Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Welches Wahlsystem wollen Wähler?

Stimmzettel ist nicht gleich Stimmzettel. Jeder Bürger, der sich regelmäßig an Wahlen beteiligt, stellt fest, dass sich die Stimmabgabe und Auswahloptionen bei Kommunal-, Landtags-, Europa- und Bundestagswahlen erheblich voneinander unterscheiden. Manchmal kann man mit nur einer Stimme eine Partei wählen, manchmal wählt man mit jeweils einer Stimme eine Person und eine Parteiliste und bei anderen Wahlen verteilt man zahlreiche Stimmen auf Kandidaten und/oder Parteien.

Diese Unterschiede im Wahlakt werden dadurch hervorgerufen, dass Wahlsysteme versuchen, verschiedene Funktionen gleichzeitig zu erfüllen. Manche Wahlsysteme zielen bspw. darauf ab, einen gewissen Grad der Personalisierung zu erreichen: Wähler sollen die Möglichkeit bekommen, Personen zu wählen und nicht nur Parteilisten. Gleichzeitig sollen Wahlsysteme nicht zu komplex sein: Alle Wähler sollen in der Lage sein zu verstehen, wie sie ihre Stimme korrekt abgeben können. Das Problem besteht darin, dass es Zielkonflikte zwischen den einzelnen Anforderungen gibt, die es unmöglich machen, ein Wahlsystem zu entwerfen, das alle wünschenswerten Eigenschaften gleichzeitig erfüllt. Solche Zielkonflikte lassen sich bei vielen Wahlsystemeigenschaften finden. So sollen Wahlsysteme einerseits die politischen Präferenzen der Bevölkerung möglichst genau abbilden (Sitzanteile von Parteien im Parlament sollen möglichst proportional zu deren Stimmanteilen bei Wahlen sein), andererseits soll ein Wahlsystem dafür sorgen, dass klare Mehrheitsverhältnisse geschaffen werden. Letzteres ist in der Regel jedoch einfacher zu erreichen, wenn die Wählerpräferenzen nicht vollständig proportional im Parlament abgebildet werden müssen. Stellt man also die Frage, wie ein Wahlsystem optimal auszugestalten ist, kann man hierauf keine Antwort finden, ohne normativ die verschiedenen an Wahlsysteme gerichteten Funktionen in ihrer Relevanz zu gewichten.


Technischer Expertendiskus oder Wahlsystempräferenzen der Wähler?

Nun ist die konkrete Ausgestaltung von Wahlsystemen unzweifelhaft eine komplexe Aufgabe, deren technische Einzelheiten mitunter sogar von Experten nur schwer zu durchdringen sind. Vor diesem Hintergrund kann kaum gefordert werden, dass Bürger als Laien eine solche Aufgabe lösen sollen. Umgekehrt ist es aber gerade die Bevölkerung, die ihre Macht mit Wahlen auf Zeit an Repräsentanten abgibt. Die Art und Weise des Machttransfers sollte also nicht am Wähler vorbei entschieden werden. So scheint es geboten, Einzelheiten der Ausgestaltung von Wahlsystemen zwar Experten zu überlassen. Dies kann und sollte aber im Lichte der Präferenzen der Bevölkerung geschehen.


Wie misst man Wahlsystempräferenzen?

Auf einer allgemeineren Ebene lassen sich generelle Vorzüge und Nachteile einzelner Wahlsystemtypen durchaus diskutieren. Wie bei allen politischen Fragen kann man auch bei unserem Gegenstand nicht erwarten, dass jeder Bürger alle Fragen durchdringt. Formuliert man aber Ansprüche an Wahlsysteme etwa wie folgt: „Nach Wahlen ist manchmal direkt klar, ob eine Partei oder ein bestimmtes Lager gewonnen hat und die Regierung stellen kann. Das Wahlsystem kann beeinflussen, wie wahrscheinlich oder unwahrscheinlich eine klare Regierungsmehrheit ist“, sollte eine hinreichende Anzahl von Bürgern in der Lage sein einzuschätzen, als wie wichtig sie die Eindeutigkeit klarer Regierungsmehrheiten im Vergleich zu anderen Wahlsystemeigenschaften einschätzt.

Aus diesem Grund haben wir untersucht, welche Funktionen von Wahlsystemen Bürgern besonders wichtig sind. Dazu nutzen wir ein Conjoint-Experiment: Die Befragten werden mit zwei unterschiedlichen Wahlsystemen konfrontiert, die sich anhand von verschiedenen Eigenschaften unterscheiden. Die Befragten geben dann an, welches der beiden hypothetischen Wahlsysteme sie bevorzugen. Die Ausprägungen der Eigenschaften der Wahlsysteme werden zufällig variiert. Mit diesem Vorgehen können wir die relative Wichtigkeit der einzelnen Eigenschaften ermitteln. Das Experiment haben wir im September 2017 kurz vor der Bundestagswahl mit rund 1000 Befragten als Online-Umfrage durchgeführt. Die Befragten wurden so ausgewählt, dass sie hinsichtlich zentraler Kriterien repräsentativ für die deutsche Wahlbevölkerung sind.

Quelle: Jankowski, Linhart & Tepe (2019: 233)


Welche Wahlsystemeigenschaften bevorzugen die Wähler?

Die Ergebnisse sind in der Abbildung dargestellt. Diese ist wie folgt zu interpretieren: Für jede Eigenschaft (bspw. Proportionalität) gibt es mehrere Ausprägungen, wovon eine die Referenzkategorie (bspw. Proportionalität nicht garantiert) darstellt. Die anderen Ausprägungen weichen von der Referenzkategorie ab. Zum Beispiel liegt der Wert für Proportionalität immer garantiert bei rund 0,17. Dieser Wert bedeutet, dass die Befragten ein ansonsten identisches Wahlsystem mit einer um 17 Prozentpunkten höheren Wahrscheinlichkeit auswählen, wenn es Proportionalität immer garantiert, als wenn es dies nicht tut. Unsere Befunde zeigen, dass Proportionalität mit den höchsten Werten eine herausgehobene Stellung innehat, dass aber grundsätzlich alle Kernfunktionen als wichtig angesehen werden. Zwei Empfehlungen lassen sich aus den Ergebnissen ableiten: 1. Erhalt des aktuellen Wahlsystems mit seinem Fokus auf Proportionalität. 2. Beibehaltung von konzentrierenden Elementen wie die Fünf-Prozent-Sperrklausel.



Quelle: Jankowski, Michael, Eric Linhart und Markus Tepe (2019) Welches Wahlsystem wollen die Wähler? Evidenz von einem Conjoint-Experiment, Politische Vierteljahresschrift 60(2): 221–243.

 

 

Michael Jankowski ist Postdoc an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Seine Forschungsinteressen liegen in der Anaylse von Wahlsystemen, descriptive and substantive representation, legislative behavior und experimental methods.


Eric Linhart ist Inhaber der Professur „Politische Systeme“ an der Technischen Universität Chemnitz. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen politisches System der Bundesrepublik Deutschland, Wahlverhalten und Wahlsysteme, Parteien, Parteifamilien und Parteiensysteme, Koalitionstheorien und Regierungsbildung, Interessengruppen und Lobbying sowie Entscheidungs- und Spieltheorie.


Markus Tepe ist Inhaber der „Professur Politisches System Deutschlands“ an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Seine Forschungsschwerpunkte konzentrieren sich auf die Bereiche political decision making in comparative public policies, behavioral public administration, political sociology und social science research methods.