Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft
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Flucht und Integration: Herausforderungen für die öffentliche Verwaltung

Pressemitteilung

Flucht und Integration: Herausforderungen für die öffentliche Verwaltung

Vier Expert*innen kommen in der DVPW-Reihe „Politikwissenschaft im Gespräch“ zu Wort 

Ob die Ankunft und Integration von geflüchteten Menschen gelingen, hängt ganz entscheidend von der öffentlichen Verwaltung und der Qualität ihrer Abläufe und Leistungen ab. Wie aber ist es um die Qualität der Abläufe und der Leistungen in Migrations- und Integrationsverwaltung bestellt? In der aktuellen Runde von „Politikwissenschaft im Gespräch“ haben wir vier Expert*innen um ihre Einschätzungen gebeten.

Anlass des Gesprächs waren die Fluchtbewegungen, die Deutschland in Folge des Ukraine-Kriegs erlebt. Der gegenwärtige Umgang mit Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind, zeigt, so die einhellige Meinung der vier Expert*innen, dass die Migrations- und Integrationsverwaltung in Deutschland schnell in einen Krisenbearbeitungsmodus schalten kann.

Im Vergleich zu 2015, als das System in Folge des Syrien-Kriegs zuletzt mit einem starken Anstieg an Zuwanderung konfrontiert war, scheint die Resilienz höher zu sein und viele der damals mühsam aufgebauten Strukturen konnten nun rasch reaktiviert werden. „Man hatte nun templates“, so Nathalie Behnke, Professorin für Verwaltungswissenschaft an der TU Darmstadt, „und konnte so schneller reagieren […] Im Vergleich zu 2015 kann man hier durchaus ein politisches Lernen sehen“.

Dennoch, auch hier waren sich die vier Expert*innen einig, ist der Reformstau in Migrations- und Integrationsverwaltung gewaltig. Viele der Probleme sind seit mindestens 2015 wohlbekannt – dass sie nicht bearbeitet wurden, könnte sich nun, da die Krisenzyklen immer kürzer werden, als fatal erweisen.

Jörg Bogumil, Professor an der Ruhr-Universität Bochum, zeigt, dass das aktuelle System nicht nur vielfach an Koordinations- und Schnittstellenproblemen krankt und unnötige Bürokratiekosten erzeugt – es schafft vor allem auch zwei Klassen von Geflüchteten. Ein Problem, das auf der administrativen Ebene leicht lösbar wäre – wenn es denn politisch gewollt wäre.

„Vergleicht man die Situation der ukrainischen Flüchtlinge mit der Situation von 2015, stellt man fest: Manche Sachen laufen jetzt besser. Es gibt zum Beispiel deutlich vereinfachte Antragsformulare. Aber wir müssen aufpassen, dass wir nicht zwei Klassen von Flüchtlingen haben.“

Weit komplexer zu lösen sind die Fragen der Aufteilung der finanziellen Kosten, die im Zusammenhang mit der Aufnahme und Integration von Geflüchteten entstehen. Um Entscheidungsblockaden im föderalen Geflecht zwischen Bund, Ländern und Kommunen zu vermeiden, werden komplizierte rechtliche Ausnahmeregeln geschaffen, die zwar helfen, das Problem zu lösen, die aber langfristig den Handlungsspielraum der Politik durch Verrechtlichung einschränken. Nathalie Behnke erläutert dies am Beispiel der Kosten der Unterkunft, wo der neue Art. 104a, Abs.1, Satz 3 GG nun zwar eine höhere Kompensation des Bundes zur Entlastung der Kommunen erlaubt. Diese Regelung schafft aber neue Ausnahmetatbestände und löst nicht das Grundproblem der kontinuierlich steigenden Sozialausgaben. Eine (teilweise) Übernahme der Kosten durch den Bund scheint politisch nicht denkbar.

Sybille Münch, Professorin an der Universität Hildesheim, hat in einem Projekt das Engagement von Ehrenamtlichen in der „Willkommenskultur“ erforscht. Konkret wurde dabei der Frage nachgegangen, wie die Zusammenarbeit bei der Erbringung integrationspolitischer Leistungen wahrgenommen wurde. Sie gelang vor allem dann, wenn sie als Zusammenarbeit an gemeinsamen Zielen erlebt wurde, bei der die Ehrenamtlichen komplementäre Fähigkeiten einbringen konnten und ein Gefühl der Selbstwirksamkeit erlebten. Und:

„Wir haben festgestellt, dass es einen hohen Vertrauensvorschuss auf Seiten der Geflüchteten gab. Aber auch, dass dieses Vertrauen durch fehlende Inklusivität, zum Beispiel in der Kindertagesbetreuung, verspielt werden kann.“

Unzulänglich oder gar fehlend sind schließlich auch die Antworten, die das System der Migrations- und Integrationsverwaltung auf die Herausforderungen der gesundheitlichen Versorgung Geflüchteter gibt, wie Dr. Renate Reiter von der FernUniversität in Hagen ausführt. Dies gilt vor allem für psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlungen, die für viele Geflüchtete sehr wichtig sind. Der Zugang zu Leistungen ist im Bundesgebiet sehr uneinheitlich gestaltet und hängt nicht nur von der Dauer des Aufenthalts und dem Aufenthaltsort der Geflüchteten im Bundesgebiet ab. „Wir sehen zudem auch hier die Tendenz, durch verschiedene Zugangsregeln für verschiedene Personengruppen verschiedene Klassen von Flüchtlingen zu schaffen“, so Renate Reiter.

Die vollständige Aufzeichnung des Gesprächs, das am 18.5.2022 stattfand, finden Sie als Video hier.

Aus dem Gespräch kann frei zitiert werden. Gerne können sie die beteiligten Wissenschaftler*innen auch direkt kontaktieren.

 

Kontaktdaten der Expert*innen

Prof. Dr. Jörg Bogumil
Ruhr-Universität Bochum
E-Mail |  Homepage | Twitter: @BogumilJoerg

Prof. Dr. Nathalie Behnke
Technische Universität Darmstadt
E-Mail | Homepage

Prof. Dr. Sybille Münch
Universität Hildesheim
E-Mail | Homepage | Twitter: @MunchSybille

Dr. Renate Reiter
FernUniversität Hagen
E-Mail | Homepage

Kontaktdaten der Organisator*innen 

Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft 
c/o Freie Universität Berlin, Ihnestr. 26, 14195 Berlin 
E-Mail | Homepage | Twitter: @dvpw 

Prof. Dr. Tanja Klenk (DVPW Vorstand) 
Helmut-Schmidt-Universität Hamburg 
E-Mail | Homepage | Twitter: @KlenkTanja   

Dr. Sonja Blum (DVPW Vorstand)
Universität Bielefeld
E-Mail | Homepage | Twitter: @_sonjablum