Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft
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Nachruf auf Gerhard Lehmbruch

Machtteilung und politischer Kompromiss als Lebensthema

von Roland Czada und Manfred G. Schmidt

Gerhard Lehmbruch, einer der Mitbegründer der deutschen Politikwissenschaft und ein herausragender Vertreter der Vergleichenden Politikwissenschaft, starb am 12. Juni in Tübingen. Der 1928 in Königsberg geborene Politologe war von 1973 bis 1978 als Nachfolger von Theodor Eschenburg Professor an der Universität Tübingen und von 1978 bis 1996 Professor an der Universität Konstanz.

Lehmbruch erlangte mit seinen Studien zu nichtmajoritären Verhandlungsdemokratien internationale Wertschätzung. In seiner Schrift „Proporzdemokratie“ von 1967 beschrieb er am Beispiel Österreichs und der Schweiz einen politischen Demokratietyp, in dem nicht Wettbewerb und Mehrheitsregel die Politik bestimmen, sondern Verhandlungen und Einigungszwänge im Bundesstaat, in Regierungskoalitionen und im Beziehungsgeflecht von Staat und Interessenverbänden. Weiterentwickelt hat Lehmbruch diesen Ansatz zur Lehre von der Konkordanzdemokratie, der „Consociational democracy“. Damit erweiterte er die vergleichende Demokratieforschung an einer entscheidenden Stelle: Demokratie war nicht nur Mehrheitsdemokratie, in der Konflikte vor allem auf der Basis von Wettbewerb und Mehrheitsentscheid ausgetragen werden, sondern auch Verhandlungsdemokratie. In ihr erfolgt die Konfliktregelung mithilfe von Entscheidungsmaximen des Aushandelns oder des gütlichen Einvernehmens nach Art der Kompromisstechniken der deutschen und schweizerischen Religionsfriedensschlüsse des 17. und 18. Jahrhunderts. Die nichtmajoritären Demokratien erwiesen sich als mindestens ebenso stabil und handlungsfähig wie die Mehrheitsdemokratien.

Lehmbruchs 1976 veröffentlichtes Buch „Parteienwettbewerb im Bundesstaat“ (3. Aufl. 2000) wurde zu einem für das Verständnis des deutschen Regierungssystems bis heute unverzichtbaren Standardwerk. In ihm wird die Lehre der Konkordanzdemokratie mit den mehrheitsdemokratischen Komponenten in Verbindung gebracht. Das Buch behandelt die Ursprünge und Folgen des Strukturbruchs zwischen dem Wettbewerbsprinzip im Parteiensystem und den besonders starken Kooperationszwängen im deutschen Föderalismus. Anders als in Demokratien mit allein verantwortlicher Mehrheitsregierung erfordert die deutsche Politik eine ausgeprägte Kompromissbereitschaft und die Überwindung hoher Konsenshürden, und zwar nicht nur bei Verfassungsänderungen, sondern auch bei einem Großteil der Gesetzgebung, vor allem bei in der Länderkammer zustimmungspflichtigen Gesetzen. Lehmbruch erklärt diese von Fritz W. Scharpf als „Politikverflechtungsfalle“ bezeichnete Konstellation als entwicklungsgeschichtliche Folge territorialer Machtteilung im Alten Reich, die sich im Norddeutschen Bund, im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und wieder im Föderalismus der Bundesrepublik Deutschland fortsetzt.

In seinem Aufsatz „Die korporative Verhandlungsdemokratie in Westmitteleuropa“ begründet Lehmbruch die Machtteilungsarrangements und politischen Kompromisskulturen Österreichs, der Schweiz, Deutschlands und der Niederlande als Folge der Paritätsidee, die den religiösen Friedensschlüssen der Frühen Neuzeit in diesen Ländern zugrunde lag, während Religionskriege im übrigen Europa die Vorstellung monokratischer Souveränität hervorbrachten.

Lehmbruchs Thema des kooperativen Regierens im liberaldemokratischen Staat fand in großen Forschungsprojekten zur „Neokorporatistischen Politikentwicklung in Westeuropa“, zu den „Bedingungen strategischer Politikwechsel im deutschen Regierungssystem“, zur Interessenvermittlung zwischen Verwaltungen und Verbänden sowie in wegweisenden Aufsätzen zur deutschen Vereinigungspolitik ihren Niederschlag.

1991 bis 1994 war Lehmbruch Vorsitzender der damals noch Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW). Für seine Forschungen wurde er mehrfach ausgezeichnet, darunter mit Ehrenmitgliedschaften in der Schweizerischen Vereinigung für Politische Wissenschaft und der Österreichischen Gesellschaft für Politikwissenschaft. 2003 erhielt er den Theodor-Eschenburg-Preis der DVPW für sein Lebenswerk, 2009 den Lifetime Achievement Award des European Consortium for Political Research (ECPR).

Zuletzt, 2021, erschienen die Lebenserinnerungen des in einer ostpreußischen Pfarrersfamilie aufgewachsenen Politikwissenschaftlers unter dem Titel „Erinnerungen eines „Fünfundvierzigers“. Eine Jugend unter dem Hakenkreuz vor dem Hintergrund einer märkisch-ostpreußischen Familiengeschichte“. Lehmbruchs Lebenserinnerungen bezeugen nicht nur die Befähigung zur souveränen historisch und sozialwissenschaftlich fundierten Verknüpfung von Makro- und Mikroebenen. Sie zeugen zugleich von den lebensgeschichtlich tief verwurzelten Grundlagen seiner auf Kooperation, Verhandlung und Konsensbildung zielenden Begrifflichkeit. Eine ausführliche Würdigung von Gerhard Lehmbruchs Lebenswerk werden die Autoren dieses Nachrufs an anderer Stelle publizieren.