Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Alles wie erwartet und trotzdem wird alles anders. Die Wahlen in Ostdeutschland – und was sie bedeuten

Alles wie erwartet und trotzdem wird alles anders. Die Wahlen in Ostdeutschland – und was sie bedeuten

Nachdem noch vor rund einem Jahr die Einschätzung der drei ostdeutschen Landtagswahlen im Herbst 2019 deutschlandweit oft als nachgeordnet angesehen wurde, änderte sich diese Ansicht im Laufe des Jahres massiv. Zuletzt wurde sogar schon von Schicksalswahlen der Regierung Merkel gesprochen. Nicht mehr die Zahl der Wähler*innen stand im Mittelpunkt, sondern ihre (befürchtete) politische Dynamik. Maßgeblich für diesen Aufmerksamkeitsgewinn waren ein mögliches Abstrafen der Parteien der Bundesregierung wie die prognostizierten Erfolge der rechtspopulistischen AfD. Nicht nur ließen deren Ergebnisse bei den Europawahlen im Frühjahr 2019 große Erfolge in den Landtagswahlen erwarten, die Landesverbände der AfD in Brandenburg, Sachsen und Thüringen zählen innerhalb der AfD zu den radikal bis rechtsradikal aufgestellten Verbänden. Die Spitzenkandidaten aller dreier Landesverbände werden dem sogenannten „Flügel“ zugerechnet und stehen im Ruf, teils rechtsextremistische Positionen zu vertreten. Ihre Erfolge könnten zu einem innerparteilichen Machtgewinn der radikalen Kräfte in der AfD führen. Darüber hinaus wurde über massive systemische Effekte spekuliert. In Sachsen und Brandenburg wurde befürchtet, dass die AfD – in Sachsen wie schon bei den Bundestagswahlen 2017 – zur stärksten Partei werden könnte; in Thüringen drohte aufgrund ihrer Stärke eine teilweise Unregierbarkeit aufgrund fehlender belastbarer Mehrheitsverhältnisse.



Die Landtagswahlen – und die AfD als Gewinner?

Die Ergebnisse der Landtagswahlen waren dann irgendwie absehbar, irgendwie nicht ganz so schlimm wie befürchtet und irgendwie erklärungsbedürftig. Der AfD gelang es mit einer Mischung aus Anti-Migrations- sowie Pro-Ostdeutschland-Kampagne in allen drei Bundesländern, zweistellige Stimmgewinne gegenüber den vergangenen Landtagswahlen zu erzielen. Gleichzeitig verfehlte sie in allen drei Bundesländen ihr Ziel, zur stärksten Partei zu werden. Umgekehrt verloren faktisch alle anderen Parteien, mit Ausnahme der Grünen in Sachsen und Brandenburg und der Linken in Thüringen, an Stimmen. Die sowieso bereits relativ schwach in Ostdeutschland verankerte SPD wurde massiv vom Bundestrend getroffen und landete in Sachsen und Thüringen im einstelligen Bereich. In Brandenburg gelang es ihr, trotz erheblicher Stimmverluste, immerhin stärkste Partei zu bleiben. In Thüringen konnte die sonst wenig erfolgreiche Linke dank ihres Zugpferdes Bodo Ramelow stärkste Partei werden. Für alle Ergebnisse kann den jeweiligen Ministerpräsidenten eine erhebliche Zugkraft in der letzten, entscheidenden Phase des Wahlkampfes zugesprochen werden. Ihre Sympathiewerte lagen deutlich über denen ihrer Parteien – und sie zogen diese faktisch zu besseren Ergebnissen als erwartet. Zugleich erlitten die Regierungsparteien im Bund, CDU und SPD, durchweg erhebliche Stimmverluste im Vergleich zu den vorangegangenen Wahlen. Als Wahlsieger sind Die Linke in Thüringen, die Grünen in Brandenburg und Sachsen und überall die AfD zu erachten.

Gerade die Erfolge der AfD sind Ziel vieler Diskussionen und Vermutungen. Zum einen hinsichtlich ihrer Selbstverbindung mit einem anschwellenden Diskurs zur ostdeutschen Vergangenheit. Wie konnte es ihr gelingen, mit pauschalen Slogans wie dem eines angeblichen „Vollende die Wende“ oder einer „Wende 2.0“, in Ostdeutschland so erfolgreich zu agieren. Sicherlich kamen der AfD ihre Erfahrungen mit einer aggressiven Identitätspolitik zugute. Wie in der Abgrenzung gegenüber Migrant*innen und speziell muslimischen Migrant*innen war sie darin erfolgreich, sich die seit dem Umbruch existierende Identitätsdifferenz zwischen Ost- und Westdeutschen zunutze zu machen. So belegt erst der unlängst erschienene Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit, dass 55 % der Ostdeutschen sich „als Ostdeutsche“ als Bürger*innen zweiter Klasse sehen. Ergebnisse des Sachsen-Monitors 2018 oder anderer Umfragen erbrachten ähnliche, zuweilen höhere Ergebnisse. Speziell die Wahrnehmung einer mangelnden Anerkennung der Ostdeutschen als sozialer Gruppe sowie eine sich damit gut verknüpfen lassende Ablehnung von Migration und Zuwanderung, ließen für ein Viertel der Ostdeutschen die AfD – und nicht mehr Die Linke – als angemessene Vertreter*in ihrer Interessen erscheinen. Wie Umfragen gut zeigen, ist die Wahl der AfD eine Mischung aus Identitätsfragen, Protestwahl und einer starken nationalistischen Gesinnung. Wichtig ist, bei der Wahl der AfD geht es weniger um (empfundene) sozioökonomische Benachteiligungen, als vielmehr um Gefühle fehlender Anerkennung und kollektiver Benachteiligung – also überwiegend kulturelle Komponenten. Entsprechend treffen Versuche anderer Parteien, die wahrgenommene Unzufriedenheit sozioökonomisch zu bearbeiten, weitgehend auf geringen Erfolg. So stufen sich Ende 2017 zwar fast zwei Drittel der Sachsen, wenn sie sich kollektiv als Ostdeutsche begreifen, als Bürger zweiter Klasse ein, aber nur 19 % sehen sich persönlich als Verlierer der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung. Ähnliches lässt sich für die Einschätzung der eigenen versus die ostdeutsche Situation feststellen. Es ist die wahrgenommene Abwertung des eigenen Kollektivs, welche zu Unzufriedenheit führt. Durch den Einsatz von Verschwörungstheorien und eines ausgefeilten Opfermythos gelingt es der AfD in beachtlichem Maße, diese Identitätsunzufriedenheit aufzugreifen und dann ihre Wählerschaft gegen Argumentationsstrategien anderer Parteien und gesellschaftlicher Gruppen abzuschotten. Deutliche Schwierigkeiten der Wählermobilisierung finden sich für die CDU und die SPD, welche als „korruptes Elitensystem“ zentrales Ziel der AfD-Kampagnen sind. Sie verlieren in Ostdeutschland an Substanz, werden sie doch diskursiv immer stärker mit einer „Besatzungspolitik“ nach 1990 in Verbindung gebracht. Ein gerne genutztes Argument, welches bei vielen Ostdeutschen an Erfahrungen und Wahrnehmungen anknüpft, sind die Verfehlungen der Treuhand. Zudem gelingt es der AfD in Ostdeutschland durch eine scharfe völkisch-nationale Position rechtsextreme Kräfte und frühere NPD-Wähler*innen anzusprechen sowie unzufriedene Bürger*innen, die bislang eine Exit-Strategie der Wahlenthaltung verfolgten, zur Voice-Strategie der Protestwahl zu bewegen.



Nach den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen – Probleme über Probleme

Die Lage nach den Landtagswahlen in Ostdeutschland ist aus zwei Gründen schwierig: zum Ersten auf der strukturellen Ebene, für die Regierungsbildung. Anders als in Deutschland üblich, sind aufgrund der Stärke der AfD mehr als zwei Parteien notwendig, um eine Mehrheitsregierung zu bilden. Damit fällt der AfD als größter Oppositionspartei eine herausragende Rolle in den Landtagen zu. In Thüringen ist die Lage noch komplizierter und bringt durch die wechselseitigen Absagen an Koalitionen, alle Parteien gegen die AfD und die CDU gegenüber der Linken, potenziell den Zustand der Unregierbarkeit mit sich. Diese vertrackte Situation führt zu immer wieder aufkeimenden Diskussionen in der CDU, ob eine Koalition mit der AfD gegen „linke Kräfte“ nicht wünschenswert wäre. Diesen Diskussionen kommt die AfD durch eine wiederholt vorgetragene Betonung ihrer „Bürgerlichkeit“ entgegen. Sachsens Ministerpräsident Kretschmer musste im Vorfeld der sächsischen Landtagswahlen eine Zusammenarbeit mehrfach explizit ausschließen. Dass er damit richtig lag, zeigen Ergebnisse aus einer kurz vor der Landtagswahl in Sachsen durchgeführten Umfrage der Leipziger Volkszeitung, wo gerade einmal 9 % der CDU-Wähler für eine solche Koalition votierten.

Zum Zweiten hat sich die politisch-kulturelle Situation verschärft. Die Polarisierung in Landtag und Bevölkerung verfestigte sich. Dies bestärkt die massiven innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen und entzieht sie der Moderierbarkeit. So ist es ein Erfolgsmodell von Rechtspopulist*innen, Polarisierungen hervorzurufen, Differenzen zu verstärken und sich in der Opferrolle zu präsentieren. Moderation und offener Diskurs sind bei dieser Strategie eher hinderlich. Gleichzeitig soll dieser Eindruck durch Verweise auf einen „verengten Meinungskorridor“ sowie dem Branding bzw. Labeling von rechtsradikalen Positionen als konservativ begegnet werden. Diese Strategie der Selbstverharmlosung zeigt sich ebenfalls in der Kampagne der AfD, das Narrativ einer „bürgerlichen Partei“ durchsetzen zu wollen. Damit versucht die AfD sich als Regierungspartner einer „bürgerlichen Front“ anzubieten und zugleich Vorwürfen rechtsextremer Tendenzen zu begegnen. Nur am Rande sei vermerkt, dass die AfD in der aktuellen Kontroverse um den Rücktritt des sächsischen Landesbischofs Rentzing die Gelegenheit ergriff, für den Schutz einer angeblich beschränkten Redefreiheit und konservativer Werte einzutreten. Die Betonung der Einschränkung von Meinungsfreiheit dient auch dazu, Kritik an diskriminierenden und rechtsradikalen Aussagen abzuwerten.



Die Frage nach den Folgen für eine demokratische politische Kultur werden größer

Noch sind nicht alle Folgen der Wahlergebnisse in den drei ostdeutschen Bundesländern abzusehen. Eins ist aber sicher: Die sich in Landtagsmandaten manifestierenden Zugewinne an Wählerstimmen der AfD werden Konsequenzen nach sich ziehen. Das Regieren wird schwieriger und die Polarisierung zwischen Befürworter*innen der liberalen Demokratie und Politiker*innen wie Anhänger*innen der AfD wird möglicherweise zunehmen. Dies inkludiert eine weitere Radikalisierung der Diskussionen und eine wachsende Verbreitung antidemokratischer Statements. Selbst wenn man in der Einschätzung zwischen der politischen Spitze der AfD und ihren Wähler*innen unterscheiden muss, belegen Befragungen, dass beachtliche Teile der AfD-Wählerschaft rechtsradikale, xenophobe und muslimfeindliche Einstellungen aufweisen sowie moderne Geschlechteridentitäten ablehnen. Kurz gesagt: Das radikale Auftreten der AfD in Ostdeutschland entspricht oft den radikalen Einstellungen vieler ihrer Wähler*innen. Von einer reinen Protestwahl kann man nicht mehr sprechen, für viele Wähler*innen der AfD handelt es sich um Wählen aus Überzeugung – auch aus Überzeugungen rechts außen. Zudem ist zu befürchten, dass dieLandtagswahlerfolge der AfD zu einem Erstarken rechtsextremistischer Gruppen in Ostdeutschland führen. Bei diesen steigt das Gefühl eines Rückhalts in der ostdeutschen Bevölkerung. In dieser Hinsicht haben die Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen die politische Landschaft in Deutschland nachhaltig verändert.



Literaturverweise:

Matthias Quendt (2019): Deutschland Rechts Aussen. Wie die Rechten nach der Macht greifen und wie wir sie stoppen können, München: Piper.

Decker, Oliver/Brähler, Elmar (2018): Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft, Gießen: Psychosozial.

Pickel, Susanne (2019): Die Wahl der AfD. Frustration, Deprivation, Angst oder Wertekonflikt? In: Korte, Karl-Rudolf/Schoofs, Jan (Hrsg.): Die Bundestagswahl 2017. Analysen der Wahl-, Parteien-, Kommunikations- und Regierungsforschung, Wiesbaden: Springer VS, S. 145-175.

Sächsische Zeitung, 29.1.2018, Jeder zweite Sachse fühlt sich benachteiligt, S. 1-2.

 

 

 

Prof. Dr. Gert Pickel ist Professor für Religions- und Kirchensoziologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig.