Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft
Arbeitskreis "Soziologie der internationalen Beziehungen"

Jahrestagung des DVPW-Arbeitskreises „Soziologie der internationalen Beziehungen“ (AK SiB) in Kooperation mit dem Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK)

Thema: Kritik

26. & 27. November 2020

Organisationsteam:
Ben Christian (Frankfurt)
Katja Freistein (Duisburg-Essen)
Christian Scheper (Duisburg-Essen)
Sebastian Schindler (München)
Antonia Witt (Frankfurt)

Anmeldung: Die Tagung ist offen für alle Interessierten. Auch eine kurzfristige Zoom-Teilnahme ist möglich, aber für eine bessere Planbarkeit bitten wir alle ohne eigenen Beitrag um Anmeldung beim Organisationsteam (cscheper@inef.uni-due.de).

Zum Thema der Tagung
Kritik gilt seit der Aufklärung als Mittel der Emanzipation. In der jüngeren Zeit haben sich allerdings Formen der Kritik ausgebreitet, die oftmals nicht als befreiend, sondern als einengend und unterdrückend wahrgenommen werden. Hierzu zählen etwa verschwörungstheoretische Denunziationen „der Medien“ oder feindselige Anschuldigungen gegen Geflüchtete, die in nationalen genauso wie in internationalen Sphären kursieren. In Bezug auf kritische Wissenschaft behauptete Bruno Latour schon 2004, Kritik sei der „Dampf“ ausgegangen. Die außergewöhnliche Situation der weltweiten Corona-Pandemie – mit ihrer gesellschaftspolitischen Dynamik, der wissenschaftlichen Komplexität der Debatte um geeignete Maßnahmen und den tiefgreifenden Folgen für gesellschaftliches Leben – stellt kritisches Engagement vor neue Herausforderungen. Wir wollen diese Wahrnehmungen einer „Krise der Kritik“ zum Anlass nehmen, um die Rolle von Kritik in einer Soziologie der internationalen Beziehungen (IB) zu klären. Insbesondere zwei Fragen stehen im Zentrum unserer Tagung. Erstens stellt sich die Frage, ob und inwiefern unsere Forschung selbst Kritik äußern oder kritisch Stellung beziehen soll (d.h. „kritische Soziologie“ sein soll). Zweitens stellt sich die Frage, ob und inwiefern die Kritik sozialer Akteure zum Gegenstand unserer Forschung werden kann oder soll (d.h. eine „Soziologie der Kritik“ möglich und sinnvoll ist).
1. Sollte unsere Forschung kritisch sein? Kann sie es sein? Muss sie es sogar sein? Und wenn ja, inwiefern? Die „Werturteilsfreiheit“, die Max Weber als Wesenszug soziologischer Forschung postulierte, bedeutete nicht einmal für Weber eine völlige Abwesenheit normativer Positionierung. Das Programm einer sich selbst als kritisch verstehenden Forschung hat mehrere Ursprünge. Karl Marx und Friedrich Engels, Theodor Adorno und Max Horkheimer, Antonio Gramsci und Chantal Mouffe, Pierre Bourdieu und Judith Butler sind einige der bekanntesten Exponenten. Dieses Programm hat auch in den Internationalen Beziehungen seinen Niederschlag gefunden. Marxismus und Kritische Theorie, Poststrukturalismus, Postkoloniale Theorie und Feminismus zählen dort zu den bekanntesten Strömungen kritischen Denkens. Wie positioniert sich heute eine kritische Soziologie der internationalen Beziehungen? Wie können wir und wie sollen wir heute, nach Bruno Latours Kritik an der Kritik, kritisch Bezug nehmen auf die Gegenstände unserer Forschung?
2. Sollte Kritik ein Gegenstand unserer Forschung sein? Wie gehen wir mit der Kritik um, die die Akteure, die wir erforschen, selbst äußern? Das Projekt einer „Soziologie der Kritik“ wird weithin mit dem Namen des französischen Soziologen Luc Boltanski assoziiert. Zusammen mit seinem Kollegen Laurent Thévenot versuchte Boltanski bereits in den 1980er Jahren, die wesentlichen Kritikfiguren zu erfassen, die es in einer westlichen, modernen Werteordnung gibt. Boltanski und Thévenot (und später Boltanski und Ève Chiapello) gingen davon aus, dass in ihren Fallstudien zur französischen Gesellschaft tiefere Kritikfiguren zum Vorschein kamen, die ganz allgemein das moderne, kapitalistische Denken auszeichnen. Dieses Projekt wurde in der jüngeren Zeit auch in den Internationalen Beziehungen verstärkt aufgegriffen. Wie also wird in der heutigen Weltgesellschaft bzw. internationalen Politik kritisiert? Wie und warum werden internationale Beziehungen, internationale Institutionen, NGOs, Regierungen, etc. kritisiert? Und wie und warum äußern sie selbst Kritik? Ist es vielleicht sogar möglich und sinnvoll, wie Robin Celikates argumentiert hat, pathologische von produktiven Kritikformen zu unterscheiden und so eine „kritische Soziologie der Kritik“ zu formulieren?

Ablauf der Tagung
Um auch im virtuellen Format eine lebhafte Diskussion zu ermöglichen, haben wir die Panels als Roundtable-Format zusammengestellt. Alle Teilnehmer:innen stellen in einer ersten Runde (pro Person ca. 5 Minuten) ihre Kurzpapiere vor und haben in einer zweiten Runde noch mal Zeit, ihre Ideen zu vertiefen. Dann wird die Diskussion für die ganze Runde geöffnet. Eure jeweiligen Moderator:innen bereiten rechtzeitig vor der Tagung die Diskussion vor, mit Fragen, Kommentaren etc. Wir hoffen, dass jede/r von euch auf diese Weise Gelegenheit hat, auch untereinander zu diskutieren.

Tagungsprogramm
Donnerstag, 26. November
13.30 – 13:50 Begrüßung durch das Organisationsteam
13.50 – 15.30 Roundtable 1: Kritik in der Krise
15.30 – 16.00 Pause im Zoom-Café
16.00 – 18.00 Roundtable 2: Kritische Soziologie der internationalen Kritik
18.00 – 19.00 Zoom-Getränk mit Breakout-Bars
Freitag, 27. November
9.00 – 10.00 Roundtable 3: Dekonstruktion, Rekonstruktion, Kontingenz
10.00 – 10.30 Pause im Zoom-Café
10.30 – 11.30 Roundtable 4: Reflexion und Selbstkritik
11.30 – 12.30 Abschlussdiskussion, Mitgliederversammlung/Wahl AK SiB und Verabschiedung

Roundtable-Übersicht
Roundtable 1: Kritik in der Krise
Moderation: Ben Christian
Felix Anderl (Cambridge): Die Krise der Kritik und die Herstellung eines gemeinsamen Handlungshorizonts
Katja Freistein und Frank Gadinger (Duisburg-Essen): Selbstinszenierung am Rande des Scheiterns. Politikerdarstellung und visuelle Narrativanalyse als Ideologiekritik
Benjamin Herborth (Groningen): Soziologie der Kritik oder Kritik der Soziologie?
Sebastian Schindler (München): Kritik in Zeiten post-faktischer Politik
Christine Unrau (Duisburg-Essen): „Besorgte Bürger“ vs. „Fremde von Jottwede“: Rechtspopulismusforschung zwischen Empathiekritik und empathischer Kritik

Roundtable 2: Kritische Soziologie der internationalen Kritik
Moderation: Christian Scheper
Ben Christian (Frankfurt): Analyse und Kritik der ‘Bedingungen von Kritik’ in internationalen Organisationen
Fabian Endemann (Münster): Blinde Flecken des internationalen Migrationsrechts
Thomas Müller (Bielefeld): Mit Zahlen kritisieren: die 2%-Debatte der NATO
Holger Niemann (Hamburg): Kritik als Praxis globaler Demokratie?
Mariel Reiss (Marburg): Rethinking Diffusion between (Regional) Organizations
Michael Roseneck und Julian Frinken (Frankfurt/Mainz): Deliberation als Kritik in der „postnationalen Konstellation“. Methodologie und Anwendung

Roundtable 3: Dekonstruktion, Rekonstruktion, Kontingenz
Moderation: Katja Freistein
Ulrich Franke (Erfurt): Rekonstruktion als Kritik
Oliver Kessler (Erfurt): Kritik und Kontingenz: Zur Position der Kritik und Kritik der Position
Maria Ketzmerick (Bayreuth): Mit Sicherheit Kritik

Roundtable 4: Reflexion und Selbstkritik
Moderation: Sebastian Schindler
Konstantin Rückert (Hamburg): (Selbst-)Reflexion als Methode in den Internationalen Beziehungen am Beispiel des Begriffs der ‚europäischen Integration‘
Christian Scheper (Duisburg-Essen): Internationale Politische Soziologie der Kritik?
Christoph Weller (Augsburg): Politische Politikwissenschaft der Internationalen Beziehungen oder: Kritik der Disziplinentwicklung als politische Wissenschaftssoziologie