Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Vorhänge auf, Manuskripte weg: Symbole, Macht und Wandel im UN-Sicherheitsrat

Seit dem 1. April leitet Deutschland den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. In seiner noch kurzen Amtszeit hat der neue Vorsitzende bereits für produktive Irritation und für Schmunzeln gesorgt: In einer Sitzung forderte Botschafter Christoph Heusgen die Kollegen auf, die vorbereiteten Stellungnahmen zur Seite zu legen und konkrete Schritte mit Blick auf die Situation im Gaza-Streifen zu diskutieren; er stellte demonstrativ eine große Sanduhr auf den Tisch, die die Redner disziplinieren soll; und er zog die Vorhänge auf und ließ Tageslicht in den Sitzungssaal, von dem viele nicht einmal wussten, dass er Fenster hat. Die Symbolik ist unmissverständlich – Handlungswille, Bestimmtheit und Transparenz sind die Signale, die Deutschland insbesondere während der Zeit seines Vorsitzes in diesem April aussenden will. Ist dies nur eine kreative, aber wirkungslose Reaktion auf die formale Machtlosigkeit, die Deutschland als nicht-ständigem Sicherheitsratsmitglied ohne Vetorecht so häufig attestiert wird? Oder bergen solche Gesten Potential für Wandel, und zwar nicht nur in der Bearbeitung tagesaktueller weltpolitischer Probleme, sondern auch in der Struktur dieses Gremiums, dessen Reform seit fast drei Jahrzehnten immer wieder, jedoch ohne Ergebnis, diskutiert wird?

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Ich will hier nicht Deutschlands inhaltliche Agenda für die zweijährige Mitgliedschaft, die im Januar begann, kommentieren, sein Streben nach einem ständigen (deutschen oder europäischen) Sitz bewerten oder die Erfolgsaussichten der unterschiedlichen Reformmodelle einschätzen. Vielmehr geht es mir darum, aus dem breiten theoretischen Spektrum der Internationalen Beziehungen einige Ansatzpunkte herauszugreifen, um mich der Frage nach den Möglichkeiten des Wandels im Sicherheitsrat zu nähern und sowohl das Ausbleiben von Wandel zu verstehen als auch Optionen zu identifizieren, die ihn möglich machen könnten. Dabei konzentriere ich mich auf zwei Aspekte: die Ausdifferenzierung des Macht- und des Wandelbegriffs sowie die Herleitung von Bedingungen für Wandel aus der Institutionen- und aus der Normenforschung.

Auf den ersten Blick macht die theoretische Komplexität und Vielfalt, derer sich die Internationalen Beziehungen heute zurecht rühmen können, vor dem Sicherheitsrat halt: Der Realismus erklärt uns befriedigend, dass und warum die ständigen Mitglieder (P5) genauso wenig auf ihr Vetorecht verzichten wie auf ihre Nuklearwaffen, warum sie dieses Veto nutzen, um in bestimmten Situationen kollektives Handeln zu verhindern, und dass die bisherigen Reformbemühungen an Machtrivalitäten gescheitert sind, ja scheitern mussten. Vor dem Hintergrund des realistischen Paradigmas ist weder die herausragende Verantwortung für den Frieden überraschend, die die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges dem Sicherheitsrat, und damit sich selbst, zuschrieben – noch das regelmäßige eklatante Versagen des Organs bei der Wahrnehmung seiner Verantwortung. Und doch greift diese Betrachtungsweise, die im Übrigen auch die öffentliche Diskussion um Sicherheitsratsbelange dominiert, aus verschiedenen Gründen zu kurz.

Die unterschätzte Macht von Diskursen

Sie basiert erstens auf einem verengten Verständnis von Macht als Macht zur Durchsetzung staatlicher Interessen (wiederum verengt auf ihre materielle Dimension) und vernachlässigt die institutionelle und produktive Macht des Sicherheitsrates und seiner Mitglieder. Die institutionelle Macht speist sich aus der Autorität des Organs und seinen umfassenden Kompetenzen in der Aufrechterhaltung und Wiederherstellung des Friedens. So dramatisch und fatal jede einzelne Situation ist, in der bestimmte Mitgliedsstaaten den Sicherheitsrat an der Ausübung seiner friedenswahrenden Kompetenzen hindern, so geboten scheinen mir dennoch zwei Hinweise. Wichtig ist zunächst, dass der Sicherheitsrat ein deutlich komplexeres institutionelles Gebilde ist als der Dauerfokus auf seine fünf ständigen Mitglieder suggeriert. Denn er umfasst neben diesen auch die nicht-ständigen Mitglieder, deren Stimmen für die Entscheidungsfindung ebenfalls unerlässlich sind, und ist, in verschiedenen Formaten, zugänglich für die übrigen Mitglieder der UN. Außerdem ist der Sicherheitsrat trotz der für ihn konstitutiven institutionellen Ungleichheit in der Lage, seine Kompetenzen routinemäßig wahrzunehmen: Er tritt zu Beratungen zusammen, verabschiedet Resolutionen, die Konfliktparteien zur Einstellung gewaltsamer Handlungen auffordern, verhängt Sanktionen gegen normbrechende Staaten, setzt Straftribunale gegen Kriegsverbrecher ein, und er mandatiert die Friedensmissionen.

All dies sind Ausdrücke der produktiven Macht, welche allerdings neben den genannten konkreten und nicht selten auch sichtbaren und fühlbaren Maßnahmen eine weitere, und gerade mit Blick auf den Wandel wesentliche, Komponente hat: den Diskurs. Nicht nur mit seinen Entschließungen, sondern auch mit seinen Diskussionen stiftet der Sicherheitsrat Bedeutungen. Er fungiert als Ort der Kontestation, an dem seine Mitglieder kontinuierlich Begriffe, wie beispielsweise Verantwortung, neu definieren oder ihr Verständnis davon erweitern, was eine Bedrohung internationalen Friedens darstellt, wenn sie darin massive Menschenrechtsverletzungen, den Klimawandel oder die Sicherheit von Individuen einschließen. Damit entwickelt er nicht bloß seine Zuständigkeiten fort und schafft, durch Handeln oder Nicht-Handeln, materielle Konsequenzen, sondern er verändert damit zugleich das normative Fundament des internationalen Systems. Dieses Fundament wiederum strukturiert zukünftige Handlungen – des Sicherheitsrates selbst, aber auch anderer Akteure.

Nichtstaatliche Akteure gewinnen Einfluss

Zweitens gilt es zu sehen, dass sich auch im Sicherheitsrat – wenn auch unterhalb der Schwelle der Veränderung seiner Mitgliedschaft und der Stimmrechte – dennoch stetig, wenn auch inkrementell, institutioneller Wandel vollzieht. Die wichtigste Veränderung ist die zaghafte, aber doch voranschreitende Öffnung dieses klassisch zwischenstaatlichen Organs für nicht-staatliche Akteure und für Nicht-Mitglieder. Sie zeigt sich zum einen im sogenannten Arria-Format, nach dem sich der Sicherheitsrat in einer informellen Sitzung von eingeladenen Expert/innen, den Vertretern anderer Mitgliedsstaaten oder internationaler Organisationen zu bestimmten Themen briefen lassen kann. Zum anderen zeigt sie sich im regelmäßigen Austausch der Vorsitzenden und anderer Mitglieder des Sicherheitsrates mit Nicht-Regierungsorganisationen.

Seit das Gremium Mitte der 1990er Jahre begonnen hat, seine Arbeitsmethoden und Entscheidungsfindungspraktiken regelmäßig zu thematisieren, sind noch mehr institutionelle Innovationen erkennbar: Zu den kleineren zählt dabei die tagesaktuelle öffentliche Bereitstellung von Stellungnahmen, Vermerken und Tagesordnungen, die durch das Internet möglich gemacht wurde; zu den größeren die Zirkulation von Dokumenten im Entwurfsstadium an Nicht-Mitglieder und das generelle Bemühen, anderen UN-Mitgliedsstaaten und der Öffentlichkeit zeitnah relevante Informationen über seine unmittelbaren oder von ihm mandatierten Aktivitäten wie Sanktionen oder Friedensoperationen bereitzustellen. Ein Treiber weiterer Veränderungen ist die von der Schweiz angeführte „Accountability, Coherence, Transparency“-Gruppe, die sich u. a. dafür einsetzt, dass sich die ständigen Mitglieder zur Zurückhaltung beim Vetogebrauch selbstverpflichten und dass die Inklusivität bei der Entscheidungsfindung weiter erhöht wird. In diesem Kontext sehe ich auch die eingangs erwähnten Aktionen Deutschlands: Ohne Mitglied dieser aus 27 mittleren und kleineren Staaten bestehenden Gruppe zu sein, hat sich die Bundesrepublik im Rahmen ihrer Mitgliedschaft im Sicherheitsrat als Unterstützer der Gruppenziele positioniert, und zwar sowohl durch das erklärte Ziel, die Konfliktprävention zu stärken als auch durch die Transparenzsymbolik.

Normen können sich ändern

Drittens, und abschließend, will ich unter Rückgriff auf Erkenntnisse aus der Normenforschung skizzieren, wie Wandel auch in der grundsätzlichen Reformfrage nach der Zusammensetzung des Sicherheitsrates und der Beanspruchung des Vetorechts möglich sein könnte. Die Situation im Sicherheitsrat, geprägt von scheinbar unüberwindbaren Machtinteressen, mag ein Extremfall sein – ein Einzelfall ist sie jedoch nicht. Genau an solchen hard cases aus dem Sicherheitsbereich hat die Normenforschung mehrfach gezeigt, dass staatliche Interessen redefiniert werden können, dass Angemessenheitserwägungen staatliches Handeln ebenso motivieren können wie handfeste materielle Interessen und dass Staaten durchaus für normative Argumente zugänglich sind. Das mag zumindest mit Blick auf einige der ständigen Mitglieder derzeit wie blanker Hohn klingen. Und doch können wir aus der Normenforschung nicht nur einen grundsätzlichen Optimismus schöpfen, dass normativer Wandel möglich ist, sondern auch destillieren, welche Faktoren dafür notwendig sind – wodurch wiederum offenkundig wird, dass viele dieser Faktoren im Fall des Sicherheitsratsreform fehlen und gezielt hergestellt werden müssten.

Zwar gibt es durchaus Normunternehmer/innen, wie die unterschiedlichen Staatengruppen, die sich für verschiedene Reformmodelle eingesetzt haben und es heute weiterhin tun. Doch hier fehlt es bereits an Einigkeit in den Positionen und folgerichtig auch an einer gemeinsamen Strategie. Besonders augenfällig ist jedoch das Fehlen einer zivilgesellschaftlichen Kampagne. Einzelne Pro-Reform-Initiativen gibt es durchaus, z. B. Elect the Council – eine Breitenwirkung ist jedoch nicht zu erkennen, was sicherlich auch an der Nicht-Beteiligung zivilgesellschaftlicher Gatekeeper liegt. Wo wiederum Gatekeeper wie Human Rights Watch und Amnesty International beteiligt sind, wie in der NGO Working Group on the Security Council, sind substanzielle Erfolge bei der Platzierung einiger Themen (etwa Kinder in bewaffneten Konflikten) und prozedurale Erfolge bei der Förderung regelmäßigen Austausches mit der Zivilgesellschaft zu verzeichnen – doch die strukturelle Reform des Sicherheitsrates ist nicht auf deren Agenda.

Zivilgesellschaftlicher Druck ist notwendig

Das Fehlen zivilgesellschaftlicher Normunternehmerschaft hat weitreichende Folgen für drei weitere Faktoren: Framing, sozialer Druck und Überzeugung. So ist die Debatte um die Zusammensetzung des Sicherheitsrates stark durch das Argument der mangelnden Repräsentativität im Lichte heutiger Machtverhältnisse geprägt – was es allerdings bräuchte, wäre eine emotionalisierende und ethische Neuausrichtung dieses Diskurses. Obwohl die P5 sehr wohl unter sozialem Druck stehen, ist dies vor allem punktuell aufgrund ihrer Entscheidungsunfähigkeit in konkreten Situationen der Fall. Hingegen hat der Druck, strukturelle Veränderungen zuzulassen, im Laufe der Jahrzehnte und insbesondere nach dem Scheitern der letzten vielversprechenden Reformbemühung Mitte der 2000er Jahre aufgrund von Resignation nachgelassen. Überzeugung würde ein institutionelles Setting voraussetzen, das einen rationalen Diskurs ermöglicht. Solch ein Setting ist zwar auch in dieser Angelegenheit denkbar – doch um Wandel zu befördern und die Sicherheitsratsreform wieder salient werden zu lassen, muss ein neuer, professionell und idealerweise zivilgesellschaftlich koordinierter Reformanlauf nach dem Modell bisheriger erfolgreicher Kampagnen genommen werden.

Autorin: Elvira Rosert ist Juniorprofessorin für Internationale Beziehungen an der Universität Hamburg und am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Sie hat gemeinsam mit Tanja Brühl ein Buch über die Vereinten Nationen geschrieben und sich in ihrem neuen Buch mit der Ermöglichung und Verhinderung normativen Wandels in den internationalen Beziehungen befasst.