Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Das Trauerspiel der Wahlrechtsreformdebatte: strategische Blockaden und ein möglicher Weg aus der Sackgasse

Oder: Eine faire Wahlrechtsreform ist möglich

Seit nun über sechs Jahren ist das Problem bekannt, dass das neue Wahlgesetz von 2013 das Risiko beinhaltet, zu einer erheblichen Vergrößerung des Bundestags beizutragen. 2017 wurde dieses dem System inhärente Risiko plastisch realisiert, als der Bundestag aufgrund von 111 zusätzlichen Überhang- und Ausgleichsmandaten eine historische Rekordgröße erhielt. Die sechsjährige Debatte brachte bisher keinen mehrheitsfähigen Gesetzesentwurf zustande, der das Problem erfolgreich behandeln könnte. Es ist daher nicht einmal so, dass der Berg kreißte und am Ende eine Maus gebar, bestenfalls reichte es bislang für einige Scheinschwangerschaften.


Weniger Wahlkreise, weniger Überhangmandate

Da die Vergrößerung (üblicherweise) durch den Ausgleich von Überhangmandate zustande kommt, kann eine konsequente Abhilfe gegen das Problem darin bestehen, Überhangmandate erst gar nicht mehr entstehen zu lassen. Der Vorschlag der drei Oppositionsfraktionen Grüne, Linke und FDP zielt im Kern genau darauf ab, indem er vorsieht, den Anteil der Direktmandate von derzeit 50% auf 40% reduzieren, indem – ausgehend von einer leicht erhöhten Regelgröße von 630 Sitzen – er die Anzahl der Wahlkreise von derzeit 299 auf 250 verringert. Dadurch würden zwar Überhangmandate nicht grundsätzlich ausgeschlossen, aber sie würden zumindest in deutlich verringerter Anzahl auftreten. Verbliebene Überhangmandate sollen nach dem Vorschlag dann mit Listenmandaten in anderen Bundesländern verrechnet werden. Die verbliebenen Überhangmandate der CDU in Baden-Württemberg würden danach z.B. dadurch kompensiert, dass die CDU in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen Listenmandate abgeben müsste. Stehen solche Listenmandate nicht ausreichend zur Verfügung, wie es z.B. bei Überhangmandaten der CSU grundsätzlich der Fall wäre, weil diese nur in Bayern antritt, müsste der Bundestag für diese wieder entsprechend vergrößert werden. Die Vergrößerung besteht also als letzter Ausfluchtweg weiterhin, die dann noch stattfindende Vergrößerung wäre aber in jedem Fall sehr viel geringer als derzeit. Das kann man sich leicht vor Augen führen. Nach dem aktuellen Gesetz wäre eine Partei, die mit 35% der Zweitstimmen alle Direktmandate gewinnt (damit also 50% der Mandate), um 42% überrepräsentiert. Nach dem Vorschlag der drei Fraktionen wäre sie nur noch um 14% überrepräsentiert. Die Überrepräsentation und damit auch das zu ihrer Kompensation benötigte Ausmaß der Vergrößerung betrüge also nur noch ein Drittel des jetzigen Wertes. Da zusätzlich noch der Verrechnungsmechanismus mit Landeslisten unter Umständen in Kraft tritt, wäre die Reduktion womöglich sogar noch deutlich stärker.

Der Vorschlag der drei Fraktionen ist keineswegs perfekt, er geht aber in die richtige Richtung, kurz: er ist vernünftig. Es mehren sich aber die deutlichen Hinweise, dass das Vernünftige ausnahmsweise nicht die Mehrheit des Parlaments gewinnen könnte (zumindest wäre das die Hoffnung einer epistemischen Demokratietheorie, dass eine solche Situation eine Ausnahme darstellt).


Deckelung als Alternative?

Stattdessen sprechen sich nun Vertreter*innen der Union und der SPD für ein sogenanntes Deckelungsmodell aus, bei dem garantiert sein soll, dass eine bestimmte Obergrenze von z.B. 690 Sitzen nicht überschritten wird. Diese Deckelungsmodelle sind allein schon deshalb nicht vernünftig, da sie mit dem Begriff des „Deckels“ eine Erwartung bedienen, sie sie keineswegs erfüllen können, da sie in der Realität zu einer wesentlich stärkeren Vergrößerung des Bundestags führen würden als das Drei-Fraktionen-Modell. Denn der Faktor der minimalen Vergrößerung im Verhältnis zur Anzahl der Direktmandate hängt ausschließlich vom Verhältnis des Anteils der gewonnenen Direktmandate zum Anteil der Zweitstimmen ab. Zumindest gilt das, solange man davon ausgeht, dass weiterhin der Interparteienproporz gewahrt bleiben soll. Dieser Faktor gibt die minimale Vergrößerung an, die für den Ausgleich sogenannter externer Überhangmandate benötigt wird. Von externen Überhangmandaten spricht man, wenn die Anzahl der Direktmandate einer Partei bundesweit über der Anzahl der Mandate liegt, die ihr aufgrund ihres Zweitstimmenanteils zustehen würde. Die (minimale) Endgröße des Bundestags ergibt sich dann eindeutig aus der gegebenen Anzahl der Direktmandate und dem so berechneten Faktor der minimalen Vergrößerung, die sogenannte „Regelgröße“ des Bundestags ist hierfür völlig irrelevant. Gewinnt eine Partei zum Beispiel 80% der Direktmandate mit 30% der Zweitstimmen, muss das Verhältnis der Endgröße des Bundestags zu der fixierten Anzahl der Direktmandate mindestens 8:3 betragen, damit garantiert ist, dass alle gewonnenen Direktmandate in dem durch die Zweitstimmen gewonnenen Sitzanspruch aufgehen. Will man alle 299 Direktmandate beibehalten und auch keine davon zur Streichung zur Verfügung stellen, was die unverrückbare Position der Union ist, kommt man bei dem „Deckelungsmodell“ auf knapp 800 Sitze (299*8:3). Der „Deckel“ von 690 Sitzen ist also völlig irrelevant für das Endergebnis. (Würde man die über den Deckel von 690 hinausragenden Überhangmandate unausgeglichen stehen lassen, käme man vermutlich zu einem verfassungswidrigen Ergebnis, in jedem Fall aber zu einem, das allen Fairnesserfordernissen diametral entgegenstehen würde. Aber selbst dann wäre der „Deckel“ reine Makulatur.) Bei einer Ausgangsgröße von 250 Sitzen wie im Drei-Fraktionen-Vorschlag wäre die benötigte Endgröße des Bundestags 250*8:3, also 667 Mandate. Der Drei-Fraktionen-Vorschlag würde also sogar unter extrem ungünstigen Verhältnissen zu einer kleineren Bundestagsgröße führen als das aktuelle Wahlgesetz, während das „Deckelungsmodell“ mit – angesichts der aktuellen Umfrageergebnisse – sehr großer Wahrscheinlichkeit zu einer weiteren Vergrößerung über die aktuellen 709 Mandate hinaus führen würde. Verzichtet man dazu noch auf die Verrechnung von Überhangmandaten mit Landeslistenmandaten, würden die Endgrößen noch entsprechend höher ausfallen. So oder so würde – unter ansonsten gleichen Bedingungen, was unausgeglichene Überhangmandate und die Anwendung der Kompensation durch Landeslistenmandate angeht – der Bundestag bei 250 Wahlkreisen logischerweise immer kleiner ausfallen als bei 299 Wahlkreisen.

Ein Deckelungsmodell, das den Namen verdient, muss garantieren können, dass die Obergrenze eingehalten wird. Dies geht aber nur, wenn man zur Kappung der Überhangmandate bereit ist, die über den Deckel hinausreichen. In diesem Zusammenhang sollte darauf hingewiesen werden, dass das einzige Modell, das in der Debatte der letzten Jahre entwickelt worden ist, das in der Lage gewesen wäre, die Regelgröße des Bundestags einzuhalten, der Gesetzesentwurf der Grünen von 2011 gewesen ist, das eben eine solche Kappung vorsah (nach der Verrechnung mit Listenmandaten).

Kann man das Auftreten von Überhangmandaten nicht schon von Anfang an verhindern, sprechen durchaus gute Gründe für eine Kappung der nicht durch Zweitstimmen gedeckten Direktmandate. Alle anderen „Lösungskonzepte“ wie unausgeglichene Überhangmandate und auch die Verrechnung von Überhangmandaten mit Listenmandaten stellen in normativer Hinsicht deutlich problematischere Eingriffe dar; wie ich an anderer Stelle dargelegt habe (Einfach, fair, verständlich und effizient – personalisierte Verhältniswahl mit einer Stimme, ohne Direktmandate und einem Bundestag der Regelgröße. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 50/3 (2019), S. 630-654; Die nicht enden wollende Debatte um die Reform des unvollendeten Wahlgesetzes. In: Recht und Politik, 55/4 (2019), S. 363-374). Noch eleganter und zielführender wären meiner Meinung nach Verfahren der rangplatzorientierten personalisierten Verhältniswahl wie das Zweilistenmodell von Albert Funk (Einfach, gerecht, demokratisch, bundesstaatlich – Das Zwei-Listen-Modell als Ausweg aus der Sackgasse der deutschen Wahlrechtsdebatte, in: Zeitschrift für Gesetzgebung, 33 (2018), S. 35-46.) und das von mir vorgeschlagene BaWü-Plus (vgl. obigen ZPARL-Artikel), auf die ich an dieser Stelle aus Platzgründen nicht eingehen möchte. Kappungsmodelle sind in der Literatur jedenfalls als mögliche Konzepte seriös diskutiert worden und wurden zuletzt auch wieder vom deutschen Doyen der Wahlrechtsforschung, Hans Meyer (Welche Medizin empfiehlt sich gegen einen adipösen Bundestag?, in: Archiv des öffentlichen Rechts, 143 (2018), S. 521-553), als Lösungskonzept zur Bekämpfung eines „adipösen“ Bundestags ins Spiel gebracht.

Kappungsmodelle werden – egal in welcher Form – von der Union inzwischen gerne mit dem Hinweis diskreditiert, dass man sich damit „gefährlich nahe“ am Vorschlag der AfD befinde. Dies ist schon mal insofern falsch, als dass es gar keinen ausgearbeiteten Vorschlag der AfD gibt. Es gibt lediglich eine Art Positionspapier, das sich für die Grundsätze eines Kappungsmodells ausspricht. Wenn aber die AfD sich existierende Modelle aneignet, die schon von den Grünen vertreten und von renommierten Wahlrechtler*innen und Wahlsystemforscher*innen erwogen worden sind, so kann dies kein Argument sein, sich mit solchen Modellen nicht mehr ernsthaft zu beschäftigen. Damit würde man der AfD durch eine Art von „negativer Koordination“ die Bestimmung des Diskurses überlassen. Es gäbe auch keinen überzeugenden Grund, auf das Essen von Gummibärchen zu verzichten, sollte es Alexander Gauland oder Alice Weidel irgendwann einfallen, sich als Haribojunkies zu outen.


Direktmandate mit Präferenzlisten auswählen

Ein wichtiges Argument gegen die Kappung überschüssiger Direktmandate besteht darin, dass so „verwaiste Wahlkreise“ entstehen würden. Ein Vorschlag von Robert Vehrkamp sieht daher vor, dieses Problem dadurch zu umgehen, indem man in diesen Fällen den Wahlkreis an die Zweitplatzierte oder den Zweitplatzierten vergibt, insofern deren oder dessen Mandatsanspruch durch Zweitstimmen gedeckt wäre. Unerwünschte Effekte dieses – in seiner Begründungslogik folgerichtigen – Vorschlags aber könnten darin bestehen, dass viele Wahlkreismandate dann an Kandidat*innen fallen würden, die einen womöglich noch deutlich geringeren Rückhalt in der Bevölkerung haben als die oder der Erstplatzierte und unter Umständen sogar ausgesprochen schlechte Repräsentant*innen der Walkreisbevölkerung sein könnten, die von einer überwiegenden Mehrheit der Wähler*innen explizit abgelehnt würden. Außerdem würden dann die Stimmen der Wähler*innen der bestplatzierten Partei, die ja für sich genommen auch die relativ größte Wählergruppe sind, in keiner Weise berücksichtigt, was in der Tat nicht wünschenswert ist. Andererseits aber hat die Partei, deren Kandidat*innen sie gewählt haben, eben keinen Anspruch mehr auf ein Mandat, der durch die Zweitstimmen abgedeckt wäre. Um diesen Konflikt aufzulösen, könnte man ein Verfahren anwenden, das ich das umgekehrte „Alternative Vote“-Verfahren nennen möchte. Bei „Alternative Vote“, das u.a. in Australien angewandt wird, geben die Wähler*innen im Wahlkreis eine Präferenzliste an, sie setzen also eine Kandidat*in auf den ersten, dann eine auf den zweiten Platz usw. Erhält keine Kandidat*in eine absolute Mehrheit an Erstpräferenzen, wird die Kandidat*in mit der geringsten Anzahl von Erstplatzierungen aus dem Rennen genommen und auf den Stimmzetteln der Wähler*innen, die ihn als erste Präferenz genannt hatten, wird nun die nächste Stimme für die jeweiligen Kandidat*innen gewertet. Dieses Verfahren wird so oft wiederholt, bis eine Kandidat*in eine absolute Mehrheit an Stimmen hat.

Das Verfahren, das ich nun vorschlagen möchte, vereinfacht diese Grundform dahingehend, dass es nur Präferenzlisten mit zwei Kandidat*innen benötigen würde. Jede Wähler*in gibt im Wahlkreis ihre Erststimme für die von ihr am meisten gewünschte Kandidat*in an und dann noch eine Ersatzstimme für die Kandidat*in, die zum Zuge kommen sollte, falls die höchstbewertete Kandidat*in nicht mehr berücksichtigt werden kann. Die Umkehrung zum herkömmlichen „Alternative Vote“-Verfahren besteht darin, dass nicht die am schlechtesten abschneidende Kandidat*in ausscheidet, sondern die am besten abschneidende, nämlich genau dann, wenn ihr Mandat nicht mehr gleichzeitig durch eine hinreichende Anzahl von Zweitstimmen abgedeckt wäre. Dann kommt die Ersatzstimme ins Spiel.

Bei der Bundestagswahl 2017 z.B. hätte die CDU in Baden-Württemberg nur auf 28 Mandate einen Anspruch aufgrund der Zweitstimmen gehabt, sie gewann aber alle 38 Direktmandate. Nach dem umgekehrten Alternative Vote-Verfahren erhielten nur die 28 Wahlkreiskandidaten ein Mandat, die die besten 28 Erststimmenergebnisse im Wahlkreis erzielt haben. Die Wähler*innen, die ihre Erstpräferenz für die nicht-berücksichtigten 10 CDU-Kandidat*innen abgegeben haben, kommen nun noch mit ihrer Ersatzstimme ins Spiel. Stehen auf ihren Wahlzetteln z.B. die Kandidat*in der FDP, der SPD oder der Grünen an zweiter Stelle, dann wird diese Ersatzstimme zu den Erstpräferenzen der anderen Wähler*innen hinzugezählt und gewählt ist in diesen Wahlkreisen nun diejenige Kandidat*in mit der relativen Mehrheit an Gesamtstimmen (vorausgesetzt, auch ihr Mandat ist durch Zweitstimmen abgedeckt).

Mit dem umgekehrten Alternativ-Vote-Verfahren käme es zu keinen Überhangmandaten mehr und die Regelgröße des Bundestags könnte exakt eingehalten werden. Darüber hinaus gäbe es im Gegensatz zu herkömmlichen Kappungsmodellen auch keine verwaisten Wahlkreise. Außerdem wäre sichergestellt, dass die Wahlkreisgewinner*in einen sehr großen Rückhalt in der Bevölkerung des Wahlkreises hätte, denn sie wäre für einen sehr großen, wenn nicht den überwiegenden Teil der Wählerschaft mindestens die zweitbeste zur Verfügung stehende Kandidat*in. Dieses Modell könnte auch mit Fug und Recht als „Deckelmodell“ bezeichnet werden, wobei der Deckel sogar bei der Normgröße des Bundestags von 598 Sitzen liegen würde.


Es gibt kein Erkenntnisdefizit…

Es gibt mit dem Drei-Fraktionen-Vorschlag, Kappungsmodellen, der rangplatzorientierten personalisierten Verhältniswahl und dem umgekehrten Alternativ-Vote-Verfahren mehrere Lösungsvorschläge, die das Problem der Vergrößerung des Bundestags weitgehend oder ganz beseitigen würden. Alle diese Vorschläge wären fair, da sie keine Partei benachteiligen. Einige von ihnen wären darüber hinaus sehr zeitnah umzusetzen, ein Umstand, der vor dem aktuellen Hintergrund nicht unwichtig erscheint, da Neuwahlen schneller kommen könnten als 2021. Diese Vorschläge liegen auf dem Tisch, einer von ihnen, der Drei-Fraktionen-Vorschlag, als ausgearbeiteter Gesetzesentwurf. Es gibt daher keine Entschuldigung für eine weitere Untätigkeit des Bundestags! Eine weitere Verzögerung wäre fahrlässig und würde Fragen nach den Motiven aufwerfen. Es ist menschlich verständlich, dass auch Abgeordnete ihre eigenen Interessen verfolgen. Wenn diese Interessen aber so offenkundig dem öffentlichen Interesse entgegenstehen, gibt es eine Pflicht zur Setzung der angemessenen Gewichtung zwischen öffentlichen und eigenen Interessen.

 

Information über den Autor:

Joachim Behnke ist Inhaber des Lehrstuhls für Politikwissenschaft an der Zeppelin University Friedrichshafen.