Politikwissenschaftliche Perspektiven auf Debatten und Kämpfe um sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung
Politikwissenschaft im Gespräch anlässlich des Trans* Day of Remembrance am
20. November 2024
Drei Expert*innen sprechen über das Potential queertheoretischer und feministischer politikwissenschaftlicher Forschung
Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt, Rechte auf Selbstbestimmung sowie Körper- und Intimitätspolitiken sind politische Felder, die global sehr stark umkämpft sind. Oftmals stehen sie im Zentrum der Auseinandersetzungen um demokratische Werte und Teilhabe, aber auch von globalen wie lokalen Angriffen auf demokratische Gesellschaften durch extrem-rechte Bewegungen und autoritäre politische Regime. Letztere nehmen im Kontext der Bewältigung gegenwärtiger Krisen zu.
Drei Expert*innen berichten im Podiumsgespräch über aktuelle Forschungsergebnisse und diskutieren, wie Kämpfe und Debatten um sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung und Vielfalt politikwissenschaftlich erschlossen werden können und was es bedeutet, Fragen von Gleichstellung queerpolitisch zu erweitern. Gegenstand der Diskussion ist auch die Frage, warum Geschlechter- und Sexualitätspolitiken nicht nur gesellschaftspolitisch, sondern auch in der Politikwissenschaft selbst noch häufig als randständig angesehen und zu selten in den Mittelpunkt von Demokratietheorien oder empirischer Forschung (bspw. zu Populismus, Autoritarismus, Partizipation, etc.) gestellt werden.
Christine M. Klapeer ist Professor*in für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Gender Studies an der Justus-Liebig Universität Gießen. Sie analysiert, dass sich „Anerkennung von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt und Diversität anhand eines neoliberalen Begriffs von Freiheit und Selbstbestimmung“ vollzieht. Dies führe dazu, dass entsprechende Kämpfe häufig lediglich als Identitätspolitik und somit losgelöst von grundlegenden politischen Strukturierungen wie Öffentlichkeit und Privatheit wahrgenommen würden. Zugleich betont Klapeer die Notwendigkeit, „Ambivalenzen, Paradoxien und Grauzonen in den Sexual- und Geschlechterpolitiken von Parteien und LGBTIQ+ Bewegungen“ zu analysieren. Sie plädiert für einen Abschied von der simplifizierenden Gegenüberstellung von Fortschritt und Backlash und dafür, die Analyse von Geschlechter- und Sexualitätspolitiken stärker intersektional einzubetten.
Tamás Jules Fütty, Professor für Schulpädagogik mit Schwerpunkt Diversität an der Universität Klagenfurt, sieht ebenfalls die Ambivalenz derzeitiger Sexualitäts- und Geschlechterpolitiken. Er betont deren Kolonialität, historische Gewordenheit und Gewaltförmigkeit. Aus der Perspektive der Gewaltforschung müsse immer gefragt werden „Was Gewalt ist und wie Politik und Staat damit verbunden sind.“ Nachdem Kämpfe um rechtliche Anerkennung zu mehr Rechten geführt hätten, sei in den letzten 5 Jahre auch in Deutschland eine zunehmende Mobilisierung gegen Rechte auf geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung stattgefunden. Transfeindlichkeit und Angriffe gegen die geschlechtliche Selbstbestimmung gehörten aktuell neben Antimigrations- und Antiflüchtlingspolitiken, so Fütty, zu den zentralen Themen extrem rechter Wahlkämpfe und Kampagnen. Zugleich stellt er fest: „Antidiskriminierung und inklusive Geschlechterpolitiken müssen sich auch tatsächlich materialisieren und für alle gelten […] Transrechte müssen auch Geflüchtetenrechte sein“. Kämpfe um geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung müssten entsprechend auch antirassistisch ausgerichtet sein.
Phillip Ayoub, PhD, der die Professur für International Relations am Department for Political Science des University College London inne hat, macht auf eine weitere Facette der Ambivalenz aufmerksam: „Die länderübergreifende Vernetzung sowie transnationale Kooperationen extrem rechter Akteure auf dem Gebiet der Anti-LGBTIQ-Politiken wurde in der Politikwissenschaft bislang unterschätzt.“ Der Nationalismus dieser Bewegungen stände solchen Aktivitäten jedoch nicht entgegen. Gerade rechts-konservative Akteure aus Ländern, die als LGBTIQ-freundlich gelten, seien auf der internationalen Ebene im Kampf gegen Rechte für sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung aktiv. Zugleich stünden rivalisierende transnationale Bewegungen in Beziehung zueinander und agieren im selben interaktiven Raum. Dies führe dazu, dass „Gegner*innen und Befürworter*innen von LGBTIQ Rechten ähnliche politische Strategien und Instrumente für gegensätzliche Ziele“ nutzen.
Die vollständige Aufzeichnung des Gesprächs, das am 12.09.2024 stattfand, finden Sie als Video auf unserer Webseite.
Aus dem Gespräch kann frei zitiert werden. Gerne können Sie die beteiligten Wissenschaftler*innen auch direkt kontaktieren.
Kontaktdaten der Expert*innen
Prof. Dr. Christine M. Klapeer
Kontakt: E-Mail | Homepage
Prof. Philip Ayoub
Kontakt: E-Mail | Homepage
Prof. Dr. Tamás Jules Fütty
Kontakt: E-Mail | Homepage
Moderation: