Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft
Politik und Geschichte

"Politik - Gesellschaft - Geschichte: Wie ging die deutsche Gesellschaft nach 1945 mit Geschichte um?"


Tagung des Arbeitskreises "Geschichte und Politik" auf dem 44. Deutschen Historikertag in Halle/Saale im September 2002


Vortragsprogramm:


PD Dr. Horst-Alfred Heinrich, Gießen:
Begrüßung


PD Dr. Edgar Wolfrum, Darmstadt:
Geschichtspolitik - Forschungsansatz und Fragestellung zwischen Geschichts- und Politikwissenschaft im internationalen Kontext

Seit der Französischen Revolution kam es zu einer Politisierung und Dynamisierung der Zeiterfahrung, zu einem neuen Verständnis der Machbarkeit von Geschichte. Zugleich wurde Geschichte zu einer Reflexionswissenschaft. "Geschichtspolitik" als transdisziplinäres Forschungsparadigma stellt die zentralen Fragen nach Interesse, Macht und Herrschaft und den Kampf darum in den Mittelpunk der Analyse, um so die Nutzung von Geschichte aufzudecken. Als nützliches Raster, um die vielfältigen Dimensionen heuristisch zu trennen, bietet es sich an, nach den 3Ps zu unterscheiden (polity, politics, policy).


PD Dr. Horst-Alfred Heinrich, Gießen:
Der Systembruch von 1945 in der kollektiven Erinnerung der Deutschen: Nationale Identität und Geschichtsbewusstsein - empirisch erforscht

Das Postulat, kollektive Erinnerungen formten die nationale Identität, darf als Allerweltsformel gelten, die insbesondere den politischen Diskurs beherrscht. Aber auch in wissenschaftlichen Beiträgen wird nicht selten unreflektiert von einem solchen Zusammenhang ausgegangen. So geht Henri Tajfel in seinen grundlegenden Überlegungen zur sozialen Identität von Tradition als einem von mehreren identitätsauslösenden Faktoren aus. Ausführliche Darlegungen zu dieser Thematik finden sich jedoch meist in Publikationen, die die postulierte Beziehung bestreiten. Danach benötigen gerade postmoderne Gesellschaften nicht den Rückgriff auf die Vergangenheit. Sie konstituieren sich vielmehr über die Anerkennung universalistischer Werte und indem sie die breite Vielfalt vorhandener Interessen respektieren, die mittels demokratischer Verfahren zu einem Ausgleich kommen. In diesem Sinn stellt Geschichte, wie Emil Angehrn es zugespitzt formuliert, ein Luxus dar, den sich heutige Gesellschaften leisten könnten, ihn aber nicht für die Herstellung kollektiver Identität benötigten. Werden beide der geschilderten Positionen auf den Punkt gebracht, liegen mit ihnen zwei gegensätzliche Hypothesen vor. Unterstellt die eine, das Empfinden einer gemeinsamen Vergangenheit fördere nationale Identität, postuliert die andere eine Null-Korrelation zwischen beiden Größen. Der Sachverhalt wurde mit den Daten einer bundesweit erhobenen Befragungsstudie empirisch getestet. Das Ergebnis zeigt, dass sich weder die eine noch die andere Hypothese in ihrer jeweiligen Absolutheit bestätigen lässt. Vielmehr bedarf es einer differenzierten Sichtweise. Grundsätzlich besteht kein Zusammenhang zwischen kollektiven Erinnerungen und nationaler Identifikation. Wahrnehmungsdifferenzen lassen sich jedoch dann nachweisen, wenn mit dem nationalistischen und patriotischen Stolz Facetten der nationalen Identifikation untersucht werden. Im Gegensatz zu Patrioten spielen zentrale Ereignisse der deutschen Zeitgeschichte offensichtlich für nationalistisch orientierte Personen eine besondere Rolle, indem sie dazu tendieren, verstörende Aspekte der Vergangenheit aus ihrer Wahrnehmung auszublenden. Die Resultate belegen somit einen nur mittelbaren Zusammenhang zwischen kollektiven Erinnerungen und nationaler Identität. Die gesellschaftliche Vergangenheit ist folglich nur bei einem Teil der Bevölkerung für Identitätsstiftung von Bedeutung. Zugleich stellen sich aber auch Fragen hinsichtlich des Konstrukts des Patriotismus. In Bezug auf die kritische Solidarität mit der eigenen Gesellschaft spielt laut den analysierten Daten die Auseinandersetzung auch mit den negativen Teiler der gemeinsamen Vergangenheit keine Rolle.


Dr. des. Marc von Miquel, Bochum:
Vergangenheitspolitik - Verjährungsdebatten und Strafverfolgungspolitik in den sechziger Jahren

Was besagt die Politisierung der NS-Vergangenheit in den sechziger Jahren über das demokratische Selbstverständnis der Bundesrepublik und welche Bedeutung ist in diesem Zusammenhang dem politischen Handeln gegenüber den NS-Tätern beizumessen? Antworten auf diese bis heute umstrittenen Fragen bietet die Erforschung der Gründung und Tätigkeit der Zentralen Stelle in Ludwigsburg sowie der Debatten über die Verjährung nationalsozialistischer Verbrechen. Schon die Entstehungsgeschichte der 1958 eingerichteten Ermittlungsbehörde illustriert, daß das Gebiet der Ahndung von NS-Verbrechen in weitaus stärkerem Maße von politischen Rahmenbedingungen beeinflusst war, als es die prinzipielle Unabhängigkeit der Dritten Gewalt vermuten lässt. So hatte es erst des Aufsehens über zwei große NS-Prozesse in Bayreuth und Ulm bedurft, um die Justizpolitiker zu einer institutionellen Verstärkung der Ahndungsbemühungen zu veranlassen. Vor dem Hintergrund der zahlreichen neu eröffneten Ermittlungsverfahren bildeten sich in den sechziger Jahren zwei gegenläufige Tendenzen in Politik, Justiz und Öffentlichkeit heraus: Während einerseits auf die Ausweitung der Strafverfolgung gedrängt wurde, formierten sich andererseits nicht minder einflussreiche Netzwerke außerhalb und innerhalb des Regierungsapparates, die die weitverbreiteten Vorbehalte gegen die NS-Prozesse für ihre Amnestieinteressen zu nutzen wussten. So können die Diskussionen über die Verjährung von Totschlag und die weitaus intensiver geführten Debatten über die Verjährung nationalsozialistischer Mordverbrechen 1965 und 1969 als Aushandlungsprozesse begriffen werden, in denen jeweils neue Grenzziehungen zwischen Strafverfolgung und Straffreiheit vorgenommen
wurden. Die Reichweite des Konflikts war zu keinem Zeitpunkt nur auf die Bundesrepublik beschränkt, sondern erstreckte sich auf Westeuropa, die USA, Israel und die Ostblockstaaten. In Hinblick auf die amnestiepolitische Entwicklung Ende des sechziger Jahre soll schließlich die bisher von der Zeitgeschichtsforschung vertretene Auffassung überprüft werden, daß die Bundestagsentscheidungen für die Verlängerung der Verjährungsfrist 1965 und 1969 als Ausdruck eines Wertewandels und einer inneren Demokratisierung der zweiten deutschen Republik zu interpretieren sind.


Claudia Fröhlich, M.A. und Dr. Michael Kohlstruck, Berlin:
Kritische Vergangenheitspolitik und Wertkonflikte in Westdeutschland in den fünfziger und sechziger Jahren

Die Frage wie die demokratische Ordnung in Westdeutschland in den ersten zwei Jahrzehnten nach deren institutionellen Verankerung im Grundgesetz etabliert wurde, ist eine der spannendsten und umstrittensten der zeitgeschichtlichen und politologischen Forschung. Sie kann kaum geklärt werden ohne die vielfältigen Ansätze der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zu berücksichtigen. Die Transformation von der NS-Diktatur, die Dan Diner als "Zivilisationsbruch" beschrieben hat, zur demokratischen Ordnung wurde wesentlich befördert - so die These des Vortrags - durch die Initiatoren einer kritischen Vergangenheitspolitik. Die Vergangenheitspolitik der Bundesregierung unter Kanzler Adenauer stand unter dem Leitmotiv einer weitreichenden Integration und Amnestierung der ehemaligen Träger des NS-Regimes sowie einer Abwehr des Neonationalsozialismus. Gegen diesen wirkungsmächtigen vergangenheitspolitischen Konsens erhoben in den fünfziger und sechziger Jahren Einzelpersonen und kleinere Gruppen Einspruch, indem sie eine kritische und praktisch relevante Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit auf die öffentliche Agenda setzten. Am Beispiel des von Fritz Bauer initiierten Wertkonfliktes behandelt der Vortrag die strukturelle Relevanz einer kritischen Vergangenheitspolitik für die Etablierung einer demokratischen politischen Kultur in Westdeutschland in den fünfziger und sechziger Jahren. Diese Fragestellung kann ältere Thematisierungsperspektiven auf das Problem des Umgangs mit dem NS ablösen: Ob der Umgang der westdeutschen Gesellschaft mit dem Nationalsozialismus als ein kontinuierlicher Verdrängungsprozess oder als eine gelungene Aufarbeitung zu bewerten ist und ob die Bilanzierung der "Bewältigung der NS-Vergangenheit" positiv oder negativ ausfällt, lässt sich wissenschaftlich schwer beantworten.