Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Die Europäische Kommission: politischer, vielfältiger und schwächer?

Autorin: Miriam Hartlapp

Der Erfolg vergangener Kommissionen wurde meist daran bemessen, ob es ihnen gelang, Antworten auf aktuelle Herausforderungen der Integration zu finden und die Union zu erweitern und zu vertiefen. Folgt man diesen Maßstäben, dann ist es um den Erfolg der Juncker Kommission nicht gut bestellt. Brexit, Migration und Eurokrise stellen die Union weiterhin vor ungelöste Herausforderungen. Und auch wenn wir einräumen, dass diese Herausforderungen ungleich größer sind, als es die Herausforderungen früherer Phasen der Integration waren, so bleibt doch der Eindruck, dass Initiativen wie die „Säule Sozialer Rechte“ oder die Zukunftsszenarien im Weißbuch 2017 kein Agenda-Setting für Erweiterung oder Vertiefung waren. Neben den besonderen Herausforderungen, so argumentiert dieser Blogbeitrag, können auch individuelle Merkmale der Kommissar*innen die geringen Erfolge der Kommission erklären. Steigende Politisierung und ideologische Vielfalt in der Kommission stehen im Widerspruch zu der historischen Rolle, die die Kommission im politischen System der EU einnahm. Eine dynamische Gestaltung der Europäischen Union durch die Kommission ist damit auch unter der neuen Kommissionspräsidentin von der Leyen nicht zu erwarten – nicht obwohl, sondern gerade weil ihre Kommission politischer und vielfältiger daherkommt als je zuvor.

Formal hat die Kommission im politischen System der EU zwei Aufgaben: Sie ist als Agenda-Setzerin mit einem Quasimonopol zur Initiative von Gesetzen ausgestattet (Art. 17.2 EUV). Alle Gesetzesinitiativen, die im inter-institutionellen Prozess zwischen den Organen zur Entscheidung kommen, werden vom College der Kommissare, dem höchsten Entscheidungsgremium in der Kommission, angenommen. Damit bestimmt die Kommission wesentlich den inhaltlichen Korridor, in dem sich die Entscheidungsfindung zwischen den Institutionen bewegt. Zudem überwacht sie als „Hüterin der Verträge“ die Implementation (Art. 17.1 EUV). Individuelle Merkmale der Kommissare können direkt Einfluss auf substanzielle Politikpositionen nehmen, sie beeinflussen aber auch die Fähigkeit der Kommission, als kollektiver Akteur Politik zu gestalten.

Historisch konnte die Kommission dann Politik gestalten, wenn es ihr gelang, im inter-institutionellen Prozess gegenüber Rat und Parlament mit einer Stimme zu sprechen und durch geschickte Verhandlungen Entscheidungen möglich zu machen. Große ideologische Heterogenität im College der Kommissar*innen sollte es schwieriger machen, im Agenda-Setting und bei strittigen Implementationsfragen mit einer Stimme zu sprechen. Und eine politische Aufwertung der Kommissars Posten könnte auf Kosten der neutralen Vermittlerrolle als einflussreiche Vermittlerin gehen.


Zunehmende Politisierung der Kommission

In der Forschungsliteratur ist es unüblich, die Europäische Kommission als (partei)politisch orientierten Akteur zu betrachten. Formal sind die Kommissar*innen unabhängig, weshalb in den Integrationstheorien das Bild einer non-majoritären Institution dominiert, in der Neutralität als der Schlüssel zur effektiven Steuerung verstanden wird. Empirisch zeigt sich hingegen, dass die Kommission zunehmend politisiert ist. Analytisch können wir zwei Dimensionen dieser politischen Natur unterscheiden: einerseits die relative Macht, Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen, und andererseits demokratische Legitimation für politisches Handeln. Für den Macht-Index nutzen wir Arbeiten von Druckmann und Warwick (2005), die nationale Experten nach der Macht unterschiedlicher politischer Positionen von Regierungspräsident*in (durchschnittlicher Wert 2.27) bis Aktivist*innen (durchschnittliche Wert 0.22) gefragt haben. Der Legitimations-Index misst im Gegenzug, ob eine Person zuvor ein durch eine Wahl demokratisch legitimiertes Amt (1) oder eine technokratische Position (0) innehatte (Schnapp 2004). Wenn Kommissionsmitglieder vor ihrem Eintritt in das College mehr als einer Tätigkeit nachgingen, erfolgt die Zuteilung nach der längsten Tätigkeitsdauer, weil wir annehmen, dass die berufliche Sozialisierung einer Person stärker ausfällt, je länger sie ein Amt ausgeübt hat.

Politisierung der EU-Kommission

 

Bereits seit den 1980er Jahren haben fast alle Kommissar*innen vor dem Eintritt ins College eine politisch legitimierte Position inne (Legitimations-Index) und seit Mitte der 1990er Jahre sehen wir einen deutlichen Trend zu hierarchisch höheren Positionen (Macht-Index). Eine Erklärung für diese Trends ist, dass Europa seit den Gründungsverträgen für individuelle Karrieren wie auch für nationale Regierungen an Bedeutung gewonnen hat. Viele Regierungen können es sich nicht länger leisten, weniger qualifiziertes oder erfahrenes Personal nach Brüssel zu entsenden. Auffällig ist, dass nach dem Maastrichter Vertrag besonders der Legitimations-Index abflacht. Aus dieser Perspektive hat die Kommission einen konstant hohen Grad an Politisierung erreicht, der für einen politischen Gestaltungsanspruch spricht und das Bild einer neutralen Verwaltung infrage stellt.

Ideologische Zusammensetzung der Kommission

 

Die sehr große Koalition in der Kommission

Mit Blick auf die ideologische Zusammensetzung der Kommission im Zeitverlauf fällt auf, dass 2019 die Zahl konservativer und sozialdemokratischer Kommissare erstmals ausgewogen ist. Die historische Dominanz der konservativen Parteifamilie gründet sich besonders auf den frühen Kommissionen der 1960er (Hallstein I, Hallstein II, Rey), die entscheidend zum Aufbau der Institutionen in der frühen Integrationsphase beitrugen, sowie der 1980er und frühen 1990er Jahre (Thorn, Delors I, Delors II, Delors III). Sozialdemokratische Parteien erlebten in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren (Santer, Prodi) ihre mutmaßlich einflussreichste Zeit. Zentrale Integrationsprojekte wie das Kapitel zur Beschäftigungspolitik im Vertrag von Amsterdam oder die Neuinterpretation des Stabilitäts- und Wachstumspakts fallen in diesen Zeitraum. Der Anteil liberaler Mitglieder der Kommission liegt – mit Ausnahme eines historischen Hochs unter Barroso – zwischen 10 und 20 Prozent. Andere Parteifamilien spielten in der Vergangenheit kaum eine Rolle. Das ist 2019 anders: Erstmals sind Kommissar*innen aus fünf verschiedenen Parteifamilien vertreten, während der Anteil parteiloser Kommissar*innen auffällig niedrig ist.

Damit ist die neue Kommission ausgesprochen politisch und ideologisch vielfältiger als zuvor. Theoretisch ist anzunehmen, dass es schwerer für die Kommission wird, in inter-institutionellen Prozessen mit einer Stimme zu sprechen und so ihre Position gegenüber Rat und Parlament zu stärken oder als neutrale Vermittlerin Entscheidungen möglich zu machen. Spannend bleibt, ob dies empirisch tatsächlich zu einer Schwächung der Kommission im inter-institutionellen Gefüge führen wird. Eine Antwort auf diese Frage hängt zentral von zwei weiteren Faktoren ab: Erstens könnte die von der Kommissionspräsidentin von der Leyen vorgeschlagene organisationale Umstrukturierung, besonders die mit weitreichenden Kompetenzen ausgestatteten Vizepräsidenten, intern Politisierung und ideologische Vielfalt moderieren. Langfristig hätte auch die im Lissabon Vertrag angelegte Verkleinerung der Kommission einen ähnlichen Effekt. Zweitens sind auch Rat und Parlament ideologisch heterogener geworden – je nach Politikfeld könnten daher auch neuen Allianzen über die Grenzen der EU-Institutionen hinweg entstehen und die Politikgestaltung prägen.

 

Datenbank zur EU-Kommission: https://www.polsoz.fu-berlin.de/polwiss/forschung/international/de-fr/Forschung/PEU-Database1/index.html

 

 

Information über die Autorin:

Miriam Hartlapp ist Professorin im Arbeitsbereich Deutschland und Frankreich im Vergleich des Otto-Suhr-Instituts für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin.