Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Clausewitz lesen – aber wie? Plädoyer für eine genealogische Perspektive

Carl von Clausewitz (1780–1831) ist auch heute noch ein wichtiger Stichwortgeber in politikwissenschaftlichen und verteidigungspolitischen Debatten. Insbesondere seine Aussage, der Krieg sei eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, ist zu einem geflügelten Wort geworden. Allerdings wirkt es manchmal etwas befremdlich, wie die Gedanken des immerhin seit fast zwei Jahrhunderten toten preußischen Generals auf gegenwärtige theoretische und politische Probleme bezogen werden. In diesem Blog-Beitrag umreiße ich die gängigen Positionen zur „Aktualität“ von Clausewitz und plädiere für eine genealogische Lesart, die seinen Einfluss auf die politische Praxis der Gegenwart betont.

Zeitlose Wahrheiten oder eine veraltete Theorie?

Eine erste weit verbreitete Interpretationsweise geht naiv davon aus, dass sich in Clausewitz’ Werk zeitlose Wahrheiten über den Krieg finden lassen und wir es direkt auf gegenwärtige politische Probleme „anwenden“ können. Gemeinsam mit Thukydides, Machiavelli, Hobbes und einigen anderen Denker*innen hat Clausewitz dieser Interpretationsweise zufolge die wahre Natur der internationalen Politik als rationale Machtpolitik durchschaut. Seine Einsichten sollen deshalb für alle Kriege gelten, egal wann und wo sie stattfinden.

Eine zweite Interpretationsweise meint, dass Clausewitz’ Theorie des Krieges nur für eine bestimmte Epoche Gültigkeit habe: die westliche Moderne. Sie sei die Theorie eines Krieges, der zwischen Staaten und für die Zwecke einer eng verstandenen Staatsräson geführt wird. Insbesondere Mary Kaldor hat das Argument vertreten, dass die „neuen Kriege“ nach dem Ende des Ost-West-Konflikts deshalb nicht mehr mit Clausewitz verstanden werden können, weil an ihnen nicht-staatliche Akteure beteiligt sind, die nicht von rationalen Staatsinteressen, sondern ethnischen Animositäten und Habgier motiviert seien. Nach dieser Interpretation ist Clausewitz’ Theorie zeitgebunden – und heute nicht mehr aktuell.

Weder die naive ahistorische Lesart noch das Argument, Clausewitz sei nach dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr aktuell, werden der Komplexität Clausewitz’ Denken über den Krieg gerecht (siehe hierzu auch den Artikel von Daase und Schindler in der Politischen Vierteljahresschrift – PVS). Denn Clausewitz hat sich in den letzten Jahren seines Lebens intensiv mit der Frage beschäftigt, wie sich der historische Wandel des Krieges verstehen lässt. Aus nahe liegenden politischen Gründen hat ihn besonders der Übergang von den Kabinettskriegen des 18. zu den Volkskriegen des 19. Jahrhunderts interessiert. Allerdings geht er in seinen Überlegungen bis zu den „Tartaren“ und „Republiken der alten Welt“ zurück, die Krieg auf ihre eigene Weise und aus ganz unterschiedlichen Beweggründen geführt haben sollen. Der Vorwurf, seine Theorie sei nur auf moderne Staaten anwendbar, trifft also nicht zu. Eine genaue Lektüre offenbart zudem, dass für Clausewitz die Zwecke, zu denen Menschen Krieg führen, immer das Produkt der jeweiligen Zeit sind und somit nicht notwendigerweise auf eine im modernen Sinn verstandene Staatsräson begrenzt sein müssen.

Mit Clausewitz über Clausewitz hinaus

Liest man Clausewitz’ Ausführungen zum historischen Wandel des Krieges genau, eröffnet sich eine dritte Interpretationsweise. Denn dann kann man fragen, inwiefern sich mit seiner Theorie historische Prozesse auch über die Ereignisse, die Clausewitz zeit seines Lebens selbst beobachten konnte, hinaus verstehen lassen. In der deutschsprachigen Politikwissenschaft haben etwa Herfried Münkler und Christopher Daase in diesem Sinne Clausewitz weitergedacht; in jüngerer Zeit Felix Wassermann und Sebastian Schindler. Aus Sicht dieser Autoren können wir Clausewitz nicht einfach auf gegenwärtige Probleme anwenden. Vielmehr müssen wir „mit Clausewitz über Clausewitz hinaus“ (Herfried Münkler) denken, um die Transformationen der politischen Gewalt seit den Napoleonischen Kriegen und insbesondere die zunehmende Asymmetrie des Krieges seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs einordnen zu können. Dieser Interpretationsweise zufolge ist Clausewitz auch heute noch aktuell, weil er uns bestimmte Schemata bietet, wie etwa die Unterscheidung zwischen Mitteln, Zielen und Zwecken oder zwischen Taktik, Strategie und Politik. Diese sind zwar nicht zeitlos, aber wir können mit ihnen gegenwärtige Formen der politischen Gewalt gut analysieren.

Eine Genealogie des politischen Denkens

In einem Aufsatz, der bald in der PVS erscheinen wird, deute ich eine vierte Interpretationsweise an, die zwar mit den letztgenannten Versuchen, Clausewitz kreativ weiterzudenken, kompatibel ist, ihnen aber eine andere Wendung gibt. Aus dieser Perspektive betrachtet ist Clausewitz nicht einfach nur deshalb bedeutend, weil einige seiner Ideen heute noch analytisch anschlussfähig sind. Er ist vielmehr vor allem deshalb immer noch relevant, weil seine Ideen besonders wirkmächtig waren. Clausewitz hat als einer der ersten und mit besonderer Klarheit ein neues Paradigma des politischen Denkens artikuliert. Den Kern dieses Paradigmas bildet der instrumentelle Gebrauch von Gewalt zur Realisierung von Zwecken, die sich ein politischer Akteur gesetzt hat. Aus der von mir in meinem Aufsatz eingebrachten genealogischen Perspektive ist Clausewitz  deshalb wichtig, weil sein Denken eine der Sedimentschichten bildet, auf denen die Politik der Gegenwart ruht.

Aus dieser Perspektive betrachtet liegt die „Aktualität“ von Clausewitz’ Denken nicht darin, dass seine Theorie einfach so und ganz zufällig auf heutige Politik zutrifft. Vielmehr liegt sie darin, dass seine Theorie des Krieges oder, noch genauer, einige Ideen, denen diese Theorie Ausdruck verleiht, selbst einen Teil des Fundaments der Moderne bilden. Neuere Formen der politischen Gewalt wie etwa Guerillakriege, Terrorismus oder hybride Kriege lassen sich mit Clausewitz verstehen, weil diese Formen der politischen Gewalt selbst Ausdruck Clausewitzianischen Denkens sind. Wir sollten Clausewitz deshalb auch heute noch lesen, weil wir durch die Lektüre einiges über uns selbst erfahren – darüber, wie in unserem Denken Politik und die Möglichkeit von Gewalt beinahe untrennbar miteinander verbunden sind.

 

Über den Autor:

Tobias Wille ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungszentrum “Normative Ordnungen” der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

 

Die Arbeit an dem Aufsatz, der diesem Blog-Beitrag zugrunde liegt, wurde durch die EU-Kommission im Rahmen des Marie Sklodowska-Curie Global Fellowships DIPLOWAR (#792932) gefördert.