Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Wer den Sozialstaat verteidigt, kürzt Leistungen besonders stark. Zur Wirkung von Parteien auf sozialstaatliche Reformpolitik

Die Literatur zur wohlfahrtsstaatlichen Reformpolitik hat sich in den letzten Jahrzehnten ausgiebig mit der Frage beschäftigt, welche Parteien sozialstaatliche Kürzungspolitik betreiben. Während Paul Piersons Pionierstudie zu den „New Politics of the Welfare State“ nahelegt, dass die Unterschiede zwischen den Parteien verschwinden, haben andere Arbeiten Anzeichen für die Persistenz von „old politics“ gefunden – also den traditionellen Befund, wonach sozialdemokratische Regierungen den Sozialstaat ausbauen, oder zumindest weniger stark zurückbauen als konservative Parteien. Im Gegensatz dazu argumentiert eine dritte Gruppe von Studien, dass der Umkehrschluss gilt: Gerade weil sozialdemokratische Parteien von den Bürgern als traditionelle Bewahrer des Sozialstaats wahrgenommen werden, könnten sie es eher leisten, wohlfahrtsstaatliche Kürzungspolitik zu betreiben, ohne an den Wahlurnen abgestraft zu werden (Nixon-in-China-These).

„Old politics” vs. „new politics“

Bis heute ist nicht entschieden, welche dieser Thesen zutrifft. Dies hängt mit unterschiedlichen methodischen Zugängen und unterschiedlichem Datenmaterial zusammen. So wurde die These der „old politics“ etwa in quantitativen Studien mit großer Fallzahl bestätigt, die untersuchen, wieviel sozialstaatliche Leistungen (z.B. Arbeitslosengeld) eine bestimmte Modellfamilie erhält (z.B. Vierpersonen-Haushalt mit zwei Kindern und einem Verdienst). Zu ähnlichen Resultaten kommen Analysen von Kompositindikatoren, die Angaben zur Höhe der Leistungen, der Leistungsdauer oder den Bezugskriterien zusammenführen. Im Gegensatz dazu finden Untersuchungen von Sozialausgabenquoten oder qualitative Fallstudien gegen die „old politics“. Sie sprechen eher für ein Verschwinden von Parteieneffekten oder, in Einzelfällen, sogar für die Nixon-in-China-These.

Ein neuer Forschungsansatz

Mit einem neuen Datensatz versuchen wir nun, etwas mehr Licht in das Dunkel dieser andauernden Debatte zu bringen. Anstatt erneut Kompositindikatoren und Sozialausgaben zu analysieren oder qualitative Einzelfallstudien durchzuführen, haben wir Daten zur Gesetzgebung im Bereich der Rentenversicherung und der Arbeitslosenversicherung gesammelt und kodiert. Konkret berücksichtigen wir 1) welche Instrumente in einem bestimmten Gesetz geändert wurden (z.B. Bezugsdauer, Leistungshöhe, Bedürftigkeitsprüfung,…)  und 2) ob durch die Veränderung der Sozialsaat gekürzt oder ausgebaut wurde. Fasst man die Daten auf Monatsbasis zusammen und errechnet den Saldo (d.h. die Nettoveränderung), ergibt sich für Deutschland ein sehr nuanciertes Bild von Ausbau und Rückbau des Sozialstaats (Abbildung 1). Es zeigt sich, dass in allen Zeitperioden Rückbau und Ausbau stattfand, gleichzeitig aber bestimmte Phasen – etwa die ersten Jahre der Kohl-Regierung, das Ende der Kohl-Ära, aber auch die zweite Schröder-Regierung – durch eine etwas stärkere Betonung von Rückbau gekennzeichnet ist. Gleichzeitig überwiegen in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre als auch in den Regierungsjahren von Angela Merkel die ausbauenden Ereignisse.

Abbildung 1: Ausgabenentwicklung im Sozialstaatssektor

Je sozialstaatsfreundlicher, desto größere Einschnitte

Besonders spannend ist freilich die Frage, welche Muster sich hinsichtlich der Regierungsbeteiligung von Union und SPD abzeichnen. Hier gibt der Fall Deutschland eine eindeutige Antwort: In unseren Regressionsanalysen (statistische Überprüfung theoretisch angenommener Zusammenhänge - Abbildungen 2) finden wir einen bedeutsamen parteipolitischen Effekt, wonach sozialstaatlicher Kürzungspolitik umso wahrscheinlicher ist, je wohlfahrtsstaats-freundlicher die ideologische Position der Regierung ausfällt.

Abbildung 2: Parteipolitische Effekte

Sozialdemokratie kürzt, Christdemokratie baut aus

Auf Parteifamilien übertragen bedeutet dies, dass eine Regierungsbeteiligung der CDU zu wohlfahrtsstaatlichem Ausbau führt, während die Beteiligung der SPD eher mit Kürzungspolitik einhergeht. Konkret: Gewinnen Grüne oder SPD einen Kabinettssitz hinzu, steigt die Chance einer Kürzung um 1,4 Prozent. Unsere Ergebnisse lassen sich in einer historischen Betrachtung gut mit der Haushaltssanierungspolitik der sozialdemokratischen Regierungen Schmidt infolge der Ölkrisen und mit den Arbeitsmarktreformen der Regierung Schröder erklären. Der positive Effekt für christdemokratische Regierungen erscheint vor dem Hintergrund der eher expansiven Politik der Regierungen Merkel und Kohl (von einigen Ausnahmen zu Beginn der 1980er- und Mitte der 1990er-Jahre abgesehen) ebenso plausibel. Gleichzeitig zeigen unsere Analysen, der parteipolitische Effekt hängt auch von der Haushaltssituation ab: Bei einem Überschuss sind Kürzungen unabhängig von der ideologischen Position der Regierung sehr unwahrscheinlich und Expansionen sehr wahrscheinlich. Nur im Defizitfall tritt der Parteieneffekt zu Tage und es sind die wohlfahrtsstaatsfreundlicheren Parteien, die in diesem Fall mit einer höheren Wahrscheinlichkeit Kürzungspolitik umsetzen.

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