Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft
Sektion Policy-Analyse und Verwaltungswissenschaft

FoJus Jahrestagung 2017 / FoJus Annual Meeting 2017

Die 10. Jahrestagung des Forums Junge Staats-, Verwaltungs- und Policyforschung (FoJuS) fand am 23. und 24. Mai 2017 an der Universität Potsdam statt. Die Tagung stand dieses Mal unter dem Thema "„Coping with Ambiguity“ - Politik und Verwaltung in der Machbarkeitsfalle?". Folgende Papiere wurden vorgestellt:

 

Panel 1: Ambiguität im Kontext der Europäischen Union

Lavinia Zinser (Universität Göttingen): Kompromiss nach Pattsituation: Die Rolle der Akteure in EU-Parlament, Ministerrat und EU-Kommission bei der Regelung der Netzneutralität

 Die Politik zur Netzneutralität, die sich auf die Frage nach der Gleich- oder Ungleichbehandlung von Daten bei ihrer Übertragung im Internet bezieht, war in der Vergangenheit von zahlreichen Konflikten bestimmt: Nach mehr als zehn Jahren eines Ringens um Lösungen zur Netzneutralität auf Bundes- und EU-Ebene konnte ab Mitte 2015 eine Pattsituation zugunsten einer kompromiss-basierten Einigung für eine EU-weit bindende Regelung überwunden werden, die anschließend auf deutscher Ebene zügig umgesetzt wurde.

 Der Fokus dieses Beitrags liegt, unter Zuhilfenahme des Advocacy-Koalitionen-Ansatzes (ACF), auf der Untersuchung der Kompromissfindung in den Trilog-Verhandlungen Ende Juni 2015 zwi-schen EU-Parlament, Ministerrat und EU-Kommission zur Telecom-Single-Market-Verordnung (TSM-VO), mit der die Pattsituation gelöst wurde. Die Rolle der Akteure der genannten EU-Insti-tutionen, im Sinne ihrer Funktion als Mitglieder einer Akteurs-Koalition oder als vermittelnde Ak-teure, gilt es dabei zu den unterschiedlichen Zeiten herauszufinden: Verfolgen sie im politischen Prozess der TSM-VO von 2012 bis 2015 eher eine Rolle als policy broker (Sabatier 1993) oder verleihen sie zu einem bestimmten Zeitpunkt (hier: Auflösung der Pattsituation und Schließen des Kompromisses) einer Advocacy-Koalition durch ihr Engagement ein höheres Gewicht und sorgen somit für die Durchsetzung bestimmter Interessen?

 Ein Schwerpunkt der Policy-Forschung liegt in der Frage nach dem Einfluss von Akteuren auf politische Entscheidungen. Bei der Interessensdurchsetzung kann es zu Konflikten und Machtfra-gen kommen. Gerade Entscheidungen auf europäischer Ebene sind durch eine kontinuierliche Kon-sensfindung der drei Institutionen Parlament, Ministerrat und Kommission geprägt. Einigen weni-gen ihrer nachgeordneten Akteure gelingt es, bei der Aushandlung von Kompromissen die wichtige Rolle der Vermittler zwischen Positionen und Koalitionen einzunehmen.

Gemäß theoretischen Annahmen zum politischen System der EU haben auf Seiten des EU-Parla-ments meist der zuständige Berichterstatter und der Vorsitzende des federführenden Ausschusses die Vermittlerrolle inne (Tömmel 2008). Im Ministerrat kommt diese Aufgabe häufig der jeweili-gen Ratspräsidentschaft zu, für die erfolgreiche Abschlüsse auch prestigeträchtig sein können. In der Kommission haben die Generaldirektionen (GD) eine Zuständigkeit für inhaltliche Fragen, während ihre zuständigen Kommissare mit einer Konsens- und Kompromissorientierung die poli-tische Lösung des Themas anstreben. Zusätzlich weist der ACF nach Sabatier (1993) meist Regierungschefs und -vertretern sowie hochrangigen Beamten eine Broker-Rolle zu.

Zur Beantwortung der Frage sollen in diesem Papier die behandelten Themen der Netzneutralität im beschriebenen Prozess und die policy-core-Aspekte der „belief systems“ der Akteure, die als wesentliches Kriterium zur Bildung einer Koalition gelten, herausgefunden werden (Sabatier 1998). Untersucht werden für dieses Papier – in Anlehnung an die Prämissen des ACF – Stellungnahmen, Anhörungen und Programme auf EU-Ebene zur Netzneutralität im Zeitraum 2012 bis 2015 mittels inhaltsanalytischer Verfahren. Methodisch wird für diesen Beitrag ein deduktives Vorgehen anhand der belief-system-Struktur nach Sabatier (1998) angestrebt.

Eingebettet ist dieses Papier in ein Promotionsprojekt, das darauf abzielt, die Ursachen des Policy-Wandels in der Netzneutralität von 2005 bis 2016 auf europäischer und nationaler Ebene zu er-gründen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der ausgehandelten Vereinbarung als ein Pfad für einen Policy-Wandel im Sinne von Sabatier (1998) und Jenkins-Smith et al. (2014), deren wichtigste Bedingung – für das Zustandekommen eines Kompromisses – die Patt-Situation („hurting stale-mate“) ist.

Murat Karaboga (Fraunhofer-Institut für System-und Innovationsforschung): Die Rolle von Überzeugungen im Aushandlungsprozess zwischen EU-Kommission, Parlament und Ministerrat am Beispiel der EU-Datenschutz-Grundverordnung

Datenschutzrechtliche Regulierungen sind seit der Verbreitung von Großcomputern in den 1960er Jahren zu einem festen Bestandteil (sub-)nationaler wie auch supranationaler Politiken geworden. Die anhaltende Digitalisierung der Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten hat den Schutz personenbezogener Daten allerdings zu einem grenz- und sektorübergreifenden und damit auch stärker umstrittenen Thema werden lassen, das nunmehr nahezu alle Lebens-, Wirtschafts- und Verwaltungsbereiche betrifft. Deutlich wurde dies etwa, als die Europäische Kommission, auf ihre im Rahmen des Inkrafttretens des Lissaboner Vertrags im Jahr 2009 ausgeweiteten legislativen Kompetenzen zurückgreifend, eine Neuregelung des EU-weiten Datenschutzes in Form einer Verordnung und damit zugleich die Verlagerung von ehemals nationalen Kompetenzen auf die EU-Ebene initiierte. Im Ergebnis des folgenden konfliktiven Aushandlungsprozesses – währenddessen es beispielsweise zu der höchsten, jemals in einen Legislativprozess eingebrachten Zahl an Änderungsanträgen (3999) im EU-Parlament kam – wurde im April 2016 die EU-Datenschutz-Grundverordnung verabschiedet.

Eingebettet in die Bearbeitung eines Dissertationsprojekts, in dem der Policy-Wandel in der EU-Datenschutzpolitik zwischen 1990 und 2016 untersucht wird, soll im vorgeschlagenen Beitrag der Frage nachgegangen werden, welche spezifischen Konfliktlinien sich zwischen den beteiligten Akteuren (EU-Institutionen, Interessenvertreter aus Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft) bei der Ausgestaltung der EU-Datenschutz-Grundverordnung ergeben haben. Analyseleitend wird das Advocacy Coalition Framework (ACF) in dessen aktuellster Fassung (Jenkins-Smith u. a. 2014) sein.

Das ACF erlaubt es, unter Berücksichtigung der kontextrelevanten Subsystemspezifika des jeweiligen Themas, eine granulare Sortierung der Subsystemakteure entlang distinkter Überzeugungssysteme vorzunehmen und die jeweiligen Machtverhältnisse in Form von unterschiedlich wirkmächtigen Advocacy Coalitions abzubilden. Das angestrebte induktiv-deduktive Vorgehen wird sich bei der Erhebung der Überzeugungssysteme zunächst – deduktiv – der Datenschutz- und Privatheitsliteratur bedienen, die sich mit den zentralen Konflikten bei der Regulierung des Datenschutzes auseinandersetzt. In einem weiteren Schritt soll die deduktive Vorgehensweise induktiv um aus dem Material gewonnene Einsichten und Konfliktlinien ergänzt werden, um herauszufinden, ob andere Faktoren (ebenfalls) eine Rolle spielen, wie etwa der Machterhalt und/oder ?ausbau.

Umfassendes empirisches Material steht in Form von Stellungnahmen aus dem öffentlichen Konsultationsprozess der EU-Kommission, Stellungnahmen und Protokollen des für den Datenschutz zuständigen Kommissionsreferats, des zuständigen Parlamentsausschusses sowie der zuständigen Ratsarbeitsgruppe und schließlich in Form des Legislativvorschlags der Kommission und der entsprechenden Standpunkte des Parlaments und des Ministerrats zur Verfügung. Die fallbasierte Analyse verspricht dahingehend Einsichten zu liefern, wie das politisch-administrative System mit divergierenden Überzeugungen der Subsystemakteure umgeht und diese berücksichtigt oder, ob stattdessen vielmehr von einer Reproduktion der im politisch-administrativen System verankerten Überzeugungen – so etwa des der EU-Kommission häufig unterstellten Interesses nach Machtausbau – gesprochen werden kann.

 

Benjamin Gröbe und Niclas Beinborn (Deutsches Forschungsinstitut für Öffentliche Verwaltung Speyer): Europakoordination revisited -Kapazitäten und Koordinationsmechanismen der deutschen Ministerialverwaltung in europäisierten Politikfeldern

 Die nationale Koordination in europäisierten Politikfeldern gehört mit Blick auf die Entwicklungen der letzten Jahre zweifelsohne zu jenen Bereichen, in denen die ministeriellen Organisationstrukturen und Koordinationsmechanismen mit einer zunehmenden Komplexität der alltäglichen Problemstellungen konfrontiert sind. Dies stellt das politisch-administrative System der bundesdeutsche Ministerialbürokratie im zunehmend von der EU bestimmten Tagesgeschäft, das ohnehin durch eine starke Dezentralisierung und Fragmentierung der Koordinations- und Entscheidungsprozesse gekennzeichnet ist, vor die Herausforderung, trotz veränderter Rahmenbedingungen Kohärenz und Konsistenz sowohl bei der Formulierung europapolitischer Positionen als auch der Umsetzung europäischen Rechts an den Tag zu legen. Da der deutschen Ministerialverwaltung eine koordinierende Funktion für den mitgliedsstaatlichen Beteiligungsprozess auf europäischer Ebene zukommt und sie eine zentrale Rolle bei der Implementation europäischen Rechts auf der bundesdeutschen Ebene einnimmt, stellt sich die Frage, wie sie mit den veränderten Rahmenbedingungen umgeht.

 In dem Beitrag wird deshalb der Frage nachgegangen, welche Strukturen und Mechanismen der Koordination und Kooperation innerhalb der deutschen Ministerialverwaltung ausgebildet wurden, um der Komplexität europäischer Politik zu begegnen. Die vorhandene Forschung zu dieser Frage ist überraschenderweise eher überschaubar, ein Großteil der Literatur be-schränkt sich nämlich vorrangig auf eine Betrachtung der politischen Gemengelage und über-sieht die oftmals nicht zu unterschätzenden Einflussmöglichkeiten administrativer Akteure im Zusammenspiel der nationalen und europäischen Ebenen. Dieser Beitrag fügt der Europäisierungsdiskussion damit auch eine weitere interessante Facette hinzu.

 Entsprechend eines organisationstheoretischen, neo-institutionalistischen Ansatzes, der nach den Kapazitäten, Kompetenzen und Koordinationsmechanismen ministerieller Organisationen fragt und im ersten Teil des Beitrags entwickelt wird, werden im zweiten Teil des Beitrags zunächst die Ergebnisse einer Befragung vorgestellt, in der die Anzahl von Referaten mit europapolitischer Relevanz sowie deren Personalausstattung für alle Bundesministerien erhoben wurde. Der Vergleich mit Erhebungen ähnlicher Art aus vergangenen Jahren weist auf eine Bedeutungszunahme europapolitischer Fragestellungen innerhalb der deutschen Ministerialverwaltung sowie den zunehmenden Querschnittscharakter von Europapolitik hin, wirft aber gerade in der ressortvergleichenden Perspektive interessante Fragen auf. Ebenfalls kann bereits mit diesen Daten gezeigt werden, dass es offenbar immer schwieriger wird, Zuständigkeiten für europäische Fragen eindeutig abzugrenzen, was auf die Notwendigkeit einer besseren Koordination hindeutet. Zur weiteren Einordnung der Ergebnisse werden erste Erkenntnisse aus leitfadengestützten Interviews mit Ministerialbeamten, in deren Zuständigkeitsbereich europapolitische Fragen sowie deren Koordination fällt, verwendet. Es bestätigt sich auch hier, dass die bundesdeutsche Ministerialverwaltung durch den zunehmenden Querschnittscharakter von europäisch induziertem Recht mit erhöhten Koordinationserfordernissen konfrontiert ist und sich offenbar noch keine „best practices“ beim Umgang mit den dar-gestellten veränderten Rahmenbedingungen ausgebildet haben.

In dem hinter diesem Beitrag stehenden Forschungsprojekt „Verwaltungsstile und die Entdeckung von nationalen Handlungsspielräumen im Europäisierungsprozess“ soll mithilfe dieser ersten Erkenntnisse zum deutschen Fall auch ein Blick in andere Mitgliedsstaaten geworfen werden. Der Beitrag schließt daher mit einigen Überlegungen für eine Untersuchung auf europäisch-vergleichender Ebene und soll auch Grundlage für eine Diskussion mit den Tagungsteilnehmern bilden.

 

 Panel 2: Ambiguität und Strukturen der Ministerialbürokratie

Jana Bertels und Lena Schulze-Gabrechten (Universität Potsdam): Ever More Diverse? Exploring the Internal Structural Dynamics of German Federal Portfolios

Coping with ambiguous expectations from the environment poses a challenge to the machinery of government. A crucial consequence of this growing external complexity are changes to and within the formal structure of public bureaucracies. It is a widely shared claim in Public Administration research that government organizations grow more complex over time in response to these challenges. This paper examines empirically whether and if so to which extent the formal intra-organizational structure of all German federal ministerial portfolios grew more complex over the time period from 1980 to 2015. In the paper, we suggest measuring formal structural complexity in government organizations by combining two aspects of complexity: first, the intra and inter-organizational horizontal and vertical specialization and second, the variety of forms of intra-organizational unit types. In addition, we explore to what extent the emergence of new types of organizational units or even post-Weberian forms of organizational structure is evident. Based on longitudinal quantitative data from the novel SOG-PRO database, we map the development of absolute and relative frequencies of the specialization of units in total, at different hierarchical levels and of types of units – across all federal ministries. In order to re-assess the variety of intraorganizational unit types, the paper additionally analyzes qualitative data collected from task allocation plans and semi-structured interviews. We compare structural complexities over time and across different ministerial portfolios. We expect that the differences are stronger between ministerial portfolios than over time and thus argue for a more differentiated picture of the complexity of internal government organization. A second contribution of the paper is the development of a twodimensional typology of distinct types of ministerial units in order to identify the range of design choices in the intra-organizational architecture of the German federal

bureaucracy.

 

Yvonne Hegele (Universität Konstanz): Multidimensional Interests in horizontal Intergovernmental Coordination. The case of the German Bundesrat

In Intergovernmental Relations (IGR) governmental actors at different levels within a federal system interact with each other for the exchange of best-practices and information, the coordination of policies or the resolution of conflict (Poirier, Saunders, & Kincaid, 2015).The actors thereby have a certain amount of strategical leverage on how to conduct these IGR processes in order to accomplish their goals and interests, within the constitutional context and boundaries set to them (Scharpf, 1997). This strategical leverage is most obvious in their choice of coordination partners and the formation of coordination clusters. Due to several constraints such as time and mental capacity, it is very unlikely that each of the actors coordinates with each other actor but instead strategically chooses coordination partners where the costs of contact are decreased and the benefit is increased. This is achieved by coordinating with actors who share similar believes, interests and preferences. Among such actors, communication is eased by a common framing of the issue at stake and the cost for compromise is smaller due to similarity of preferences. Actors hence will be more likely to coordinate with similar others or even to form clusters with a number of similar others to ease the coordination process.

 The interest of governmental actors in IGR however are not unidimensional, but multidimensional and often ambiguous. This paper conceptualizes three interest dimensions of actors in IGR, namely sectoral, party political and territorial interests. This multidimensionality and ambiguity makes the choice of coordination partners and formation of coordination clusters more complex. Using a novel dataset on the network of German sub-state IGR actors, the paper sheds light on the coordination behavior of governmental actors in such a complex coordination setting. Exponential random graph models and cluster analysis are used to analyze how strongly and under which circumstances which interest dimensions determine the choice of coordination partners and the formation of coordination clusters during the process of IGR and hence helps to understand how complex coordination settings are structured and how the different interest dimensions relate to each other.

 

Panel 3: Ambiguität und Prozesse in der Ministerialbürokratie

Basanta Thapa und Christian Schwab (Universität Potsdam): Herausforderung E-Government-Integration - Hindernisse von E-Government-Reformen im Berliner Mehrebenensystem

Die ebenen- und fachübergreifende Integration von Verwaltungsprozessen ist eine der größten

Herausforderungen der Verwaltungsdigitalisierung. Der Fall Berlin kann gerade für die E-Government-Implementation im föderalen deutschen Bundesstaat wertvolle Lehren bereithalten. Nicht zuletzt deshalb, da mit den zwölf Bezirken sowie der Senatsverwaltung und Abgeordnetenhaus mehrere „Spieler“ die Entscheidung und Umsetzung im Mehrebenensystem wechselseitig beeinflussen. Allein der hierfür getätigte Koordinationsaufwand zur Strategieabstimmung ist immens.

 

Das Land Berlin hat mit seiner 2015 veröffentlichten Berliner E-Government-Strategie ein

ambitioniertes Digitalisierungsprogramm für die öffentliche Verwaltung aufgelegt. Gemeinsam mit

den Modernisierungsprogramm „ServiceStadt Berlin“ und dem Leitkonzept „One Stop City Berlin“

(OSCB; welches vor allem auf die Verbesserung der Zugangswege der Bürger zu den Dienstleistungen

der Verwaltung abzielt) und der landesweiten Koordination der IT-Strategie sowie des

Geschäftsprozessmanagements, wird die Vision einer für den Bürger nahtlos scheinenden digitalen

Verwaltung entworfen. E-Government und Digitalisierungsprozesse werden seit einigen Jahren als

Zukunftsfeld der Verwaltungsmodernisierung, insbesondere bei „one-stop service centers“ (Tat-Kei Ho2002) beschrieben. Vor allem der Ausbau des elektronischen Zugangsweges der OSCB-Strategie

erscheint hierbei für eine weitere Analyse interessant, da dieser Ansatz mit seinen zwölf

Einzelprojekten in die Berliner E-Government-Strategie mit dem Ziel eingebettet ist, Dienstleistungen

für den Bürger „aus einer Hand“, d.h. durch möglichst nur einen Zugangskontakt herzustellen (FederalBenchmarking Consortium 1997: 3), was im Mehrebenensystem unweigerlich zu Konflikten bei Kooperationsprozessen führt.

 

Diese Prozesse überschreiten gerade im Stadtstaat Berlin regelmäßig Verwaltungsebenen und

Fachgrenzen, werfen also die Frage der im klassischen E-Government Maturity Model (Layne & Lee

2001) beschriebenen vertikalen und horizontalen Integration auf. Diese Integration ist gerade in der

ausgeprägten Aufgabenteilung des deutschen Föderalismus eine bedeutende Herausforderung für

substantielle E-Government-Reformen in Mehrebenensystemen (Schuppan 2009): „In e-government

practice, however, the integration […] encounters multiple challenges and a number of serious

constraints. So far, the complex nature or the exact extent of these challenges and constraints

regarding integration and interoperability are not well understood, neither in practice nor in theory“

(Scholl & Klischewski 2007). Ein dezidiert verwaltungswissenschaftlicher Blick jenseits der häufig sehr

techniklastigen, wirtschaftsinformatischen E-Government-Forschung kann die Debatte zudem um

wichtige Aspekte ergänzen.

 

Ziel des Beitrags ist es, die Implementation der Berliner E-Government-Strategie zu beschreiben, sowie deren Erfolge und Fallstricke nachzuzeichnen. Zudem soll der Berliner Umgang mit der

Herausforderung E-Government-Integration erkundet und mögliche Lehren gezogen werden. Hierzu

wird der Ansatz sowie die Erfolge und Probleme der Berliner Verwaltung bei der Integration ihrer

digitalen Verwaltungsprozesse beschrieben, bewertet und theoretisch eingeordnet.

 

Wir greifen in der Analyse auf den dreistufigen Evaluationsansatz von Kuhlmann & Wollmann (2011)

zurück, welches den Blick auf die reformtreibenden Faktoren, die institutionellen Reformen sowie die

Umsetzungserfolge bzw. –probleme lenkt. Der letzte Evaluationsschritt – die Bewertung der Outcomes – wird ausgelassen, da der Projektzeitraum der Berliner E-Government-Strategie noch läuft und forschungspragmatische Gründe einer Inklusion entgegenstehen. Die Einordnung und Bewertung erfolgt anhand verbreiteter Analyseraster wie dem Stufenmodell von Klievink & Janssen (2009), welches Art und Tiefe von E-Government-Integration von „stovepipe applications“ bis „demanddriven, joined-up government“ klassifiziert. Der Umsetzungserfolg wird anhand bekannter

Integrationsbarrieren (Scholl & Klischewski 2007), beispielsweise rechtliche, organisationale,

managerielle, technische, kosten- und kollaborationsbezogene Probleme, bewertet. Durch diese

Darstellung wird der Fall vergleichbar mit ähnlichen Studien.

 

Als empirisches Material fließen in die Analyse vor allem relevante Dokumente aus der Berliner

Verwaltung (z.B. Senatsbeschlüsse, Strategiepapiere etc.), Studien zur Umsetzung der oben genannten Reformprogramme (wie bspw. die Difu-Studie oder interne den Autoren vorliegende

Evaluationspapiere) sowie leitfadengestützte Interviews mit Verantwortlichen in der Berliner

Senatsverwaltung (z.B. OSCB-Koordinator; Leiter Geschäftsprozessmanagement; verantwortlicher

elektronischer Zugang) sowie „Strategieadressaten“ aus der Bezirksebene ein. Medienberichte ergänzen insbesondere die Evaluation der Umsetzungserfolge, was somit einen „Mehrperspektivenansatz“ ermöglicht.

 

Die Evaluation bietet nicht nur für die Berliner Verwaltung Überblick und Analyse zum Stand und

möglichen Baustellen der Umsetzung der vorangetriebenen E-Government-Integration, sondern

versucht insbesondere für die übrigen deutschen Bundesländer Lehren und Handlungsempfehlungen

bereitzustellen. Denn über kurz oder lang stehen alle Länder vor der Aufgabe, nahtlose E-Government-Dienstleistungen für ihre Bürger anzubieten, da Deutschland bekanntermaßen als „E-Government laggard“ gilt (European Commission 2014: 18). Berlin stellt da zwar bereits eine Ausnahme dar, aber nur was die elektronische Informationsbereitstellung und weniger die Interaktion und Transaktion von Dienstleistungen anbelangt (McKinsey 2015: 10).

 

 

Baptiste Aguila (Universität Kassel): Performance management als Instrument der Koordinierung? Erste Einblicke in die Experteninterviews auf zentraler Ebene in Deutschland, Frankreich und Schweden

Performance Management, gesehen als „dritte Welle“ der verschiedenen Evaluationsbewegungen seit der ersten Evaluationswelle in den 60er und 70er Jahren, gerät zunehmend ins Kreuzfeuer der Kritik (Wollmann 2004). Eine reichhaltige Literatur (z.B. Smith 1995, Van Thiel and Leeuw 2002, Pidd 2005, Radnor 2008) hebt die dysfunktionalen Effekte von Performance Management im öffentlichen Sektor hervor. In diesem Kontext, wird Performance Manage-ment unterstellt, das Verhalten der Akteure in und außerhalb der Verwaltung negativ zu beeinflussen (Van Dooren et al. 2010: 158-165). Bekannte dysfunktionale Effekte von Performance Management sind z.B. Tunnelblick, Subop-timierung, Kurzsichtigkeit, Fixierung auf die Messung, falsche Darstellung, Fehlinterpretation, Gaming und Erstar-rung (Smith 1995). Dieses Paper setzt sich dieser Perspektive entgegen und betrachtet Performance Management als ein Instrument der Koordinierung und Kooperation.

 Anhand der Ergebnisse von zehn Experteninterviews auf den zentralen Ebenen in Deutschland, Frankreich und Schweden wird ein Bild der Koordinierungsbeziehungen im Politikfeld frühkindliche Bildung und Betreuung ge-zeichnet und dieses in Verbindung mit der Implementierung von Performance Management gesetzt. Dabei wird performance management nicht im engeren Sinne von Leistungsmessung und Leistungsindikatoren verstanden; Performance Management umfasst vielmehr eine breite Palette an Instrumenten, die sich von Planung, Monitoring, Evaluation, Berichterstattung, Inspektion bis auf Audits, Supervision und Qualitätsmanagement erstreckt. Über die Sammlung und das Aggregieren von Information über Qualität hinaus, spielen strategische (De Waal et al. 2011) und politische Strategien eine erhebliche Rolle. Die Information über Qualität ist nicht neutral, sondern kann im Sinne von politischen Strategien gesteuert werden. Die Art und Weise, wie sich Informationen über Qualität inner-halb der Verwaltungsstruktur weitergeleitet werden, kann darüber hinaus Aufschluss über die Koordinations- und Machtbeziehungen in diesem Politikfeld geben (De Waal and Von Dooren 2010). Indem Performance Management das Wissen und die Erfahrungen einer Vielzahl von institutionellen und nicht-institutionellen Akteure berücksichtigt, gewinnt es an politische Kraft und steigert gleichzeitig die Problemlösungsfähigkeit, aber auch die Komplexität dieser Lösungen.

 

 Es stellt sich die Frage, warum Deutschland, Frankreich und Schweden sich bei der Implementierung von Perfor-mance Management sehr stark unterscheiden. Diese Frage wird anhand von drei Hypothesen überprüft. Erstens, die verschiedenen administrativen Systeme und Traditionen wirken sich auf die Auswahl der Instrumente von Perfor-mance Management aus (Kuhlmann 2010); zweitens, die institutionellen Logiken (Thornton et al. 2012) fungieren als Filter zwischen den administrativen Systemen und Traditionen und der Implementierung von Performance Ma-nagement; schließlich bilden die spezifischen Akteurkonstellationen auf Makro- und Meso-Ebene ein spezifisches Performance Regime (Talbot 2010), das die Implementierung von Performance Management stark beeinflusst.

Um die Implementierung von Performance Management in Deutschland, Frankreich und Schweden zu vergleichen, wird auf die Typologie von Bouckaert und Halligan (2008) zurückgegriffen: Deutschland und Frankreich werden als idealtypische Modelle ‚performance administration‘ und Schweden ‚management of performance‘ eingestuft. In-wiefern diese Typologie im Politikfeld frühkindliche Bildung und Betreuung gilt, ist Gegenstand dieses Papers. Das Konzept von Performance Management wird in einer breiten historischen Perspektive und über den Rahmen des New Public Managements hinaus betrachtet. Laut Halligan geht Performance Management dem NPM zeitlich vo-raus, wird gleichermaßen dem NPM überleben und erweitert sich unter der Schirmherrschaft einer integrierten Governance (Halligan 2007: 43-63). Folgt dabei Performance Management die divergente Bewegung eines institu-tionellen Layering (Van der Heijden 2011) oder eher eines konvergenten Prozesses der Legitimierung staatlichen Handelns?

 

Panel 4: Ambiguitätsbewältigung im Angesicht gesellschaftlicher Akteure

Stefanie Vedder (Universität Kassel): Erwartungen der Öffentlichkeit in Krisenzeiten: Die Ernennung von Ministern und Spitzenbeamten als Signal

Ganz besonders in Zeiten von Krisen und einer damit einhergehenden erhöhten öffentlichen Aufmerksamkeit sehen sich Politiker in ihrem Handeln einer strengen Prüfung ausgesetzt: die Bevölkerung verlangt die schnelle und effektive Lösung von Problemen, erwartet ein sachkundiges Auftreten, urteilt über haus-, regierungs- und parteiinterne Konflikte und hinterfragt Interessenlagen. In solchen Ausnahmesituationen können nicht nur Verhandlungsgeschick und eine starke Stellung in Partei und Parlament ausschlaggebend für die öffentliche Wahrnehmung eines Politikers sein. Eine nicht nur rein politische Karriere könnte darüber hinaus einen Eindruck von Innovationsfähigkeit und besonderem Know-how vermitteln. Langjährige Verbindungen zu bestimmten Sektoren und Interessengruppen bieten gleichzeitig allerdings auch einen Angriffspunkt für mögliche Zweifel an der Unparteilichkeit eines Regierungsmitgliedes. Um ihre Stellung und Legitimität zu sichern, sehen sich Parteien und Regierungsoberhäupter daher insbesondere in drängenden Situationen der schwierigen Herausforderung ausgesetzt, bei der Berufung ihrer Kabinettsmitglieder eine ausgewogene Handlungsstrategie zu entwickeln und einen Ausgleich zwischen politisch schwierigen und konflikthaften Entscheidungen und den Erwartungen der Gesellschaft zu finden. In Anbetracht ihrer zentralen Rolle im politischen Prozess und bei der Unterstützung der Minister kann analog auch die Ernennung eines Spitzenbeamten zu einem in vielerlei Hinsicht brisanten Ereignis werden. 

Dies wirft die Frage auf, ob die erhöhte Forderung nach effizienter Problemlösung infolge einer Krise nicht nur Rhetoriken und Politikprogramme, sondern auch die Abwägung zwischen den zuvor genannten Faktoren und damit die Ernennungspraxis für Politiker und Spitzenbeamte beeinflusst. Sollte dies der Fall sein, wäre eine Veränderung der vorherrschenden Karrieremuster innerhalb der Führung und obersten Ränge in der Ministerialverwaltung zu erwarten. Die Annahme lautet, dass unter krisenhaften Bedingungen zur Vermittlung von Souveränität und Kompetenz häufiger Personen, die professionelle Erfahrungen aus politk- und verwaltungsfernen Bereichen vorweisen können und stattdessen Fachkenntnisse zum momentan in der Diskussion stehenden Thema mitbringen, in das Amt eines Ministers oder Staatssekretärs berufen werden. Eine Krise soll dabei definiert werden als „eine über einen gewissen (…) Zeitraume anhaltende massive Störung des gesellschaftlichen, politischen oder wirtschaftlichen Systems“ (Schubert/Klein 2016).

Zur Beantwortung der Frage werden in einem zunächst quantitativen Vorgehen die Karrieremuster von Ministern und Spitzenbeamten, die innerhalb der Rezession vom 01. Januar 2009 bis zum 30. Juni 2010 in Bund und Ländern ernannt wurden, untersucht. Im Rahmen der in 2008 beginnenden Bankenkrise zeigten sich auch in Deutschland deutliche Auswirkungen auf die Wirtschaftsleistung, die 2009 gemessen am Bruttoinlandsprodukt im Vergleich zum Vorjahr ein historisches Tief erreichte (-5,0%, Statistisches Bundesamt 2010). Konsequenz war ein massiver Vertrauensverlust der Bevölkerung in die politische Steuerungskraft des Finanz- und Wirtschaftssektors sowie auch eine wachsende Kritik hinsichtlich Fragen der Europäischen Union. Als Kontrollgruppe dienen die Personen, die ihre Positionen innerhalb des wirtschaftlich besonders starken Zeitraums 01. Januar 2006 bis 30. Juni 2007 antraten. Es wird angenommen, dass die Ernennung von Politikern und Spitzenbeamten als Signal genutzt werden kann, um diesem Vertrauensverlust entgegenzusteuern und stattdessen durch personelle Verbindungen zwischen betroffenen Sektoren den Eindruck von erhöhter Problemlösungsfähigkeit zu vermitteln.  

Anschließend bietet sich die nähere Betrachtung von Einzelfällen an. Dadurch können erstens diejenigen Ressorts, die in besonderem Maße von der Wirtschaftskrise betroffen sind – Wirtschaft, Finanzen, Arbeit – anderen, vermutlich weniger stark berührten Ministerien gegenübergestellt werden. Zweitens ermöglicht dieses Vorgehen die Identifizierung weiterer erklärender Faktoren wie etwa der Parteihintergrund der jeweiligen Person oder der Einfluss einer spezifischen Regierungskoalition.

 

Stefan Thierse (Universität Düsseldorf): Litigation, mobilization and venue-shopping: The role of NGOs in constitutional complaints

 In numerous member states of the European Union (EU), the right to challenge violations of constitutional rights before a specialized tribunal is not reserved to parliamentary minorities, but afforded also to private citizens. From a legal standpoint, the so-called constitutional complaint is an extra-ordinary and subsidiary remedy available to any citizen who can claim and justify a personal, current and immediate infringement of his fundamental rights due to an act of a public authority. Recourse to this measure is intended neither as a blank option to short-circuit the appeal stages of the specialized courts nor as a vehicle for class action. Against this backdrop, the growing number of constitutional complaints lodged by many, often tens of thousands of litigants, presents an empirical puzzle that begs a closer investigation into the political implications of the procedure. Moving beyond a strictly legalistic interpretation, it has been suggested that constitutional complaints serve a mobilizing and participatory function (Gusy 2014; Schreier 2013). Similar to petitions, so-called collective constitutional complaints lend themselves to creating critical publicity and mobilizing citizens for political objectives. The increasing number of constitutional complaints that are embedded in professional campaigns organized by non-governmental organizations (NGOs), accompanied by mass protests and directed at policies emanating from the EU level point in this direction. This raises a number of questions:

 Under what conditions do non-governmental organizations (NGOs) organize and initiate constitutional complaints?

To what extent do NGOs coordinate their actions with parties from the parliamentary arena?

Which channels do NGOs work through to achieve coordination?

 Drawing on the theory of venue shopping (Pralle 2003; Kaunert et al. 2013), this paper considers access to constitutional review as a strategic, albeit demanding option available to advocacy groups to address grievances with current policy, overcome policy inertia and rally support for alternative proposals. The institutional and ideational prerequisites for venue shopping are analyzed in two case studies on the Comprehensive Economic and Trade Agreement (CETA) and the data retention directive (DRD). In terms of institutional determinants, the paper explores strategic interactions and coordination mechanisms between actors from the parliamentary and extra-parliamentary arena. As for ideational determinants, the case studies will gauge the use and impact of framing to highlight strategic policy discrepancies (Murphy and Kellow 2013) and draw support from constitutional courts. Ultimately, the empirical analysis speaks more broadly to the need to consider alternative routes through which extra-parliamentary actors can exercise functions associated with institutionalized opposition: hold policy-makers accountable, demand serious consideration of their claims, and qualify or even overturn policy decisions.