier nicht näher eingehen) als Vergleichsmaßstab heranzieht.

Überrepräsentation in den Parteivorständen

Schaut man auf den Anteil von stimmberechtigten Mitgliedern ostdeutscher Landesverbände in den Bundesvorständen der Parteien, so kann den Parteien eine Vorbildfunktion für die deskriptive Repräsentation Ostdeutscher attestiert werden, denn er lag zumeist über dem Anteil von Menschen, die in Ostdeutschland leben, an der Gesamtbevölkerung (16,7%, siehe Einleitung). Dabei differenzieren wir die Parteivorstände soweit vorhanden in den Geschäftsführenden Bundesvorstand und den gesamten Bundesvorstand, der seltener zusammentritt, aus.

Abbildung 1: Stimmberechtigte Vorstandsmitglieder der Bundesparteien aus ostdeutschen Landesverbänden (2023)

 

 

Im Bundesvorstand der AfD bzw. Geschäftsführenden Vorstand der Linken lag ihr Anteil 2023 mit 53,3% bzw. 30% am höchsten; bei CDU (17,6%), SPD (16,7%) und Grünen (16,7%) jeweils knapp oberhalb des Bevölkerungsanteils Ostdeutscher oder gleichauf. Nur bei der FDP (8,3%) bestand eine deutliche Unterrepräsentation in Relation zur ostdeutschen Bevölkerung insgesamt. Nominell markierte bei den Bündnisgrünen das einzige ostdeutsche Vorstandsmitglied (Heiko Knopf) einen Anteil von 16,7%, während die Union mit drei Vorständen aus ostdeutschen Landesverbänden einen ähnlichen Wert erzielte. Unter den Vorstandsmitgliedern befanden sich etwa die Ministerpräsidenten Michael Kretschmer und Reiner Haseloff. Noch höher lag der Anteil beim erweiterten Bundesvorstand, wo es einen solchen gibt. Nur die CDU weicht hier ab, liegt aber mit 15,9% nicht weit unter dem Vergleichswert von 16,7%.

Gebürtige Ostdeutsche weniger vertreten

Ein etwas anderes Bild ergibt sich, wenn man den Anteil gebürtiger Ostdeutscher in den Bundesvorständen der Parteien betrachtet (Abbildung 2).  In der SPD unterschritt der Anteil gebürtiger Ostdeutscher am Bundesvorstand im Jahr 2023 den Anteil von Mitgliedern ostdeutscher Landesverbände im Bundesvorstand; bei der CDU galt dies für den Anteil am Geschäftsführenden Vorstand (13,6% vs. 17,6%). Bei der FDP gab es 2023 keine gebürtigen Ostdeutschen im Geschäftsführenden Vorstand, wenngleich ihr Anteil im Gesamtvorstand bei 14,9% lag. Bei der AfD lag der Anteil gebürtiger Ostdeutscher mit 33,3% der stimmberechtigten Vorstandsmitglieder immer noch über dem Bevölkerungsanteil, aber zwanzig Prozentpunkte unter dem Anteil der Mitglieder ostdeutscher Landesverbände. Nur bei der Linken war der Anteil gebürtiger Ostdeutscher im Gesamtvorstand höher als der Anteil von Mitgliedern ostdeutscher Landesverbände (45,8% vs. 41,7%).

Abbildung 2: Gebürtige Ostdeutsche unter den stimmberechtigten Vorstandsmitgliedern der Bundesparteien (2023)

 

Mehrfach wurden also gebürtige Westdeutsche, die in ostdeutschen Landesverbänden aktiv waren, in den Bundesvorstand gewählt. Sie verfügen nicht zwangsläufig über denselben Sozialisations-, Erfahrungs- oder materiellen Hintergrund wie gebürtige Ostdeutsche. Zu diesem Personenkreis zählt z.B. Bodo Ramelow, bis Ende 2024 Ministerpräsident in Thüringen. In den Jahren 2013 und 2023 kamen fünf Mitglieder der Bundesvorstände der Linken, drei aus der AfD, drei aus der FDP, drei aus der CDU (darunter die gebürtige Hamburgerin Angela Merkel, also de facto zwei) sowie je zwei aus SPD und Grünen als Westdeutsche aus ostdeutschen Landesverbänden. Dies kann mit der örtlichen Mobilität von Höhergebildeten und Menschen in der Politik zusammenhängen. Aber: Der umgekehrte Fall, dass gebürtige Ostdeutsche als Mitglieder westdeutscher Landesverbände in den Bundesvorstand ihrer Partei einziehen, existiert praktisch nicht. 2013 und 2023 traf dies auf nur zwei Personen zu. Diese hatten zudem ihre Ausbildung und Berufsleben in Westdeutschland verbracht: Hans-Dietrich Genscher (Ehrenvorsitzender im FDP-Bundesvorstand im Jahr 2013) und Alexander Gauland (AfD).

Kein genereller Aufwärtstrend?

Vergleicht man den Anteil gebürtiger Ostdeutscher in den Bundesvorständen 2013 und 2023, so sind die Ergebnisse gemischt. Abbildung 3 zeigt: Bei der FDP und der Linken nahm in dieser Zeit der Anteil von gebürtigen Ostdeutschen im Geschäftsführenden Vorstand ab, bei der SPD deren Anteil im Bundesvorstand. Im wichtigeren Geschäftsführenden Vorstand stieg er zwar in der CDU (+7,7 Prozentpunkte) und der SPD (+5,6) an; in der AfD stieg er um 13,3 Prozentpunkte. Diese prozentualen Veränderungen hängen aber gerade beim Geschäftsführenden Vorstand mit dem Hinzutreten einzelner Personen bei einer geringen Mitgliederzahl zusammen und verdecken zum Teil, welche Relevanz Ostdeutsche tatsächlich haben. Zudem fällt auf, dass die Entwicklung im geschäftsführenden und im Bundesvorstand oft nicht gleichförmig erfolgt.

Abbildung 3: Gebürtige Ostdeutsche unter den stimmberechtigten Vorstandsmitgliedern der Bundesparteien 2023 im Vergleich zu 2013

 

Fazit: genau auf einzelne Parteien schauen

Insgesamt zeigen die Daten, dass Ostdeutsche in den Bundesvorständen der Parteien oftmals besser vertreten sind als in Spitzenpositionen in anderen Sektoren wie Bundeswehr, Unternehmen, Justiz und Kultur. Ihr Anteil liegt auch meist über dem Anteil ostdeutscher Mitglieder einer Partei, worauf in unserem PVS-Beitrag näher eingegangen wird. Beim Vergleichsmaßstab des Geburtsorts zeigen sich durchwachsene Ergebnisse. Das im sektoralen Vergleich dennoch insgesamt positive Bild wird durch die (auch) regionale Organisationsweise der Parteien und die regelmäßigen Wahlen begünstigt. Dadurch „verstopfen“ einmal Gewählte nicht dauerhaft die Aufstiegswege, wie dies typisch für Sektoren mit stark strukturierten Laufbahnen ist (wie Militär, Justiz), in denen eine Unterrepräsentation oft lange Bestand hat. Dies ist eine Lektion, die sich von den Parteien lernen lässt. Markant ist jedoch, wie unterschiedlich diese Eigenheiten in den Parteien zu Buche schlagen. Ebenso fällt auf, dass gebürtige Ostdeutsche schwächer vertreten sind als im Osten Ansässige. Und es gibt keinen Automatismus eines „Das wird sich mit der Zeit schon auswachsen“.

Im Gesamtfazit lässt sich von einzelnen Parteien lernen, insbesondere wenn sie stark auf regionale Repräsentationsmechanismen setzen. Ob diese dadurch besser ostdeutsche Interessen vertreten oder mehr gewählt werden, als es ohne den höheren Anteil ostdeutscher Vorstandsmitglieder der Fall wäre, ist damit nicht gesagt. Ebenso garantiert ein höherer Anteil ostdeutscher Vorstandsmitglieder nicht automatisch eine gute Vertretung in den Top-Positionen der Bundesregierung und Bundesbehörden, wo sie nach wie vor unterrepräsentiert sind. So ist die Zusammensetzung der Bundeskabinette immer wieder Gegenstand von Kritik, zuletzt bei der Bekanntgabe der Mitglieder der amtierenden Bundesregierung unter Friedrich Merz.

Über die Autor*innen:

Astrid Lorenz ist Professorin für das Politische System Deutschlands und Politik in Europa, Dekanin der Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie und Dekanesprecherin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Demokratieentwicklung, Beteiligung, Verfassungspolitik, Politik in Mehrebenensystemen (Föderalismus, Europäische Union) und Transformationsprozesse.

Benjamin Höhne vertritt an der TU Chemnitz die W3-Professur Europäische Regierungssysteme im Vergleich. Zu seinen Forschungsinteressen gehören Themen der Vergleichenden Politikwissenschaft, insbesondere politische Parteien, Parlamente, Populismus, Repräsentation, Ostdeutschland und die Politikfelder Anti-Feminismus und Sicherheitspolitik.