Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft
Sektion Policy-Analyse und Verwaltungswissenschaft

Politik und öffentliche Verwaltung - Konvergenz unter Divergenz unter den Bedingungen exogener Veränderungsimpulse

Die 9. Jahrestagung des Forums Junge Staats-, Verwaltungs- und Policyforschung (FoJuS) fand am 11. und 12. Februar 2016 an der Leibniz Universität Hannover statt. Die Tagung stand dieses Mal unter dem Thema "Politik und öffentliche Verwaltung - Konvergenz unter Divergenz unter den Bedingungen exogener Veränderungsimpulse". Folgende Papiere wurden vorgestellt:

 

 

Jana Bertels & Lena Schulze-Gabrechten (beide Universität Potsdam; SOG-PRO)

 

Strukturelle Veränderungen in der Ministerialorganisation Deutschlands –

am Beispiel des Krisenmanagements und der Selbstorganisation zweier klassischer Ministerien 1980-2010

 

Durch Konstitution und Konvention begründet, gibt es auf Bundesebene wenig Varianz im Zuschnitt der Ministerien. In der verwaltungswissenschaftlichen Literatur finden sich hingegen die begründete Vermutung und erste empirische Hinweise darauf, dass die Binnenorganisation der Bundesministerien anfälliger für strukturelle Veränderungen ist. Hieraus ergeben sich die Fragen, welche Art von strukturellem Wandel dort zu beobachten ist und wie sich dieser erklären lässt. Diese Fragen sind besonders virulent angesichts eines stetigen Anstiegs externer Herausforderungen an die Regierungsorganisation - und damit möglicher Druckmomente für strukturellen Wandel, die sich dadurch begründen lassen, dass die moderne Gesellschaft durch Prozesse wie Globalisierung und Mediatisierung immer komplexer wird. Dies lässt sich exemplarisch anhand der erheblichen Zunahme von krisenhaften inneren und äußeren Bedrohungslagen in den letzten drei Jahrzehnten belegen. Seitens staatlicher Institutionen ist eine adäquate Reaktionsfähigkeit mehr denn je gefordert. Der Versuch eine Steigerung der Reaktionsfähigkeit zu erzielen, bildet sich, so wird in diesem Papier angenommen, auch durch strukturellen Wandel in der formalen Binnenstruktur der Regierungsorganisation ab. Neben der Zunahme an Krisen werden aufgrund der steigenden Komplexitätsanforderungen aus der gesellschaftlichen Umwelt immer mehr und immer vertracktere Problemstellungen an die Regierungsorganisation herangetragen. Den daraus resultierenden Änderungsanforderungen gilt es ebenfalls im Rahmen der Regierungsorganisation zu begegnen. Es ist daher davon auszugehen, dass sich nicht nur politikformulierende und -implementierende Einheiten, sondern auch die Selbstorganisation der Regierung strukturell verändert, um letztlich die Handlungsfähigkeit der Exekutive zu gewährleisten. Ausgehend von dieser Entwicklung soll im Rahmen dieses Papiers auf einen Ausschnitt des strukturellen Wandels in der Binnenorganisation und dem nachgeordneten Bereich von Bundesministerien eingegangen werden - zum einen auf die Veränderungen im Bereich der portfolioübergreifenden Aufgabe des Krisenmanagements und zum anderen im Bereich so genannter ‚transversaler’, also mit Querschnittsfunktionen betrauten Einheiten, die mit der Selbstorganisation und Strategieentwicklung der Ministerien betraut sind. Es wird vorläufig angenommen, dass die regierungsinterne Komplexitätsbewältigung mit einer Ausdifferenzierung von Aufgaben und Funktionen einhergeht. Dazu analysiert dieses Papier anhand quantitativer und qualitativer Daten den strukturellen Wandel in der Binnenorganisation zweier „klassischer“ und damit im Ressortzuschnitt besonders stabiler Bundesministerien im Zeitraum der letzten drei Jahrzehnte.

 

 

Stefan Lindow (Universität Göttingen)

 

Raum für Ministerialbürokratien in den Theorien des politischen Prozesses

 

Damit exogene Ereignisse als Impuls der Veränderung auf ein Politikfeld einwirken, braucht es die Agency. Theorien des politischen Prozesses erklären Politikwandel durch die Analyse der Interaktionen von begrenzt-rationalen Akteuren in Reaktion auf endogene oder exogene Veränderungen (Sabatier/Weible 2014).Der Advocacy Coalition Framework (ACF) etwa sieht die Interaktionsmuster von Koalitionen und ihrer Mitglieder sowie ihre Lernfähigkeit als kausal erklärend an. Staatliche Akteure wie etwa Ministerialbürokratien sind allerdings in jedem Policy Subsystem wichtige Akteure, besitzen sie doch wichtige für Advocacy Coalition nützliche Ressourcen oder sind wichtige Akteure im Netzwerk. Welches Handeln von Ministerialbürokratien sagt der ACF in Reaktion auf externe Veränderungsimpulse voraus?

Dieser Beitrag skizziert die Hauptelemente des ACF: (1) das Policy-Subsystem als System thematischer Interaktion sowie den koordinierenden Effekt von Beliefs Systems der Akteure. Dabei wird in die idealtypische Unterteilung in dominierte, kollaborative und gegnerische Subsysteme eingeführt. Zweitens wird gezeigt, dass trotz aller „staatsferne“ der Theorien, der Staat in seinen Bestandteile zerlegt (Institutionen, Instrumente, Akteure..) sich in den Theorien sehr wohl verorten und nutzbar machen lässt. Drittens verbindet dieses Paper die Idee von politisch-nahen Krisen (zum Subsystem) mit den Zielsetzungen unterschiedlicher Agency-Typen, dem proaktiven political entrepreneurs, die ein klares Veränderungziel verfolgen, und den policy broker, die den Ausgleich suchen. Somit wird ein Hypothesenset entwickelt, dass die je nach Anzahl und Agencytyp der involvierten Ministerialbürokratie mit der strategischen Situation des Subsystemtyps kombiniert.

Ziel des Beitrages ist, aus den Theorien des politischen Prozesses Kategorien zu gewinnen, welche die Analyse der politischen Ministerialverwaltungen in politischen Prozessen ermöglichen, sowie Teile eines kausalen Mechanismus zu konstruieren.

 

 

Christoph Czychun (Universität Duisburg Essen)

 

Das Gelingen der Pre-Merger-Phase von Verwaltungsvereinigungen auf der Mesoebene einer evangelischen Landeskirche

 

Auf die Kreiskirchenämter der Kirchenkreise der Evangelischen Kirche von Westfalen wirkt ein exogener Anpassungsdruck aufgrund von Problemen. Zu nennen sind u. a. der Rückgang der Kirchenmitglieder und die daraus resultierende ökonomische Krise, Kostendruck und gestiegene Anforderungen. Zudem wurde innerhalb des kirchlichen Mehrebenesystems im Jahr 2000 vonseiten der Landeskirche mit „Kirche mit Zukunft“ ein umfangreicher Reformprozess initiiert, der als Steuerungsimpuls ohne rechtliche Vorgaben funktioniert. Er propagiert Verwaltungsvereinigungen innerhalb von durch den Reformprozess geschaffenen Gestaltungsräumen, da eine fusionierte Verwaltung gleichzeitig billiger und professioneller arbeiten könne. Als Reaktion auf die Probleme und den Steuerungsimpuls der Landeskirche gab es zwischen den Kirchenkreisen immer wieder Projekte zur Vereinigung ihrer Kreiskirchenämter zu größeren Einheiten. Acht Fusionen wurden erfolgreich absolviert, allerdings sind auch mindestens acht gescheiterte Versuche bekannt. Anhand von fünf Fallstudien mit divergierendem Ergebnis, die sich auf einen qualitativen Ansatz aus Aktenanalyse und Leitfadeninterviews stützen, wird nun geprüft, was Faktoren für das Gelingen der Pre-Merger-Phase, also der Phase der Initiierung und der Vorbereitung, einer Verwaltungsvereinigung sind. Als theoretischer Rahmen fungiert eine den akteurzentrierten Institutionalismus mit dem Fusionsphasenmodell kombinierende Analyseheuristik sowie das Acht-Stufen-Modell der Veränderung von John P. Kotter. Als vorläufiges Ergebnis der empirischen Phase kann festgestellt werden, dass eine Vereinigung eingeleitet wird, wenn ein „window of opportunity“ durch das Ausscheiden mindestens einer Verwaltungsleitung vorliegt sowie ein Problembewusstsein bei den Akteuren besteht. Eine funktionierende Führungskoalition aus den Superintendenten der beteiligten Kirchenkreise, eine umfassende Kommunikation mit den Mitarbeitenden, ihrer Vertretung und den kirchenkreisleitenden Gremien sowie die Generierung von Unterstützung erhöhen die Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen Abschlusses der Pre-Merger-Phase durch einen Beschluss der Kreissynode zur Aufnahme von offiziellen Vereinigungsverhandlungen.

 

Der Beitrag ist im bislang nur schwach untersuchten und von der Betriebswirtschaft dominierten Forschungsfeld „Public Merger“ verortet und nimmt Bezug auf die Spezifika kirchlicher Verwaltung, die als wissenschaftlich nahezu unbekannter Untersuchungsgegenstand gelten kann. Daher könnten durch ihn neue Impulse für den gegenwärtigen verwaltungswissenschaftlichen Diskurs generiert werden.

 

 

Maximilian Hösl / Ronja Kniep (WZB)

 

Auf den Spuren eines Politikfeldes: Wandel in Ministerien als diskursive Institutionalisierung von Internetpolitik

 

Wo entstehen neue Politikfelder? Auch in alten Ministerien. Dieser Beitrag beschreibt den Wandel von Verwaltungsstrukturen in zwei Ministerien (BMI, BMWi) am Beispiel von Internetpoltik als einen Prozess der diskursiven Institutionalisierung, der auf die Entstehung eines neuen Politikfeldes hindeutet. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass nicht nur Ministerien als Ganzes, sondern auch Fachabteilungen und ihre “community” politikfeldspezifische Expertise und Handlungslogiken produzieren. Gleichzeitig sind Ministerien zwar stabile, aber auch politisch responsive Orte, in denen innerministerielle und öffentliche Diskurse durch neue Organisationseinheiten eingeschrieben und so auf Dauer gestellt werden. In Anlehnung an die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) werden die Organigramme der Ministerien als materielle Einschreibungen von Diskursen verstanden. Organigramm-Historien und berufsbiografische Interviews mit Ministerialbeamten zeigen, wie sich vor dem Hintergrund nationaler und internationaler Diskurse seit 1995 (BMWi) bzw. 2002 (BMI) internetspezifische Kompetenzen institutionalisieren. Organisationseinheiten außerhalb der “ordentlichen” Hierarchie (z.B. Projektgruppen oder Stäbe) wurden allmählich zu eigenen Fachabteilungen. Zwar hat sich Internetpolitik im BMWi über wirtschafts- und im BMI über sicherheitspolitischem Problemwahrnehmungen institutionalisiert. Es tritt jedoch insgesamt auch ein internetpolitisches, Spannungsfeld hervor: Zwischen dem Internet als “Wert an sich” (Innovation, Wirtschaftswachsum,,schutzbedürftige Infrastrukturen) und anderen, etablierten Wertevorstellungen (Schutz traditioneller,Gewerbe, Kompetenzen der Sicherheitsbehörden).

 

Basanta Thapa (Universität Potsdam)

 

Wissenspolitische Effekte von Big Data Analytics im politisch-administrativen System

 

Possible consequences of Big Data Analytics in government are not limited to the extremes of total surveillance and citizen-centred responsiveness. From a perspective of knowledge politics, Big Data analyses of exclusive government data could bring about a monopoly on policy-relevant knowledge by government, resulting in the increasing depoliticization and technocratization of policy issues, the rise of data scientists to high political influence, and the exclusion of interest groups that are not able to produce Big Data-based counter-expertise. This raises awareness for the knowledge political examination of the further development of Big Data in government.

 

 

Jared Sonnicksen(TU Darmstadt)

 

Exogenous shock or endogenous dilemma: Dementia and the challenges for democratic policy-making

 

There are currently millions of people with Alzheimer and other dementia related conditions. Considering relatives and caregivers among others, this means additional millions of people affected. Despite expansive research also on the impact on welfare and health-care systems, the question of dementia from a democratic perspective has been neglected thus far. However, the current situation and projected developments require us to reflect on how participation and inclusion are fundamentally challenged for citizens with dementia. Consequently, the following explores pressing theoretical implications and emerging democratic deficits for societies where, constrained by conventional forms of participation, a rapidly increasing number of citizens are excluded from political processes. Furthermore, as will be illustrated, non-conventional and participatory oriented concepts could even exacerbate rather than ameliorate inclusion and participation. Finally, I further hope to prompt reflection on possible avenues to enhancing representation and inclusion, ensuring ‘vote and voice’ to an ever growing group of citizens.

 

 

Ina Radtke (Universität Potsdam)

 

National immigration agencies striving for legitimacy - The Case of the German Federal Office for Migration and Refugees

Immigration constitutes an iteratively salient matter for national governments, e.g. the asylum crisis or labour immigration in the context of skill shortages. As governments’ response, policy change and organizational change is observable in the policy field. Competencies concerning immigration are spread across ministries and levels of government. Yet, national immigration agencies constitute organizational symbols of this policy issue. Thus, particular attention is drawn to national immigration agencies, especially in a reform context. The paper thus aims at investigating national immigration agencies in the context of policy and organizational change. It follows the neo-institutionalist argument that maintaining legitimacy is key to the survival of organizations. Introduced change can thus be interpreted as strategies to maintain or repair organizational legitimacy in times of institutional crises. The paper hence asks: What legitimacy concerns explain the changing role of national immigration agencies within immigration regulation? The single case study focusses on the role of the German national immigration agency in the course of the immigration reform of 2004/2005. In this context, the Federal Office for Migration and Refugees has replaced the Federal Office for the Recognition of Foreign Refugees. Since then, it has been supposed to develop from a purely asylum authority to a so-called 'competence center for migration and integration'. The paper applies a qualitative case study design which builts on a qualitative document analysis and semi-structured interviews.

 

 

Frederik Brandenstein und Daniela Strüngmann, Universität Duisburg-Essen

 

Kraft aus der Krise - Muster der Problembewältigung am Beispiel des Flüchtlingszustroms

 

 

Im Kontext des Zustroms von Flüchtlingen nach Deutschland wird allenthalben von einer Krise gesprochen, die Politik und Verwaltung in besonderer Weise fordert. Wir nehmen dies zum Anlass, den Begriff der Krise für das politisch-administrative System zu präzisieren und eine Heuristik zu entwerfen, die es erlaubt, Krisen miteinander zu vergleichen.

 

Es wird die These aufgestellt, dass bei Eintreten einer Krise die normalen Routinen des alltäglichen politisch-administrativen Handelns nicht mehr greifen; jedoch kein Vakuum entsteht, sondern an diese Stelle typische Handlungsmuster und Routinen der Krise treten. Bezugspunkt sind entsprechend die Routinen politischen und administrativen Entscheidens, die von Beobachtern, vermittelt über die Medien, in normale und Krisenroutinen unterschieden werden.

 

Da solche Krisenroutinen Folgen für die zeitlichen Abläufe politisch-administrativen Entscheidens (z.B. werden Dienstwege verkürzt, Sondersitzungen angesetzt, Eilentscheidungen getroffen) und für die Integration im Mehrebenensystem (z.B. Stäbe werden gebildet, Koordinatoren bestellt) haben, hat der der Rückgriff auf sie Folgen

für die Problembewältigung durch Politik und Verwaltung.

 

Der im Beitrag entwickelte analytische Rahmen unterteilt Krisenroutinen inhaltlich in typische Muster, zeitlich nach der Verteilung von medialer Aufmerksamkeit (Issue-Attention Cycle). Am Beispiel der aktuellen Flüchtlingspolitik sowie am Oder-Hochwasser von 1997 wird die Heuristik exemplarisch angewandt.

 

 

Baptiste Aguila (Free University of Berlin)

 

Early childhood education and care (ECEC) policy in Europe. The coordination of performance measurement regimes (PMR) and systems (PMS) in the educational governance field at the regional and local government levels in France, Germany and Sweden.

 

The monitoring and evaluation of Early Childhood Education and Care (ECEC) in Europe lies at the nodal core between internal managerial and external decentralization reform waves challenging the knowledge generation and processing capacity of the welfare states. The Barcelona Council set up in 2002 a common European monitoring strategy but France, Germany and Sweden adopted entirely distinct policies to enhance ECEC efficiency and quality. Global educational governance mechanisms like the PISA studies from the OECD are strong exogenous factors for change in administrative and political structures at the national, regional and local levels of governance. Since international longitudinal studies show the positive long-term effects of a high pedagogical quality ECEC on children´s learning outcomes (Barnett, 2008), EU Member States are committed to coordinate their complex multi-level educational governance systems to monitor, evaluate and improve process quality. My proposal aims to explain the divergence in ECEC performance measurement regimes and systems (Talbot, 2010) at regional and local levels of governance. Why did France, Germany and Sweden adopt different monitoring and evaluation strategies for the improvement of ECEC pedagogical process quality at regional and local levels of governance between 2002 and 2012? My main causal inference is that the interaction of: (a) distinct political and administrative traditions, (b) national conceptions of pedagogical quality and (c) current state interventions untangles the puzzling divergence in performance measurement strategies. Four analytical dimensions explain this variation: (1) the level of performance regime will impact on the local actor constellation and on local educational governance; (2) the vertical mode of coordination will predict if the different levels of ECEC governance are working towards coherent objectives; (3) the horizontal mode of governance will consider the split or integration of responsibilities in one or different administrative units; (4) the steering mechanism will inform the choice of monitoring and evaluation instruments and tools. My theoretical framework is profoundly interdisciplinary and will encompass the research on regional and local governance, neo-institutionalism, the research on pedagogical quality and the performance regime theories.

 

 

Stephan Vogel (Cologne Graduate School of Management, Economics and Social Sciences)/ Iris Reus (Universität Bamberg)

 

Welches Land treibt die Divergenz voran? Landesgesetzgebung und Abweichung vom Policy-Mainstream im deutschen Bundesstaat

 

Die regionale Ebene wurde in den vergangenen Jahrzehnten in zahlreichen Demokratien machtpolitisch gestärkt, vielfach in Reaktion auf exogene Veränderungsimpulse wie Globalisierung und Europäisierung. Allerdings nehmen die regionalen Parlamente ihre neuen Rechte in unterschiedlichem Umfang in Anspruch. Während einige Regionen eigenständige Politiken verfolgen, entscheiden sich andere Regionen dafür, im Policy-Mainstream zu verbleiben.

 

Die bisherige Forschung fokussierte sich in diesem Zusammenhang sehr auf die aktive Rolle von Regionen mit starken (nationalen) Identitäten. Dieses Paper untersucht hingegen, welche Faktoren für Policy-Divergenz in Bundesstaaten verantwortlich sind, die über keine regionalen ethnischen Minderheiten verfügen. Die Föderalismusreform 2006 ist hierfür ein aufschlussreicher Fall. Sie stattete die deutschen Bundesländer mit 16 neuen ausschließlichen Gesetzgebungskompetenzen aus. Es zeigt sich, dass sich die Länder erheblich unterscheiden in Hinblick darauf, wie sehr sie die neuen Kompetenzen nutzen, um vom Policy-Mainstream (d.h. der Politik der meisten anderen, Länder) abzuweichen. Zu diesem Zweck untersuchen wir die Gesetzgebungsaktivitäten auf Grundlage einer umfangreichen Datenbank, die die angesprochenen 16 Politikfelder erfasst. Um die Unterschiede zwischen den Landesgesetzen zu quantifizieren, wurde für jede Kompetenz ein Index erstellt.

 

In einem zweiten Schritt werden die Faktoren identifiziert, aufgrund derer die Länder eigenständige Gesetze verabschiedeten anstatt das ehemalige (einheitliche) Bundesgesetz in Kraft zu belassen oder den Gesetzen der anderen Länder inhaltlich zu folgen. Mit einer Paneldatenanalyse, die sich auf die Jahre 2006 bis 2013 erstreckt, werden vier Variablensets geprüft. Diese beziehen sich auf die Größe bzw. Stärke der Länder (Bevölkerung, Fläche, Finanzkraft, Verwaltungskapazität), die sozioökonomischen Bedingungen, die Vetospieler sowie die Einstellungen der Wähler und auch der Parteien zu föderaler Vielfalt. Bislang wird in der Literatur davon ausgegangen, dass insbesondere die großen und finanzstarken Länder

häufiger eigenständige Gesetze verabschieden. Der Beitrag zur Forschung besteht darin, dass diese Annahmen der deutschen Föderalismusforschung, die vor allem auf politikfeldspezifischer, oder anekdotischer Evidenz basieren, erstmals systematisch und politikfeldübergreifend getestet werden.

 

 

Iris Reus (Universität Bamberg)

 

Auf dem Weg zu ‚neuem Föderalismus‘ oder Unitarismus wie bisher? Analyse der Gesetzgebung in den deutschen Bundesländern nach der Föderalismusreform 2006

 

Die Föderalismusreform I (2006) stellt die umfangreichste Verfassungsreform seit 1949 und somit eine Zäsur für das föderale System der BRD dar. Hintergrund war die Politikverflechtung zwischen Bund und Ländern, durch welche auf beiden Ebenen autonomes politisches Handeln und adäquate Reaktionen auf die Herausforderungen von Globalisierung und Europäisierung kaum noch möglich waren. Um den Ländern – und hier insbesondere den Landtagen – wieder mehr autonomen Gestaltungsspielraum zu verschaffen, wurden u.a. 16 Gesetzgebungskompetenzen neu in die ausschließliche Landeszuständigkeit übertragen.

 

Mein Paper untersucht die Wirkung der Föderalismusreform auf Landesebene. Neben dem rechtlich vorhandenen neuen Gestaltungsspielraum hängt diese wesentlich davon ab, wie die Länder ihre neuen Gesetzgebungskompetenzen tatsächlich nutzen. Bereits kurz nach Inkrafttreten der Reform zeigten sich vielfach Koordinationsbemühungen, die neuen Möglichkeiten autonomer Landespolitik wurden also nicht genutzt, sondern lediglich die bisherige vertikale durch (freiwillige) horizontale Verflechtung ersetzt. Damit werden allerdings die Reformziele konterkariert, statt neuer Policy-Divergenz ist weiterhin Einheitlichkeit die Folge. Die Forschungsfrage lautet daher: „Unter welchen Bedingungen nutzen die Länder ihre neuen Gestaltungsmöglichkeiten für eigenständige Politik?“.

 

Zur Beantwortung der Frage habe ich ein theoretisches Modell entwickelt, welches verschiedene Erklärungsfaktoren der Föderalismusforschung sowie der Politikfeldanalyse zusammenbringt. Dieses Modell wird anhand ausgewählter neuer Gesetzgebungskompetenzen – Strafvollzug, (Pflege-)Heime, Spielhallen und Ladenschluss – getestet. Dabei werden jeweils alle Gesetzgebungsprozesse in allen 16 Ländern zwischen 2006 und 2015 in Form qualitativer Fallstudien analysiert. Auf Basis der Land-tagsdokumente (Plenarprotokolle, Anfragen etc.), der Medienberichterstattung sowie ergänzend Interviews mit Akteuren aus Politik und Verwaltung wird die Entwicklung vom Beginn der politischen Debatte bis zur abschließenden Entscheidung in den Landtagen im Detail nachvollzogen.

 

Der Beitrag zur Forschung besteht zunächst in der Entwicklung des theoretischen Modells, wobei durch die systematische Auswahl der Kompetenztitel politikfeldübergreifende, generalisierende Aussagen möglich werden. Die qualitative Vorgehensweise ermöglicht es dabei, kausale Mechanismen herauszuarbeiten und zu überprüfen. In empirischer Hinsicht bietet die Arbeit eine tiefgreifende Analyse der bislang wenig erforschten Landesgesetzgebung und beleuchtet vier wesentliche neue Landeskompetenzen näher.