Weltweit transformieren Staaten ihre öffentlichen Verwaltungen ins digitale Zeitalter und verfolgen dabei zunehmend das Leitbild Government as a Platform (GaaP). Unser soeben erschienener Artikel untersucht die Umsetzung der deutschen Verwaltungsdigitalisierung am Fall der Sozialplattform, die mehr als nur technische Neuerungen für den deutschen Sozialstaat verspricht. Der Katalysator für die Entwicklung dieser öffentlichen Plattform war das deutsche Online-Zugangs-Gesetz (OZG), das einen Wendepunkt in der deutschen E-Government Strategie markiert. Unter Verwendung des analytischen Werkzeugs der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) verfolgen wir die sozio-technischen Prozesse, die die Entwicklung dieser Plattform prägen. Dabei werden im augenscheinlich technischen Umsetzungsprojekt verschiedene Formen von „Politik jenseits von Parlamenten“ sichtbar.
Die Sozialplattform ist ein bundesweites Onlineportal, das einen ganzen Katalog von Sozialverwaltungsleistungen von Arbeitslosengeld bis Wohnberechtigungsschein zur digitalen und möglichst nutzerfreundlichen Antragsstellung anbietet. Hinter der einheitlichen Plattform verbirgt sich ein großes Netzwerk von Anschlüssen an die jeweils zuständige antragsbearbeitende Stelle. Über einen „Sozialleistungsfinder“ sollen Komplexitätsfallen überbrückt und individuell passende Leistungen identifiziert werden. Ein „Beratungsstellenfinder“ und ein Online-Beratungstool sowie eine zentrale Terminbuchungsfunktion schließen auch die Freie Wohlfahrtspflege an die Plattform an. Automatische Registerabfragen waren geplant, scheiterten aber bisher an der Umsetzung. Spätestens letztere Funktionen haben das Potenzial für tiefergreifende politische Veränderungen, wenn sie beispielsweise in die Allokationsmechanismen der Sozialwirtschaft eingreifen oder nicht nur niedrigschwellige, sondern gar pro-aktive Auszahlungen von Leistungen durch das Zusammenführen relevanter personenbezogener Daten ermöglichen. Damit könnte der im Koalitionsvertrag enthaltenen Vereinfachung für Bürger*innen genüge getan werden. Es sind aber auch Unsicherheiten vernehmbar, für welche Zwecke die neuen technischen Möglichkeitsräume noch genutzt werden könnten: Sozialdaten sind ein wertvoller Rohstoff für private wie staatliche Akteure mit vielseitigen kommerziellen, strategischen oder disziplinarischen Verwendungszwecken. In die entwickelte Technik werden also politisch relevante Eigenschaften und Potenziale eingeschrieben.
Wie entscheidet sich aber nun die Entwicklungsrichtung der Sozialplattform? Für die Untersuchung des Implementierungsprojekts greifen wir konzeptuell auf den sozio-technischen Ansatz der Innovationsforschung in der Tradition der Akteur-Netzwerk Theorie zurück. Das Innovationsprojekt wird durch das Projektteam repräsentiert, das wir unten „DigiSoc unit“ nennen. Dieses macht sich ein Bild von der Identität und den Zielen diverser beteiligter Entitäten, die in das Projekt eingebunden werden sollen, indem es für sie zu zum „obligatorischen Passagepunkt“ wird. Technik nimmt in diesen Prozessen eine zentrale Rolle ein. Im Verlauf des Projekts erfährt diese initiale Deutung des Umfelds mehrfach erheblichen Wandel.
So gestaltet sich der Anschluss der Kommunen schwieriger als erwartet und modulare Lösungen müssen entwickelt werden, um auf die heterogene kommunale IT zu reagieren. Die Freie Wohlfahrtspflege steuert einerseits ganze Software-Komponenten bei, erweist sich andererseits aber auch als unzureichend eingebunden und das vom Gesundheitsministerium geförderte Parallelprojekt für Online-Beratung „DigiSucht“ wird letztlich vom Partner zum ebenfalls öffentlichen Konkurrenzprodukt.
Aus dem hier bloß angerissenen und im Artikel detailliert beschriebenem Verlauf des Projekts, lassen sich unserer Ansicht nach folgende Lektionen für die laufende Governance-Debatte um das Onlinezugangsgesetz 2.0 ziehen.
Normerfüllung oder Innovation?
Das OZG als Bestandteil eines Innovationssystems eröffnet ein Spannungsfeld zwischen fristgerecht bürokratischer „Elektrifizierung von Anträgen“ einerseits und dem Aufruf im Sinne der „Nutzerorientierung“ politisch gehaltvolle Visionen digitaler Staatlichkeit agil zu entwickeln. Oberflächliche „Schaufensterdigitalisierung“ steht innovativer digitaler Transformation gegenüber. Das Sozialplattform-Projekt oszilliert immer wieder zwischen diesen Polen, entscheidet sich aber an entscheidenden Punkten mehrfach für Risikoübernahme und Innovation. Entscheidende Ausschläge dafür entstammen in der Regel aber nicht den Auftragsformulierungen des Gesetzgebers oder des von ihm mandatierten IT-Planungsrates (so sehr diese vielleicht „notwendige Bedingungen“ sind), sondern anderen Projektkontexten. Innovation hängt von gewachsenen Gegebenheiten ab.
Technologie und Vision
Technologie und Vision entwickeln sich gemeinsam. Grundlage für die Entwicklung einer übergreifenden Plattform war eine bestehende Portaltechnologie in NRW, deren Brauchbarkeit für das neue Vorhaben in einer Machbarkeitsstudie getestet wurde. Das positive Ergebnis war wesentlich für das Entstehen eines gebündelten Portals gegenüber der Digitalisierung einzelner Anträge. Aus der Freien Wohlfahrtspflege wurden weitere Software-Komponenten für Beratungs-Funktionalitäten übernommen, was das Projekt deutlich über seinen eng verstandenen gesetzlichen Auftrag wachsen ließ. Allerdings schlossen sich daran auch Konflikte um das Verhältnis von Verwaltung und Drittem Sektor. Eher zufällige Umstände wie die verfügbare URL Sozial“plattform“ statt dem schon vergebenen Sozial“portal“ werden Auswirkungen auf Selbstverständnis und Strahlkraft des Projekts beigemessen. Die Etablierung eines Datenstandards für Sozialdaten erzeugte weitere Schubkraft, die die Visionen pro-aktiver Sozialleistungen und automatischer Bedarfs- bzw. Antragsprüfungen an den Horizont des Möglichen rücken ließen. So zeigt sich ein enges Wechselverhältnis zwischen den projektspezifisch vorhandenen Technologien und den verfolgten Visionen dessen, was die Sozialplattform werden könnte.
Agile Methoden und externe Expertisen
Die agilen Managementmethoden der Digitalisierungslabore beispielsweise erscheinen im untersuchten Projekt entgegen der in sie gesteckten hohen Erwartungen eher als ein Nebenschauplatz – innovative Ideen kommen vielmehr aus der eGovernment-Experten-Community. Eine entsprechende Sozialisation und Anbindung von Führungskräften scheinen hier vergleichsweise auschlaggebend. Die Einbindung von Beratungsunternehmen hingegen führte zwar zu mehr Kapazität und externer Expertise, begünstigte aber offenbar qua der vertraglichen Natur der Zusammenarbeit auch eine Tendenz zur Risikovermeidung und Orientierung an formalen Minimalzielen.
Fazit: für die Weiterentwicklung der Governance digitaler Infrastruktur braucht es tiefenscharfe Kenntnis über den realen Verlauf von Implementationsprojekten
Im aktuellen (2023/2024) politischen Diskurs wird die Umsetzung des OZG beispielsweise vom Nationalen Kontrollrat als „gescheitert“ bewertet, angesichts der geringen Anzahl von Softwareprodukten, die tatsächlich von mehreren (geschweige denn allen) Bundesländern verwendet werden. So wichtig diese Erkenntnis auch ist, das numerische Argument bleibt oberflächlich, da es uns nicht über die Ursachen der Verzögerung und des Scheiterns aufklärt. Dieser Ball liegt auch bei der Politikwissenschaft, die sich mit weiteren tiefenscharfen Fallstudien beteiligen sollte. Normativ steht einiges auf dem Spiel: Die nun in der Novelle des OZG beschlossene (stärkere) Öffnung des Softwaremarkts für private Unternehmen aktualisiert auch strategische Fragen hinsichtlich der demokratischen Kontrolle digitaler Infrastruktur und öffentlicher Daten. Dass wir erst am Anfang eines möglichen Weges in den Plattform-Sozialstaat stehen, gibt eher mehr als weniger Anlass, der Debatte relevante empirische Forschung beizusteuern und eine gemeinwohlorientierte Entwicklung zu begünstigen – bestenfalls geschult am sozio-technischen Blick natürlich.
Über die Autor*innen:
Maximilian Einhaus ist Doktorand am Institut für Controlling und Unternehmensrechnung an der Helmut Schmidt Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg.
Tanja Klenk ist Professorin für Verwaltungswissenschaft an der Helmut Schmidt Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg.