Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Warum es sich lohnt, die diskursive Konstruktion von Solidarität zu analysieren

Solidarität ist eines der Schlagworte europäischer Politik. Ob Eurokrise, Brexit oder europäische Migrationskrise, der Ruf nach Solidarität wird vielfach in der Öffentlichkeit geteilt. Dabei zeigen Studien zu den Krisen, dass Solidarität in der Krisenbewältigung fehlt. Was heißt also Solidarität und wie verstehen politische und gesellschaftliche Akteure Solidarität in Krisenzeiten?

Die bisherige Forschung zu Solidarität widmete sich vornehmlich der strukturellen (Makro-) und individuellen (Mikro-)Ebene von Solidarität und vernachlässigte die Diskursebene und die diskursive Konstruktion von Solidarität (Meso).

 

Solidarität: Makro-, Mikro-, Meso-Perspektiven

Die Makro-Perspektive fokussiert auf den nationalen Wohlfahrtsstaat und versteht diesen als Form institutionalisierter Solidarität. Die Sozialversicherung wird beispielsweise als Verteilungs- und Ausgleichungsmechanismus verstanden, der für alle verpflichtend ist und nicht auf persönlichen Beziehungen beruht. Diese so geschaffenen Strukturen und Institutionen werden als soziale Solidarität verstanden. Eine erfolgreiche und effektive Transnationalisierung sozialer Solidarität (z. B. in der EU) wird eher skeptisch betrachtet.

Die Mikro-Perspektive betont das Verhalten und die Einstellungen von Individuen und kollektiven Akteuren, um ein soziales Band zwischen den Akteuren zu identifizieren. Studien demonstrieren dahingehend eine Hierarchie der Solidarität, bei der bestimmten sozialen Gruppen (ältere Menschen, physisch/psychisch beeinträchtigten Personen) eher Sozialleistungen gewährt würden als anderen (Arbeitslose, MigrantInnen). Solidarität wird zumeist nur konditional gebilligt. Im europäischen Kontext wurde darauf hingewiesen, dass transnationale Erfahrungen und Interaktionen von europäischen BürgerInnen sowie die Befürwortung von kultureller Diversität und Toleranz die europäische Solidarität befördern würden.

Die Makro- und Mikroperspektive teilen das Interesse an sozialer Solidarität als Form der Umverteilung. Jedoch legen sie weniger Wert auf die Frage, welche Bedeutung Akteure Solidarität zuschreiben, obwohl die Frage, was Solidarität bedeutet, keineswegs unumstritten ist.

 

Die diskursive Konstruktion von Solidarität

Ich schlage vor, die diskursive Konstruktion von Solidarität als Meso-Ebene ergänzend zur Makro- und Mikro-Ebene zu berücksichtigen. Die Meso-Ebene setzt sich aus zwei Dimensionen zusammen: der Bedeutung von Solidarität und der Reichweite von Solidarität. Während erstere auf den Inhalt von Solidarität fokussiert, definiert letztere die Mitglieder einer Solidargemeinschaft. Beide Dimensionen können (theoretisch) frei kombiniert werden und bilden Solidaritätskonzepte. Zum Beispiel kann sich Solidarität auf die genannten sozialpolitischen Maßnahmen beziehen, womit der Inhalt soziale Solidarität wäre. Diese könnte sowohl national verstanden werden, so wie es die Makro-Perspektive vorschlägt, als auch transnational in Form einer Forderung nach einer europäischen Arbeitslosenversicherung. Aus einer Diskursperspektive heraus können verschiedene Bedeutungen und Reichweiten von Solidarität untersucht werden, um empirisch zu prüfen, welche Konzepte von Solidarität im Diskurs mehr oder weniger präsent sind.

Der Meso-Ansatz wurde auf die öffentliche Solidaritätsdebatte in Deutschland zur europäischen Migrationskrise angewendet, um dessen Tragfähigkeit und Plausibilität zu prüfen. Dafür wurden zwei Qualitätsmedien (Süddeutsche Zeitung und Die Welt) im Zeitraum von 2010 bis 2015 ausgewählt und inhaltsanalytisch kodiert.


Solidarität in der europäischen Migrationskrise

Zwei zentrale Erkenntnisse aus der empirischen Überprüfung des Meso-Ansatzes lassen sich ziehen: Erstens nutzen Akteure eine relativ große Vielfalt an Solidaritätskonzepten und fordern Solidarität nicht nur im Rahmen sozialpolitischer Maßnahmen. Vielmehr ist die Forderung nach politischer Solidarität, also die Schaffung kooperativer und solidaritätsorientierter Regelungen und Mechanismen sehr sichtbar im Diskurs. Diese Bedeutung von Solidarität wird mit der intergouvernementalen Ebene der EU verknüpft, indem es vor allem um politische Solidarität in der EU zwischen den Mitgliedsstaaten geht. Der Vorschlag der EU-Kommission nach einem EU-Solidaritätsmechanismus zur Umverteilung von registrierten Flüchtlingen aus Griechenland und Italien auf andere Mitgliedsstaaten im September 2015 bildet den Höhepunkt des Diskurses.

Zweitens demonstriert der Fokus auf die politische Solidarität die gleichzeitige politische Dimension der europäischen Migrationskrise. Die asymmetrisch entwickelte Migrations- und Asylpolitik in der EU zielt wenig auf das Solidarprinzip, obwohl dieses fest im Lissabonner Vertrag verankert ist. Das Dublin-Übereinkommen bürdet den EU-Grenzländern sehr viel (einseitige) Verantwortung beim Umgang mit Asylsuchenden auf. Die Aufnahme von hunderttausenden Flüchtlingen im Sommer 2015 durch Deutschland hat in der deutschen Öffentlichkeit die Wahrnehmung für eine unzureichende Asyl- und Migrationspolitik auf europäischer Ebene offengelegt.

Nach 2015 entfernte sich die EU-Asylpolitik sukzessive von einer solidarischen Politik. Zudem wurde der EU-Solidaritätsmechanismus trotz Mehrheitsbeschluss im Europäischen Rat im September 2015 in vielen Ländern nur schleppend umgesetzt. Und die Entscheidung des italienischen Innenministers Matteo Salvini (Lega), keinerlei private Seenotrettungsboote in italienischen Häfen anlanden zu lassen verdeutlicht, wie umstritten jegliche Form einer solidarischen Asylpolitik in der EU ist.

Zusammenfassend werden zwei Punkte festgehalten. Erstens wird Solidarität diskursiv angerufen und von unterschiedlichen Akteuren mit verschiedenen Bedeutungen gefüllt. Damit ergänzt die Meso-Perspektive die bisherige Solidaritätsforschung und bietet einen neuen Blick für die zukünftige Analyse von Solidarität. Zweitens zeigt sich, dass die Debatte um die Frage, was man unter Solidarität versteht, welche Bedeutung Akteure Solidarität zuschreiben und wie Solidarität als Legitimationsquelle für politische Auseinandersetzungen und für die Mobilisierung der Öffentlichkeit dient, gerade erst begonnen hat. Eine zentrale Frage für die zukünftige Forschung ist daher, inwiefern und unter welchen Bedingungen die öffentliche Anrufung von Solidarität und solidarische Maßnahmen und Handlungen konvergieren oder divergieren.


Blog basiert auf einem Artikel in Political Studies

 

 

Stefan Wallaschek, Ph.D., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsverbund SOLDISK des Institutes für Sozialwissenschaft – Politikwissenschaft der Universität Hildesheim. Seine Forschungsinteressen liegen in den Theories of Solidarity, Political Communication, European Politics, Migration and Refugee Studies, Discourse Network Analysis und Contemporary Political Theory.