Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Begriffliche Denkmalstürze: Naturzustand und Barbarei

Autor: Oliver Eberl

Gesellschaftliche Denkmalstürze

Edward Colston galt lange als bedeutender Wohltäter der englischen Hafenstadt Bristol. Als solcher wurde er 125 Jahre geehrt. Seine Statue stand im Zentrum der Stadt. Am 7. Juni 2020 stürzten Demonstrant*innen die Statue vom Sockel und warfen sie in das Hafenbecken. Sie erzählten eine andere Geschichte: Colston war von 1680 bis 1692 als „Westindischer Kaufmann“ Mitglied der Royal African Company. Er besaß neben eigenen Plantagen etwa 40 Schiffe und soll mit diesen 84.000 Menschen als Sklavinnen und Sklaven nach Amerika verkauft haben.

Diese koloniale Geschichte wurde aber vergessen und verschwiegen. Der Denkmalsturz stellt nun das einseitige Urteil über Colston als eines Wohltäters radikal in Frage. „Dadurch kann nun die Debatte losgehen, die längst überfällig ist“, so der Afrikawissenschaftler Andreas Eckert damals im Deutschlandfunk.

Aufarbeitung kolonial geprägter Begrifflichkeiten

Auch die Politikwissenschaft hat ihre Denkmäler. Einige davon stammen etwa aus der gleichen Zeit: Thomas Hobbes entwickelte die Idee des Naturzustands zwischen 1642 und 1651. Der Begriff „Barbarei“ erlebte einhundert Jahre vorher, 1550, im Disput von Valladolid, in dem es um die Rechtstitel zur Unterwerfung und Versklavung der Indigenen ging, eine koloniale Wiedererweckung des eigentlich aus der Antike stammenden Begriffs.

Zur Aufarbeitung des kolonialen Erbes gehört daher neben den gesellschaftlichen Denkmalstürzen auch das Durchleuchten des begrifflichen Bestands der Wissenschaften auf seine koloniale Prägung. Postkoloniale Ansätze verweisen seit langem darauf, dass auch Begriffe und Bezeichnungen koloniale, abwertende und rassistische Wahrnehmungsmuster tragen und so eine Tiefenwirkung bis in die Gegenwart haben.

In meinem Buch „Naturzustand und Barbarei. Begründung und Kritik staatlicher Ordnung im Zeichen des Kolonialismus“ (Hamburger Edition 2021) führe ich eine solche Aufarbeitung für die leitenden Begriffe „Naturzustand“ und „Barbarei“ aus Sicht der Politischen Theorie durch. Bekanntermaßen steht der Naturzustand seit Hobbes für die Schrecken einer nicht-staatlichen Ordnung und wird als Gegenbild des Staates genutzt.

Dieses Bewusstmachen der Verwobenheit der eigenen Begriffe mit der Geschichte des europäischen Kolonialismus ist unverzichtbar für eine sich „nachkolonial“ verstehende Politische Theorie, wie Peter Niesen auf dem Buchrücken feststellt – und sollte es auch für die Politikwissenschaft im Ganzen sein. Auch andere Teildisziplinen nutzen die Idee des Naturzustands oder die Beschreibung nicht-staatlicher Gesellschaftsformen, die aus ihr folgt, man denke etwa an die (neo-)realistischen Theorien in den Internationalen Beziehungen.  

Von der „Barbarei“ zum Naturzustand

Die ideengeschichtliche Untersuchung des Konzepts Naturzustands zeigt, dass die ursprünglich koloniale Abwertung nicht-staatlicher Gesellschaften in Amerika das Leitbild des Naturzustandes und seiner Schrecken prägte. Die ursprüngliche Idee des Naturzustands ist daher nicht so sehr eine Erfahrung der Gefährdung der eigenen Gesellschaft durch Bürgerkrieg als vielmehr eine Verarbeitung der Erfahrungen mit der außereuropäischen Welt. Dass dies auch die Erfahrungen kolonialer Gesellschaften waren, gehört zu den Umständen der Theoriebildung der Moderne.

Begrifflich gesehen ist der Naturzustand damit eine Fortsetzung des Barbareibegriffs, der für die Eroberung Südamerikas eine besondere Rolle spielte, in theoretischem Gewand. Er ist also in keiner Weise ein unproblematischer theoretischer Begriff, wie das die Politikwissenschaft lange Zeit angenommen hat. Schon gar nicht ist der Naturzustand eine Beschreibung der realen Verhältnisse nicht-staatlicher Gesellschaften und kann daher auch nicht als analytische Folie dienen.

Naturzustand und Staat

Die Idee des Naturzustandes hat ganz allgemein die Vorstellung über nicht-staatliche Völker geprägt. Wo Europa auf andere Gesellschaften getroffen ist, hat es diese lange als Mangel-Gesellschaften wahrgenommen: keine Gesetze, kein Staat, keine Religion, keine Ordnung. Andere Ordnungsformen wurden dabei allzu leicht übersehen. Die spätere Politikwissenschaft hat von diesem Bestand gezehrt und sich auf die staatlich-politische Ordnung als Forschungsgegenstand festgelegt. Andere Gesellschaftsformen hat sie der Ethnologie überlassen, die sich jedoch zunehmend über ihre Voreingenommenheiten selbst aufgeklärt hat. Ein ähnlicher Prozess steht in der Politikwissenschaft noch weitgehend aus.

In einer solchen selbstaufklärerischen Absicht wäre die Aufgabe der Politikwissenschaft, zu klären, inwiefern ihre Wahrnehmung noch immer von der Dichotomie der Staatlichkeit/Nicht-Staatlichkeit geprägt ist. Nicht jede gesellschaftliche Ordnungsbildung muss entlang des Staates verlaufen, sie kann auch Zwischenformen annehmen. In dieser Beschreibung ist auch der Vorschlag zu einer Zusammenarbeit mit der Soziologie und Ethnologie enthalten. Apropos Soziologie: diese führt derzeit (in der Zeitschrift „Soziologie“) eine Debatte über Kolonialismus und Soziologie. Wo ist die entsprechende Debatte der Politikwissenschaft zu finden?      

Und der kritische Barbareibegriff?

In der Aufklärung wandelte sich der Begriff „Barbarei“ von einem kolonialen zu einem kritischen: Immanuel Kant distanzierte sich klar vom kolonialen Barbareibegriff, nutzte ihn aber umso deutlicher zur Kritik der europäischen Staaten und beschrieb als Naturzustand einen Zustand ohne Gewaltmonopol und Recht. Wie ich zeige, führt die Linie der Kritik von Kant bis ins 20. Jahrhundert zur Kritik der Gewalt gegen Zivilist*innen im Ersten Weltkrieg und zur Kritik des Nationalsozialismus als „Barbarei“.

Doch steht uns damit keine analytische Kategorie zur Verfügung, die wirklich zum Ausdruck bringen könnte, inwiefern es sich bei den Menschheitsverbrechen der Moderne um Verbrechen der Zivilisation handelt. Vielmehr verschleiert die Rede eines „Rückfalls in Barbarei“ den Umstand, dass es sich um Verbrechen moderner Staaten handelt und verhindert eine Anerkennung des Kolonialismus als Menschheitsverbrechen. Möglich wird dies erst durch die Übersetzung in die Sprache des Völkerstrafrechts, wie sich an den Nürnberger Prozessen exemplarisch zeigen lässt. Dort beginnt die Anklage auch mit der Vokabel „Barbarei“, differenziert diesen dann aber immer weiter aus, bis die spätere Unterscheidung von Völkermord als Verbrechen gegen die Menschheit und anderer Grausamkeiten und Gewalttaten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bestimmt werden.

Politikwissenschaft und gesellschaftliche Selbstaufklärung

Die Politikwissenschaft sollte sich bemühen, den Anschluss an die gesellschaftliche Selbstaufklärung, die bereits stattfindet, nicht zu verlieren und sich selbst zu ihrer möglichen Rolle in diesem Prozess befragen. Wenn sie bisher politische Institutionen untersucht hat, kann sie das ja auch auf die koloniale Funktion dieser Institutionen tun. Natürlich gehört dazu auch eine weitreichende Überprüfung der eigenen Konzepte und Vorannahmen. Der Denkmalsturz von „Barbarei“ und „Naturzustand“ ist fällig. Diese Begriffe stehen, so die hier vertretene These, auf dem gemeinsamen Sockel des Kolonialismus. Damit geraten aber auch altvertraute Annahmen der Politikwissenschaft über die Neutralität und Objektivität des damit erworbenen theoretischen Kapitals ins Wanken.

Über den Autor:

PD Dr. Oliver Eberl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Politische Ideengeschichte und Theorien der Politik an der Leibniz-Universität Hannover und Privatdozent an der Technischen Universität Darmstadt; vier Semester Vertretung der Professur »Politische Theorie und Ideengeschichte« an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie, Demokratietheorie, Gesellschaftstheorie, Ideengeschichte. Ko-Leiter des Projekts »Der Blick nach unten. Soziale Konflikte in der Ideengeschichte der Demokratie«.