Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft
Politik und Geschichte

"Geschichtspolitik in Diktaturen und transitorischen Systemen"


Tagung des Arbeitskreises "Politik und Geschichte" in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) in Zusammenarbeit mit dem Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der TU Dresden am 26./27. Oktober 2007


Freitag, 26. Oktober 2007

13:30 – 14:00 Begrüßung im Namen der SprecherInnen des Arbeitskreises
PD Dr. Horst-Alfred Heinrich (Universität Stuttgart)

14:00 – 15:15 Vortrag zur Einführung in die Tagung
Prof. Dr. Uwe Backes (Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der Technischen Universität Dresden)
Zum Bedarf an Geschichtspolitik in verschiedenen autokratischen Systemen

Diskussionsleitung: Dr. Claudia Fröhlich (Freie Universität Berlin)

15:15 – 15:30 Kaffeepause

15:30 – 16:30 Vortrag
Dr. Kurt Schilde (Universität Siegen)
Der Tod des Hitlerjungen Herbert Norkus (1916-1932) und die Verwandlung des Roman- und Filmhelden 'Hitlerjunge Quex'

Diskussionsleitung: Dr. Claudia Fröhlich (Freie Universität Berlin)

16:30 – 16:45 Kaffeepause

16.45 – 17.45 Vortrag
Dr. Georgi Verbeeck (Universiteit Maastricht)
Geschichte und Geschichtspolitik in Südafrika nach 1994

Diskussionsleitung: Dr. Katarzyna Stoklosa (Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung)

17:45 – 18:45 Vortrag
Sophie Wagenhofer (Zentrum Moderner Orient, Berlin)
Geschichtspolitik und Identitätsdiskurs im heutigen Marokko

Diskussionsleitung: Dr. Katarzyna Stoklosa (Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung)

18:45 – 19:00 Pause

19:00 – 21:00 Abendvortrag
Prof. Dr. Dr. Gerhard Besier (Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung e.V. an der Technischen Universität Dresden)
Solidarnosc - nur ein polnischer Traum von der Freiheit?

Diskussionsleitung: Dr. Michael Kohlstruck (Technische Universität Berlin)


Samstag, 27. Oktober 2007

9:30 – 10:30 Vortrag
Dr. Katarzyna Stoklosa (Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung e.V. an der Technischen Universität Dresden)
Geschichtspolitik im Prozess der Transformationen in Polen

Diskussionsleitung: Dr. Harald Schmid (Universität Hamburg)

10:30 – 10:45 Kaffeepause

10:45 – 11:45 Vortrag
Dr. Lars Karl (Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam)
"Imperiale Visionen". Nationen und Geschichtspolitik im Zarenreich und in der Sowjetunion 1880-1953

Diskussionsleitung: Dr. Harald Schmid (Universität Hamburg)

11:45 – 12:45 Vortrag
Elena V. Müller (Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder)
Das Ex-Imperium träumt vom Rückschlag - Die inoffizielle Geschichtsschreibung im heutigen Russland

Diskussionsleitung: Dr. Harald Schmid (Universität Hamburg)

Ende der Tagung gegen 13:00.

Im Anschluss an die Tagung findet turnusgemäß die Sitzung des Arbeitskreises "Politik und Geschichte" statt, zu der alle Interessierten herzlich eingeladen sind. Ein wichtiger Tagesordnungspunkt wird die inhaltliche Kooperation mit den Sektionen beziehungsweise anderen Arbeitskreisen in der DVPW sein.

Abstracts der Vorträge


Prof. Dr. Uwe Backes
Zum Bedarf an Geschichtspolitik in verschiedenen autokratischen Systemen

Auf der Grundlage einer allgemeinen Typologie autokratischer Systeme (nach der Herrschaftslegitimation werden Despotie, Absolutismus, Autoritarismus und Ideokratie unterschieden) fragt der Beitrag nach den systemspezifischen Gemeinsamkeiten und Differenzen geschichtspolitischer Interessenlagen und Strategien. Den weitaus größten geschichtspolitischen Bedarf haben jene Ideokratien, deren Staatsideologie auf einer nicht-traditionalen, nicht-religiösen Weltanschauung basiert.


Dr. Kurt Schilde
Der Tod des Hitlerjungen Herbert Norkus (1916-1932) und die Verwandlung des Roman- und Filmhelden 'Hitlerjunge Quex'

Der am 24. Januar 1932 in Berlin bei einer Flugblattverteilung der Hitler-Jugend in Berlin von jungen Kommunisten erstochene 15jährige Schüler Herbert Norkus wurde von der NSDAP zum jugendlichen Märtyrer stilisiert. Einen ersten wichtigen Beitrag zur Popularisierung bildete
die literarische Bearbeitung durch Karl Aloys Schenzinger in dem 1932 veröffentlichten Roman "Der Hitlerjunge Quex". Der darauf basierende Propagandafilm "Hitlerjunge Quex" des Regisseurs Hans Steinhoff wurde 1933 uraufgeführt. In dem Beitrag soll es wesentlich um
die Bedeutung der Visualisierung eines jugendlichen Märtyrers und deren Wirkung in der nationalsozialistischen Diktatur gehen, die bis zu Gleichsetzungen der realen Gestalt mit der fiktiven Roman- bzw. Filmfigur gehen.


Dr. Georgi Verbeeck
Geschichte und Geschichtspolitik in Südafrika nach 1994

Seit dem Ende des Apartheidregimes in Südafrika befinden sich sowohl die Geschichtsschreibung als auch die historische Kultur in einem tiefgehenden Transformationsprozess. Um die Geschichte des Landes neu zu interpretieren, hat die politische Kultur nach 1994 ihre eigenen Parameter festgelegt. Allerdings sollte diesen nicht zuviel Bedeutung beigemessen werden. Denn die akademische Geschichtsschreibung hatte schon vor etlichen Jahren damit begonnen, sich auf politische Veränderungen einzustellen und ist zu keiner Zeit Gefangene ideologischer Dogmen gewesen, wie sie zum Beispiel von der Nationalen Partei verkündet wurden. Obwohl das Apartheiddenken auch eine starke historische Komponente besaß (Leonhard Thompson sprach von einer Political Mythology of Apartheid), war die wissenschaftliche Geschichtsforschung
diesem niemals in großem Maße verhaftet.
Die historische Infrastruktur Südafrikas ist vor allem in organisatorischer Hinsicht und weniger in inhaltlicher dem Veränderungsprozess unterworfen. Das gilt für den Geschichtsunterricht an den Universitäten ebenso wie für die Infrastruktur von Einrichtungen und Gedenkorten. Herausragende Beispiele dafür sind die Arbeit der TRC, als auch das Apartheid Museum in Johannesburg oder der Freedom Park in Pretoria. Sie verdeutlichen den schwierigen Weg einer Nation, die auf der Suche nach Versöhnung mit ihrer Geschichte und mit sich selbst ist. Wahrheitsfindung, Schuld und Vergebung gehören zu den zentralen Paradigmen im postapartheid Südafrika. Ausgehend von einer durch Rassensegregation und strukturelle Gewalt geprägten Gesellschaft, ist das durchaus verständlich. Gleichzeitig dienten und dienen diese Paradigmen den ANC-Regierungen bei ihren Bemühungen, eine neue Form von südafrikanischem Nationalismus ins Leben zu rufen. Der Beitrag soll diesen Prozess der Renationalisierung in der südafrikanischen Geschichtspolitik kritisch hinterfragen.


Sophie Wagenhofer
Geschichtspolitik und Identitätsdiskurs im heutigen Marokko

Obwohl Marokko 2007 vom Freedom House als "partly free" eingestuft wurde und neben Jordanien als einer der offensten arabischen Staaten gilt, kann von weder Demokratisierung noch von einem Demokratisierungsprozess gesprochen werden. Wohl sind aber seit den 80ziger Jahren von oben gelenkte Liberalisierungstendenzen zu erkennen. König Mohammed VI wurde mit seinem Amtsantritt im Sommer 1999 zur zentralen Figur dieses marokkanischen Liberalisierungsprozesses. Durch sein modernes Auftreten aber auch durch klare politische Zeichen (z.B. die Amnestie politischer Oppositioneller, die Einrichtung einer Wahrheitskommission zur Aufarbeitung von Menschenrechten oder die Reform des Familien- und Frauenrechts) signalisierte er Aufbruch und Wandel.
Begleitet werden diese Liberalisierungstendenzen und der soziale Wandel von Diskursen um die politische und soziale Identität, in der – und das ist neu – auch Fragen nach religiöser, sprachlicher und ethnischer Zugehörigkeit aufgeworfen werden. Damit bricht das bisher herrschende und zentralstaatlich durchgesetzte Narrativ einer "arabisch-muslimischen Nation" zu Gunsten einer multi-ethnischen und multi-religiösen Realität des Landes auf. Statt der unbestrittenen Dominanz arabisch-muslimischer Kultur bestimmt heute das Schlagwort "Maroc pluriel" die Geschichtspolitik des Landes. So lässt der König auch keine Gelegenheit aus, den religiösen, sprachlichen und kulturellen Pluralismus des Landes zu unterstreichen. Am Beispiel der Rolle der kleinen jüdisch-marokkanischen Gemeinde im Diskurs um "Maroc pluriel" soll gezeigt werden, wie Rekurse auf die Geschichte dazu dienen, bestimmte Vorstellungen von Identität und durchzusetzen. Dabei gehe ich von der These aus, dass die Öffnung im Diskurs um plurale Identität in Marokko den König keineswegs schwächt. Vielmehr dient dieser von höchster staatlicher Seite proklamierte und vermeintliche Liberalisierung dazu, die eigene politische Macht der Monarchie zu stärken, und das sowohl auf einer innen- wie außenpolitischen Ebene.
Anhand von eingesetzten Symbolen und Argumentationsmustern soll gezeigt werden in welcher Form jüdische Kultur abgebildet wird, um sie im Kontext "nationaler" Geschichts- und Kulturvorstellungen zu verorten. Darüber hinaus möchte ich Wirkungsweise und auch Wirkungsabsicht
dieses, am Beispiel der jüdisch-marokkanischen Gemeinde skizzierten, politischen Diskurses um Geschichte und Identität herausarbeiten und im Rahmen des Arbeitskreises für "Politik und Geschichte" vergleichend mit anderen Fallbeispielen diskutieren.


Dr. Katarzyna Stoklosa
Geschichtspolitik im Prozess der Transformationen in Polen

Die Interpretation der Vergangenheit ist für den Verlauf der Transformation von großer Bedeutung. Auch in Polen spielte und spielt die Geschichte des Landes eine wichtige Rolle, weil sie nationale Identität stiften und verstärken soll. Nicht selten wird sie auch instrumentalisiert, um bestimmte politische Ziele zu begründen. Die nationalen Unabhängigkeitskämpfe und ihre martyrologischen Komponenten sind nicht nur in polnischen Geschichtsbüchern, sondern auch im politischen Leben Polens präsent.
Dieses Phänomen spiegelt sich in den deutsch-polnischen und den polnisch-russischen Beziehungen wider. Für das Geschichtsbild von Deutschland und Russland besitzt die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg eine große Bedeutung. Im politischen Leben Polens wird häufig an die deutsche und die sowjetische Besatzung erinnert. Um bei den Verhandlungen über das europäische Verfassungswerk Vergünstigungen zu erzwingen, brachte die polnische Regierung gar die Zahl der polnischen Kriegsopfer ins Spiel.
Im Vortrag wird zuerst erläutert, in welchem Zusammenhang die Transformation in Ostmitteleuropa und die Geschichte stehen. Danach wird am Beispiel Polens dargestellt, wie bestimmte historische Ereignisse für die Durchsetzung politischer Ziele genutzt werden.


Dr. Lars Karl
"Imperiale Visionen". Nationen und Geschichtspolitik im Zarenreich und in der Sowjetunion 1880-1953

Der Zusammenbruch der Sowjetunion als Vielvölkerreich macht die wissenschaftliche Beschäftigung mit Nationsbildung und historischer Selbstwahrnehmung in den neu entstandenen Staaten in Osteuropa, dem Kaukasus und Zentralasien zu einem höchst aktuellen Thema. Zu
lange hat die westliche Forschung, darunter auch die Fachdisziplin der Osteuropäischen Geschichte, das Zarenreich und die Sowjetunion als monolithisches Gebilde verstanden. Geschichtsverständnis und dessen institutionelle Verankerung in der russischen/sowjetischen Historiographie sowie die Instrumentalisierung von „Geschichte“ durch politische Herrschaftsinstanzen wurden dabei stets aus dem zentralistischen Blickwinkel der Metropolen Moskau und St. Petersburg untersucht.
Vor diesem Hintergrund thematisiert das Projekt die Funktion und Wirkung offizieller Geschichtspolitik und Geschichtskultur im Zarenreich und in der (stalinistischen) Sowjetunion. Gegenstand des Projekts ist die (Re-)Kodifizierung, Medialisierung und Inszenierung von "Geschichte" in einem multinationalen/-ethnischen Imperium sowie die Umsetzung imperialer Geschichtspolitik als Herrschaftsstrategie in den nichtrussischen Peripheriegebieten des Russländischen Imperiums und der Sowjetunion. In diesem Zusammenhang gilt es, Pendants zur (national)russischen Geschichtskultur in den nichtrussischen Gebieten zu finden und diese mit Hinblick auf die Entstehung dortiger nationaler Geschichtskulturen und nationaler Identität sowohl unter zarischer als auch unter sowjetischer Ägide - etwa im Zuge einer Re-Nationalisierung unter dem Vorzeichen des Sowjetpatriotismus - mit Blick auf bestehende Brüche und Kontinuitäten hin zu untersuchen. Von zentraler Bedeutung sind diesbezüglich die seit dem späten 19. Jahrhundert in Russland offiziell ausgerichteten Feiern um den Schöpfer der russischen Nationalliteratur Aleksandr Puškin (1799-1837), welche nach 1917 schrittweise sowjetisch "umcodiert" wurden und als Ausgangpunkt für eine Untersuchung analoger Ereignisse und Pendants in anderen Teilen des russländischen und sowjetischen Vielvölkerreiches dienen können. Dies sind im Einzelnen für die Ukraine die Jubiläumsfeierlichkeiten um den Nationaldichter Taras Ševčenko (1814-1861), für Aserbaidschan und die islamischen Bergvölker des Kaukasus der Kult um den legendären Sultan Imam Šamil’ (1797-1871), für Usbekistan die offizielle Inszenierung der Gestalt des islamischen Renaissance-Gelehrten Ališer Navoi (1441-1501) sowie für Kasachstan die Feierlichkeiten um den Sänger und "Volkshelden" Džambul Džabaev (1846-1945) und der staatlich verordnete Kult um den mongolischen Heerführer Čingiz Chan (1155-1227).
Als engerer Untersuchungszeitraum wurden die Jahre 1880 bis 1953 gewählt. Die ersten Bemühungen um eine von hauptstädtischen Instanzen koordinierte offizielle Geschichtspolitik lassen sich - insbesondere mit Blick auf die nichtrussischen Provinzen - im vorletzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts verorten. Auch die von Seiten gesellschaftlicher Organisationen inszenierte Erinnerungskultur im Umfeld wichtiger Jubiläumsfeierlichkeiten erreichte in diesen Jahren einen ersten Höhepunkt. Für die Sowjetunion erstreckt sich die Analyse zeitlich über die zwanziger und dreißiger Jahre, den Zweiten Weltkrieg bis zum Spätstalinismus der Nachkriegszeit. Das Ende markiert Stalins Tod im Jahre 1953 – ein Ereignis, welches mit Blick auf die nun folgende "Entstalinisierung" als bedeutende Zäsur für das Land und seine Geschichtspolitik angesehen werden kann.


Elena V. Müller
Das Ex-Imperium träumt vom Rückschlag - Die inoffizielle Geschichtsschreibung im heutigen Russland

Seit ihrer Staatsgründung im Juni 1990 ist die Russische Föderation auf der Suche nach einer Identität, wobei das historische Selbstverständnis bei den grundsätzlich eher vergangenheitsorientierten Russen eine große Rolle spielt. Der Auseinanderfall der Sowjetunion erforderte einen Neubeginn in allen Bereichen des kulturellen Lebens des Landes, darunter auch in der Geschichtsschreibung. Die stürmischen Zeiten der Gorbatschevschen Perestrojka und Glasnost mit der Öffnung der bis dahin kaum zugänglicher historischer Unterlagen und Dokumente bewirkte, dass das tradierte Vergangenheitsbild ins Wanken geriet. Der alte Kanon wurde verworfen und durch populistische Selbstzerfleischung ersetzt. Die Oktoberrevolution als historischer Nullpunkt der sowjetischen Zivilisation - bis dahin das zentrale Ereignis im Geschichtsbild - wurde von nun an als ein Unglücksfall der Geschichte betrachtet, und sogar als "Oktoberputsch", die Machtergreifung durch eine Handvoll Fremdlinge (deutsch-, jüdisch-, kaukasischstämmig) verunglimpft. Aus der Zeit der mit sozialistischem Pathos und einer beispiellosen Massenbewegung vorangetriebenen wirtschaftlichen Aufholjagd rückten allein die partiellen Grausamkeiten der Umsetzung ins Blickfeld. Selbst der aufopferungsvolle Kampf der gesamten sowjetischen Gesellschaft im Großen Vaterländischen Krieg diente der Häme der Nachgeborenen als Zielscheibe; kurz: es wurde nichts unversucht gelassen, mit jeglicher Tradition in der Geschichtsschreibung der Sowjetunion zu brechen, die innerhalb dreier Generationen entwickelten und verinnerlichten Werte in einem Akt pubertärer Opposition zu negieren.
Das Werk "Eisbrecher" (1981) von Viktor Suvorov, einem im britischen Exil lebenden Überläufer des sowjetischen Geheimdienstes, dem die Präventivkriegsthese für Hitlers Angriff auf die Sowjetunion zugrunde liegt, wurde zum Auslöser für eine Lawine von Publikationen, die eine neuartige, möglichst spekulative Sichtweise auf die russische Geschichte boten. Neben Suvorov traten weitere Autoren in die Öffentlichkeit, wie Igor Bunich, dessen Bestseller "Das Gold der Partei" (1997) die Frage zu beantworten versucht, wer von den Regierenden sich während der Sowjetzeit am meisten bereichern konnte; Aleksandr Bushkov, der sich vor allem auf die Fragen der älteren Vergangenheit spezialisiert und zu dessen Werken die Bücherreihe mit dem Titel "Das Russland, das es nicht gab 1-4" (2002-2005) gehört, in der die gesamte russische Vergangenheit einer Neubewertung unterworfen wird. Zu nennen ist letztlich auch Maksim Kalaschnikov nennen, der in zahlreichen Bestsellern (z. B. "Das gebrochen
Schwert des Imperiums" (2002); "Vorwärts, in die UdSSR-2!", 2005) die jüngste Geschichte des Zerfalls der Sowjetunion neu interpretiert. Allen diesen Autoren ist gemein, dass sie trotz der Brisanz ihrer Darstellungen weitgehend ohne Fußnoten und Quellenangaben auskommen. Die Flut solcher Publikationen bewirkt, dass das historische Bild Russlands sich in einer völligen Beliebigkeit aufzulösen drohte. Den vorläufigen Höhepunkt dieser Tendenz bildet das aktuelle Werk von A. Burovskij "Die unverwirklichte Rus' ", in dem die historisch nicht eingetroffenen Varianten einer Entwicklung Russlands als heidnisches, jüdisches, moslemisches oder katholisches Reich durchgespielt werden.
Die jetzige russische Regierung unter Putin, die ohne Zweifel autoritäre Züge trägt, ist gekennzeichnet durch das Bemühen, möglichst viele Bereiche des Lebens in eine Ordnung zu bringen. Innerhalb der massenwirksamen Geschichtsbetrachtung, gewannen trotz El'cins Wettbewerb um eine "Russische Idee" von 1997 die populistischen Autoren durch ihre Verkaufserfolge die Oberhand. Aber auch im populärwissenschaftlichen Bereich ist eine Tendenz zu beobachten, Russland als ein großes Imperium darzustellen, das ohne eigenes Verschulden schwierige Zeiten durchmacht, und dessen Anspruch auf den Großmachtstatus aus seiner ruhmreichen und langen Geschichte abgeleitet werden muss. So beispielsweise negiert Buschkov in seinen Werken sogar die Existenz eines Großmongolischen Reiches und interpretiert die etwa 300 Jahre russischer Abhängigkeit als einen Bürgerkrieg zwischen russischen Fürsten. Die Dynastie der Romanovs als Sieger hätte später die Geschichtsschreibung so verfälscht, dass als Gegner kulturell unterlegene, brutale Horden auftraten. Im Bewusstsein der Leser ist damit die Schmach der lange andauernden Beherrschung durch ein wildes Steppenvolk abgemildert. Kalaschnikov verlangt in seinen sehr expressiv verfassten Werken die Rückkehr der UdSSR, den Aufbau eines neuen Roten Imperiums, damit das Land nicht vom Weltkapital verschlungen würde. Und selbst die Werke des sowjetkritischen Suvorov enthalten eine deutliche Begeisterung für die sowjetische Militärmaschinerie und für das "größte Genie aller Zeiten und Völker, den Genossen Stalin", der lediglich durch eine kurze Unaufmerksamkeit um die Herrschaft über ganz Europa (perspektivisch über die ganze Welt) gebracht wurde. Der Sohn des inzwischen verstorbenen Igor Bunich, Andrej, stellt Putin in seinem Werk "Der Herbst der Oligarchen" (2005) als das geringste Übel für das Land dar. Die Alternative zu ihm wäre die unbegrenzte Herrschaft der skrupellosen Neureichen, die selbst vor Bürgerkrieg und Terror zur Gewinnmaximierung nicht zurückschrecken würden.
Die Analyse der populär-historischen Werke zeigt deutlich, dass sich im heutigen Russland eine Sehnsucht nach der vergangenen (imaginären) Größe, nach einem Imperium breit macht. Überhaupt ist das Wort "Imperium" eines der gebräuchlichsten sowohl in der historischen Literatur und Publizistik als auch im Genre der "heroic fantasy", das sich erst nach dem Zerfall der Sowjetunion und Ende der ideologischen Zensur etablieren konnte. Allerdings sitzen die Anhänger der alternativen Geschichtskonstruktionen in Russland noch nicht in der Regierung, was sich aber bereits mit den nächsten Präsidentschaftswahlen ändern kann.