Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft
Politik und Geschichte

"Geschichte der Geschichtspolitik"


Herbsttagung des AK Politik und Geschichte in der DVPW am 18./19. November 2005

Tagungsort: Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Stauffenbergstraße 13/14, 10785 Berlin


Freitag, 18. November 2005

14:00 – 14:15 Begrüßung durch den AK-Vorstand PD Dr. Horst-Alfred Heinrich, Stuttgart

14:15 – 14:45 Einführung in das Tagungsthema Dr. Harald Schmid, Hamburg

Sitzung I: Moderation: PD Dr. Horst-Alfred Heinrich, Stuttgart

14:45 – 15:45 Vortrag und Diskussion
Christina Kleiser, M.A., Wien
Erinnerungspflicht oder Erinnerungsarbeit. Geschichtspolitische Überlegungen zu einer Ethik der Erinnerung.

15:45 – 16:00 Pause

Sitzung II: Moderation: Dr. Peter Krause, Potsdam

16:00 – 17:00 Vortrag und Diskussion
Prof. Dr. Harald Mey, Aachen
Ansatz einer geschichtspolitischen Analyse der arabisch-islamistischen Ideologie des Kampfes gegen die "Kreuzzügler" USA und Westen und für eine fiktiv-ursprüngliche islamische Welt.

17:00 – 17:15 Pause

17:15 – 18:15 Vortrag und Diskussion
Dr. Berthold Molden, Wien
Historische Narrative als Funktionen aktueller Politik in Lateinamerikas Übergangsgesellschaften. Das Beispiel Guatemala.

19:00 – 20:30 Abendvortrag (Moderation: Dr. Michael Kohlstruck, Berlin)
Prof. Dr. Dr. Gerhard Besier und Dr. Katarzyna Stoklosa, Dresden
Diktaturforschung in europäischer Perspektive.

ab 20.30 Gelegenheit zum gemeinsamen Abendessen


Samstag, 19. November 2005

Sitzung III: Moderation: Dr. Birgit Schwelling, Frankfurt/Oder

9:00 – 10:00 Vortrag und Diskussion
Hilmar Sack M.A., Berlin
Geschichtspolitik mit dem Dreißigjährigen Krieg. Die Krisenerfahrung zwischen "bewaffnetem Frieden" und enthegtem Prinzipienkrieg (1830-1866)

10:00 – 11:00 Vortrag und Diskussion
Dr. Elke Seefried, Augsburg
"Gesamtdeutsche" versus "Christlich-Österreichische Geschichtsauffassung". Geschichtspolitischer Dualismus im österreichischem "Ständestaat"

11:00 – 11:15 Pause

Sitzung IV: Moderation: Dr. Michael Kohlstruck, Berlin

11:15 – 12:15 Abschlussvortrag Dr. Eberhard Birk, Fürstenfeldbruck
Militärische Tradition - Kontinuitätsstiftung zwischen Legitimation und Identität

Ende der Tagung gegen 12:30

Im Anschluss an die Tagung findet eine Arbeitskreissitzung statt, zu der alle Interessierte herzlich eingeladen sind.

Wir würden uns über ein großes Interesse an der Tagung freuen. Um das Treffen vorbereiten zu können, bitten wir alle, die daran teilnehmen wollen, sich bis zum 10. November 2005 per Öffnet ein Fenster zum Versenden der E-Mail Email bei Frau Dr. Claudia Fröhlich, Berlin, anzumelden. Sie werden dann von uns über den Tagungsort, Anreiseroute sowie Unterkunftsmöglichkeiten unterrichtet.

Abstracts der Vorträge


Christina Kleiser M.A., Wien
Erinnerungspflicht oder Erinnerungsarbeit. Geschichtspolitische Überlegungen zu einer Ethik der Erinnerung.

Im Zentrum der transdisziplinär angelegten Dissertation über "Erinnerungsarbeit und Verständigung" steht die verantwortungsethische Erörterung und erinnerungstheoretische Bestimmung von "Erinnerungsarbeit", an welche die empirische Analyse eines "kritischen Gedächtnisses" in ausgewählten philosophischen, geschichtswissenschaftlichen und literarischen Texten anknüpft, die im zeitgeschichtlichen Kontext der Herausbildung einer "europäischen Erinnerungskultur" zu verorten sind. Die zentrale Fragestellung der Dissertation lautet: Wie hätte eine Erinnerungsarbeit auszusehen, die diskursethischen Prinzipien genügt, deren Befolgung zu empathiegeleitetem, verantwortungsbewusstem und zugleich gerechtem Handeln befähigt? An diese allgemeine Annäherung an den Untersuchungsgegenstand schließt die auf argumentationsimmanente ethische Implikationen abzielende Frage: Inwiefern können philosophische, geschichtswissenschaftliche und literarische Texte auf je spezifische Weise eine solcherart umrissene Erinnerungsarbeit leisten? Die Fragestellung konkretisiert sich zudem dahingehend, inwiefern eine Verpflichtung zur Aufarbeitung der Vergangenheit durch eine verantwortungsbewusste und von Empathie getragene Arbeit an und durch Erinnerung zu beerben sei und inwiefern mit dem vorgeschlagenen Konzept der Erinnerungsarbeit auf das im rezenten Diktum von der "Generationsgrenze als Grenze des Verstehens" apostrophierte Problem der Mitteilung von Erfahrung geantwortet werden kann. Vor dem Hintergrund der normativen Diskussion um intersubjektive Verständigungsvoraussetzungen für eine gelingende "Erinnerungskultur" im Sinne einer gemeinsamen "Kultur der Verständigung" versteht sich die Dissertation als ein integrativer Beitrag zur produktiven Fortentwicklung des Projekts "Zivilgesellschaft".

Unmittelbar im Zusammenhang mit begrifflichen Präzisierungen hat meines Erachtens die Reflexion einer so bezeichneten "Pflicht, sich zu erinnern" (Ricœur) zu erfolgen, die der französische Philosoph Paul Ricœur mit einem zwanghaft wiederholenden Gedächtnis verbunden und im Wiederholen von Schuld begründet sieht. Ricœur schlägt vor, "von Erinnerungsarbeit zu sprechen und nicht von Erinnerungspflicht".

Im Zuge einer begriffsgeschichtlichen Rekonstruktion von "Erinnerungsarbeit" werde ich den Ricœurschen Antagonismus von "Pflicht" und "Arbeit" auf einen möglichen inneren Widerspruch hin prüfen. Ich werde der Frage nachgehen, ob im Begriff der "Arbeit" ein indirektes oder transformiertes Pflichtkonzept enthalten ist. Wenn dem so wäre, stünde zu begründen an, weshalb das Konzept der "Verpflichtung" durch dasjenige der "Arbeit" beerbt werden solle.

Ricœur plädiert für eine "Kultur des Verzeihens", die eine Anerkennung der Erinnerungen der Anderen nahe lege. Sein Anliegen gilt der Idee "d’une politique de la juste mémoire". Unbeschadet des hier zu berücksichtigenden Einwands, bei Ricœur eine problematische, auf den ersten Blick unvereinbar scheinende Engführung jüdischer und christlicher Erinnerungspraxen formuliert zu finden, geht meinem Beitrag die Annahme voraus, dass eine verantwortungsbewusste und engagierte Auseinandersetzung mit vermittelter oder "Sekundärerfahrung" (Reinhart Koselleck) in Bezug auf Holocaust und Nationalsozialismus sowie im Gewahrsein gegenwärtiger rassistischer, ethnischer, sexistischer Diskriminierung und exterminatorischer Politik nicht (mehr) auf der Basis des verpflichteten Rechenschaftablegens über die Vergangenheit erfolgen kann.


Prof. Dr. Harald Mey, Aachen
Ansatz einer geschichtspolitischen Analyse der arabisch-islamistischen Ideologie des Kampfes gegen die "Kreuzzügler" USA und Westen und für eine fiktiv-ursprüngliche islamische Welt.

Die wissenschaftliche Aufarbeitung von Geschichte und Geschichtspolitik mit Intention der Objektivität auch bei eigener Betroffenheit – wie aus historischen Gründen besonders im heutigen Deutschland - ist zur Zeit wohl überwiegend mit westlichem Denken bzw. von diesem abgeleiteter Orientierung an Demokratie und diskursiver Bildung auch in anderen sich demokratisierenden Ländern der Welt verbunden. Gegenwärtige Probleme der Vergangenheitsaufarbeitung selbst in sonst westorientierten Ländern wie Japan und Türkei zeigen, wie wenig selbstverständlich ein rationaler Umgang mit eigener Geschichte und Geschichtspolitik ist.

Das derzeit extremste Gegenbeispiel irrationalen Missbrauchs von "Geschichtspolitik" finden wir heute in der eigenartig zeitenvermengenden Kombination von Anti-Kreuzugs-, Anti-Imperialismus-, Anti-Israel- und Anti-Verwestlichungs-Ideologien als Begründung des gewalttätig interpretierten Dschihad gegen die angebliche antiislamische Verschwörung der "ungläubigen" Europäer, USA und Israel bei militanten Islamisten. Israel erscheint so als neuer Kreuzfahrerstaat (Maaluf, 2004: Der heilige Krieg der Barbaren. Die Kreuzzüge aus der Sicht der Araber, München, S. 283). Diese Geschichtsvermengung auf der Feindbild-Seite verbindet sich auf der Selbstbild-Seite mit ebenso zeitvermengend selektierten Islam-Deutungen von der Niedergangszeit der Kalifate bis zu gegenwärtigen Islamisten als Anleitung zur heutigen Welterlösung durch Wiederherstellung eines reaktionär selektierten, als ursprünglich behaupteten Islam. Und das Erschreckendste daran ist der offensichtliche Erfolg solcher verschwörungstheoretischen Geschichtsklitterung bei beträchtlichen Teilen der Bevölkerungen einer der einst aufgeklärtesten Hochkulturen. Aus deutschem Rückblick fallt eine gewisse Parallele mit der Anfälligkeit des "Volkes der Dichter und Denker" für NS-Ideologien in der Krisenzeit nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg bis zur Hitler-Zeit auf.

Betrachten wir nun zuerst einige Konstruktions-Eigenarten der islamistischen "Geschichtspolitik". Die aus europäischer oder "christlicher Sicht" letztenendes gescheiterte Epoche der Kreuzzüge (die gegen Ende mit der Plünderung Konstantinopels das Christentum selbst geschwächt hatten) ist aus arabischer Sicht nicht nur durch die zeitbedingten Exzesse der antiislamischen "Barbaren", die auf die Gegenwart transponiert werden, sondern besonders dadurch stärker in Erinnerung geblieben, daß ihre Epoche mit innerem Zerfall und Ende der Expansion der islamischen Reiche der Kalifen zusammenfiel, in die der Sturm der Mongolen als der „anderen Barbaren“ zusätzlich eingemengt wird (Maaluf, A., 2004, S.252ff.). Die spanische Rekonquista mit Niederwerfung des hochkulturellen Kalifats von Cordoba, das zuvor noch die europäische philosophische und kulturelle Entwicklung Europas mit der jüdisch-islamischen "Ersten Aufklärung" (von Minnesang und Aristotelismus bis Scholastik und Universitäten) angeregt hatte, wird in gleicher Linie mit den Mongolenkriegen, und innerislamischen Herrschaftskämpfen, die die arabischen Kalifate stürzten, als Hintertreibung der islamischen Weltbefriedung durch deren äußere Feinde bis heute dargestellt. Demgegenüber treten die osmanischen Eroberungen, die später zum Stillstand kamen, in den Hintergrund gegenüber der zeitgleichen spanischen Konquista, der dann das Zeitalter des europäischen Imperialismus folgte. Als bis heute gültiges Gegenmittel wird nun von den Militanten nicht der philosophisch und wissenschaftlich aufgeklärte Hochislam empfohlen, sondern die rigoristischen und autoritär-despotischen Rechtsauffassungen herrscherberatender Geistlicher der Niedergangs- und Verfallszeit, deren Aussagen für Urislam ausgegeben und mit einem Ideal-Kalifat des unbestritten herrschenden Islam verbunden werden, den es so nie gegeben hat (Ayubi, N., 2002: Politischer Islam. Religion und Politik in der islamischen Welt, Freiburg.i.Br., S. 174ff.).

Dazu kommt die verbreitet islamische Sicht, daß Islam seit der Machtübernahme Mohammeds in Mekka (nach dem Exil in Medina) mit Pazifizierung und damit verbundener Wohlstandsverbreitung mittels "Unterwerfung" unter den Gott der Religion (das heißt ja der Name "Islam") verbunden gesehen wird, die kritische Diskussion und Meinungsvielfalt als Negativum hinzustellen Vorschub leistet. Nach kritischen Denkern und Denkerinnen aus dem islamischen Raum (wie Ayubi, 2002; Mernissi, Fatima, 2002: Islam und Demokratie, Freiburg i.Br.; Hirsi Ali, Ayaan, 2004: Ich klage an, Plädoyer für die Befreiung der muslimischen Frauen, München) wird die oben beschriebene Tendenz durch Unterdrückung von intellektueller Opposition durch gegenwärtige Regime und Mangel an Bildungseinrichtungen – die zudem nicht emanzipatorisch sondern autoritär sind und Auswendiglernen statt selbst Denken und Diskussion vermitteln – verhängnisvoll verstärkt Daß selbst Religionsgelehrte der Ashar-Universität und Universitätsabsolventen (besonders technischer Fächer) für geschichtsvermengende Verschwörungstheorien anfällig sind, hängt außer mit gegenwärtiger Unzufriedenheit auch mit dem vom jüdisch-christlichen und europäischem geschichtsbezogenen Denken abweichenden islam-spezifischen juristisch-wortbezogenen Argumentationsstil zusammen, dem gegenüber eine historisch-relativierende Theologie zu Koran und Überlieferung fehlt und von Dogmatikern sogar als ketzerisch verdammt wird. Das führte zu trickreichen (nach Kritikern unehrlichen) Rechtsanwendungen über Wort-Spitzfindigkeiten ohne Infragestellung der Zeitgebundenheit in Weiterentwicklung der als heilig angesehenen Texte in islamischer Alltags-Rechtssprechung. So wurde zwar ein Mindestmaß an lokaler Ordnung jahrhundertelang trotz Herrscherwillkür aufrechterhalten, eine stabile Staatsentwicklung mit geregelter Herrschernachfolge und Konstitutionalismus fand aber aus mehr internen als äußeren Gründen nicht statt. Daß experimentelle Wissenschaft und (mit Ibn Chaldun) sozial bezogene Geschichtswissenschaft aus dem islamisch-arabischen Raum nach Europa kamen ist in jenem selbst dadurch versandet, daß die europäische Weiterentwicklung aus einer Verbindung von Überheblichkeit und Beschäftigung mit eigenen Konflikten nicht durch Wieder-Rezeption zurückwirkte, sondern außer Waffenentwicklung die Herrschenden nicht interessierte (Lewis,B., 2002: Der Untergang des Morgenlandes, Bergisch-Gladbach).

Moderne Intellektuelle im islamisch-arabischen Nahen und mittleren Osten stehen einem Konflikt zwischen zwei innerislamischen Richtungen gegenüber: denen, die an der Wissenschafts- und Augeschlossenheits-Tradition der Islamgeschichte anknüpfen wollen auf der einen Seite und den Rückwärtsgewandten, die moderne Techniken allenfalls für den Sieg der Reaktion instrumentalisieren wollen. Eine gewisse Ausnahme ist der im schiitischen Islam offene, im sunnitischen Islam seit Jahrhunderten geschlossene, Spielraum für eigene Urteile und Weiterentwicklungen ("idschtihad"), von dem allerdings nur höchste Autoritäten (wie z.B.Khomeini bei seiner Erfindung der "Islamischen Republik") es wagen, Gebrauch zu machen (was nach Schirrmacher,Christine/ Spuler-Stegemann,Ursula, 2004: Frauen und die Scharia, Die Menschenrechte im Islam, München, bisher zu wenig für emanzipatorische Möglichkeiten und Frauenrechte genutzt wird). Es gibt dort auch die Tradition einer höheren Einschätzung des menschlichen Intellekts als dem göttlichen wesensverwandt, die heute zum Rückgriff auf die historisch relativierende Philosophie der Mutaliziten (bereits vor und im Kalifat von Cordoba) z.B. bei dem im Iran einflussreichen Reformphilosophen Soroush führte (Buchta,W., 2004: Die Schiiten, Kreuzlingen/ München, S. 93f.). Auch nach emanzipatorischen Denkern im arabisch-sunnitischen Raum (Mernissi, Fatima, 2002; Ayubi, 2002, S. 281ff.) ist infragezustellen, ob islamische Rechtsaussagen aus dem 7. oder 9. Jahrhundert heute noch wörtlich angewandt werden können (z.B. Diebstahl in Beduinengesellschaft und heute, Rechte der Frauen) und die Forderung nach zeitgemäßer Interpretation in Fortschreibung der wissenschafts-aufgeschlossenen, emanzipatorischen und menschenrechtlichen Intentionen im Islam selbst seit Mohammed zu stellen. Damit wäre auch im Anschluss an den Hochislam die Verbindung mit Geschichte im hier verstandenen Sinne realistischer Aufarbeitung im Kulturendialog möglich und sollte erarbeitet werden.


Dr. Berthold Molden, Wien
Historische Narrative als Funktionen aktueller Politik in Lateinamerikas Übergangsgesellschaften. Das Beispiel Guatemala.

Lateinamerikas jüngere Geschichte ist gekennzeichnet vom Aufbruch repressiver Gesellschaften in eine Phase formaler Demokratisierung. Der Rückzug der Militärs von den Staatsspitzen Argentiniens, Chiles oder Guatemalas und das vorläufige Ende der Verfolgung Oppositioneller wurden nicht zuletzt durch Proteste von Opferorganisationen wie den Madres de la Plaza de Mayo (Argentinien) oder dem Grupo de Apoyo Mutuo (Guatemala) ausgelöst. Deren Forderungen richteten sich zunächst spezifisch auf die rechtlich-historische Aufklärung staatlicher Menschenrechtsverbrechen, doch ihre Implikationen gingen darüber hinaus.
Die Menschenrechtsgruppen übernahmen – in den verschiedenen Gesellschaften in unterschiedlichem Masse – im außerparlamentarischen Bereich Aufgaben politischer Opposition, die in einem breiteren Sinne mit der Geschichte der Unterdrückten zu tun haben. In Guatemala bildeten sich Aktionsgruppen aus historischen Allianzen der indigenen Bewegung, der Kleinbauern/ bäuerinnen-Vereinigungen und der Menschenrechtsorganisationen, die nun anstelle der schwachen linken Parteien die Interessen der marginalisierten Mehrheit regimekritisch vertreten. Aus Anklägern/innen partikulärer Verbrechen wurden Anwälte/innen der von historischen Ungerechtigkeiten Betroffenen. Ihre Argumentationsweise blieb freilich sozialhistorischer Natur.
Auch auf der Seite der die wirtschaftlichen und politischen Entscheidungsfelder dominierenden Machteliten kommen historische Narrative zum Tragen, wenn die eigenen aktuellen Handlungspläne für die Gegenwart und Zukunft des Gemeinwesens legitimiert werden sollen. In beiden Fällen ist dabei der 1996 beendete Bürgerkrieg als blutiger Höhepunkt der gesellschaftlichen Krise des nationalen Entwicklungsmodells ein zentraler Referenzpunkt. Die Krise wird zum Auslöser identifikatorischer und geschichtspolitischer Umwälzungen (Jelin, Rüsen). Zur Erklärung ihrer Ursachen und Verantwortungszuweisung für seine Eskalation greifen die aktuellen Akteure/innen indes ihrerseits auf ältere argumentative Arsenale zurück: das liberale Nationsprojekt des 19. Jahrhunderts etwa, oder den marxistischen Revolutionsgedanken. Auch neue, aus der Nachkriegszeit stammende historische Deutungsversuche wie der Panmayismus wurden verwendet.
Eine Untersuchung der teilweise sehr heißen Geschichtsdebatten, die sich neben der Zeitgeschichtsforschung selbst vor allem an Entschädigungsinitiativen und Forderungen nach Nachkriegsjustiz entzündeten, zeigt, in welch hohem Maße die jeweiligen historischen Interpretationen mit aktuellen politischen Interessen verknüpft sind. Kontroversen über die historische Deutungsmacht spielen daher eine wichtige Rolle in jenem Kampf um politische Partizipation, der postrepressive Gesellschaften meist auszeichnet (Barahona de Brito). Die Betrachtung des guatemaltekischen Falles gibt neben der Veranschaulichung einer in gewissem Sinne typischen lateinamerikanischen Dynamik die Möglichkeit, die Übertragbarkeit europäischer zeitgeschichtlicher Analysemodelle vor dem Postulat eines globalen Gedächtnisses (Levy) zu diskutieren.


Prof. Dr. Dr. Gerhard Besier und Dr. Katarzyna Stoklosa, Dresden
Diktaturforschung in europäischer Perspektive.

Bezogen auf das historische Gedächtnis gibt es heute keine eindeutige Abgrenzung zwischen den Arbeitsfeldern des Historikers und denen des Politikers, weil das kollektive Gedächtnis ein politisches Problem darstellt. Für den Staat wie die Gesellschaft insgesamt ist es nicht gleichgültig, an welche Ereignisse sich die Bürger wie erinnern, und was von ihnen "vergessen" wird. In ganz Europa sucht die Politik eine Antwort auf die Frage, wie einzelne Generationen das in Erinnerung behalten, was ihre nationale Identität ausmacht.
Die fortschreitende Europäizität könnte dazu führen, dass nationale Bilder und ein nationales Geschichtsbewusstseins zurücktreten und vielleicht zur Identitätsbildung immer weniger wichtig werden. Überdies gibt es sachliche Gründe für eine übernationale Geschichtsbetrachtung, denn die intereuropäischen Zusammenhänge sowohl zwischen den einzelnen Etappen eines bestimmten Ereignisses als auch zwischen parallelen Entwicklungen Springen ins Auge. Bis heute können wir freilich auf nationaler Ebene politisch aktive Bestrebungen beobachten, die die tatsächlich vorhandenen, politischen wie historischen Zusammenhänge auf intereuropäischer Ebene vergessen machen wollen. Die Entwicklung in Weißrussland führt uns das deutlich vor Augen.
Das XX. Jahrhundert wird in der Geschichtsschreibung häufig als das "Jahrhundert der Diktaturen und deren Überwindung" bezeichnet. Lange Zeit wurden autoritäre und totalitäre Systeme in den einzelnen Ländern separat dargestellt. Die Einteilung in Ost- und Westeuropa wurde von Historikern als Parameter benutzt. Vor einigen Jahren begann man allerdings, die vergleichende Perspektive – regionale, zeitliche, systembezogene – anzuwenden, weil erst dadurch viele Phänomene richtig verstanden und bewertet werden können. Ostmitteleuropa verbindet mit West- und mit Südeuropa die Diktaturerfahrung und nach wie vor auch die Notwendigkeit der Diktaturaufarbeitung.
Der Vortrag soll aus zwei Teilen bestehen. Im ersten Teil, präsentiert von Gerhard Besier, wird die Geschichte der Diktaturen in der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts dargestellt. Am Beispiel der autoritären Regime von Józef Piłsudski in Polen und Miklós Horthy in Ungarn werden Ähnlichkeiten in der totalitären Erfahrung, sowie Unterschiede in der heutigen Rezeption der autoritären Regime in Polen und Ungarn deutlich. Weiter werden Parallelen und gegenseitige Einflüsse im Faschismus Mussolinis, Francos Franquismus und dem Nationalsozialismus gezogen. Im zweiten Teil, präsentiert von Katarzyna Stoklosa, werden vor allem kommunistische Diktaturen in Ostmitteleuropa miteinander verglichen. Es werden aber auch Vergleiche zur Entwicklung der Diktaturen in Westeuropa, z. B. im Spanien Francos seit der Konsolidierung der Diktatur in den fünfziger Jahren, gezogen.
In dem Doppelvortrag soll deutlich werden, wie stark die Interdependenzen zwischen den einzelnen europäischen Diktaturen tatsächlich waren. Die aktuellen Analysen der europäischen Diktaturen auf politischer und wissenschaftlicher Ebene können deutlich machen, wie intensiv das Thema Europa die öffentlichen Diskurse über Geschichte bestimmt. Weiter sollen mögliche Ziele skizziert werden, die durch diese Verbindung von historischer und politischer Betrachtungsweise möglich erscheinen.


Hilmar Sack, M.A., Berlin
Geschichtspolitik mit dem Dreißigjährigen Krieg. Die Krisenerfahrung zwischen "bewaffnetem Frieden" und enthegtem Prinzipienkrieg (1830-1866)

Der Vortrag widmet sich der geschichtspolitischen Bedeutung des Dreißigjährigen Krieges im 19. Jahrhundert und fragt an seinem Beispiel nach der Wirksamkeit historischer Erinnerung in den politischen Debatten zwischen Julirevolution und Reichseinigung.
Angelehnt an die, insbesondere vom Sonderforschungsbereich "Kriegserfahrung" erarbeiteten theoretischen Grundlagen eines modernen Erfahrungsbegriffs, der Erfahrung nicht alleine als Erleben sondern als Verknüpfung von Erleben, Wissen, Deuten und Handeln begreift und dabei die Bedeutung von Vergangenem betont, stellt meine Arbeit die Krisenerfahrung zwischen 1830 und 1866/71 in den Mittelpunkt des Interesses. Die zentralen Deutungsmuster einer kulturell gestifteten Erinnerung (Jan Assmann) an den Dreißigjährigen Krieg werden dabei unter geschichtspolitischen Fragestellungen untersucht. Denn der Dreißigjährige Krieg war in der politisch, konfessionell und regional zerklüfteten Öffentlichkeit wichtige Projektionsfläche von diffusen Ängsten vor, bzw. von Hoffnungen auf einen Krieg, der die verworrenen Verhältnisse des "bewaffneten Friedens" in Europa "klären" sollte. Seine divergierenden Lesarten dienten den Akteuren als historisches Argument genauso zur Legitimierung wie zur Diffamierung der konkurrierenden nationalpolitischen Handlungsoptionen.
Im Zentrum der Erinnerung an die Epoche der Glaubenskriege steht heute das Jahr 1648 mit dem Westfälischen Frieden als frühem Versuch einer europäischen Friedenordnung. Dies machten die Feierlichkeiten zum 350jährigen Jubiläum 1998 sehr deutlich. Der dreißig Jahre währende Krieg selbst wird, aus seinen historischen Zusammenhängen weitgehend losgelöst, nurmehr als Ausdruck eines besonders langen und zähen Kriegsschreckens tradiert (augenscheinlich im Terminus vom "2. Dreißigjährigen Krieg" für die Epoche zwischen 1914 und 1945). Im nationalistischen Bezugsrahmen des 19. Jahrhunderts begriff man jedoch die Gegenwart als in einem "inneren Zusammenhang" mit der Epoche der Glaubenskämpfe stehend. Dies betonten die Zeitgenossen besonders im Jubiläumsjahr des Westfälischen Friedens 1848. In dem die Gegenwartserfahrung und die Zukunftsbeschreibung aus dieser historischen Perspektive entwickelt wurden, geriet die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges selbst in den Fokus eines Deutungskampfes. In der personalen Verquickung aus wissenschaftlicher und politischer Deutungselite reichte er weit über den historiographischen Rahmen hinaus und wirkte in die politische Sphäre ein. Die besondere Spannung resultierte aus der verbreiteten Überzeugung, dass Deutschland wieder werden könne, was es als Reich einstmals gewesen war. Dies erhob den Dreißigjährigen Krieg und Westfälischen Frieden – gemäß ihrer nationalen Deutung als Beginn deutscher Schwäche, Schmach und Demütigung – zu wesentlichen Bezugspunkten. Sein Negativ-Mythos schuf einen nationalen Erfahrungsraum und begründete eine Gefühlsgemeinschaft, die geprägt war von Inferioritätsgefühlen wie gleichermaßen von einem missionarischen Sendungsglauben.
Gleichzeitig wurde der Bezug auf den Dreißigjährigen Krieg in der nationalpolitischen Frage, wer dem deutschen Volk als Nation überhaupt angehöre, zum Spiegel der partikularen, dynastischen und v.a. auch konfessionellen Fragmentierung der Gesellschaft und der sich daraus ergebenden Loyalitätskonflikte. Gerade sie sah man zeitgenössisch als Erbe der Epoche der Glaubenskriege. Dem Dreißigjährigen Krieg wurde hier als eine Geschichte von Sieg und Niederlage gedacht, sei es von einzelnen Partikularstaaten, Dynastien oder der Konfessionen. Dies geschah freilich nie, ohne dabei die Deutung als menschliche Katastrophe und nationale Demütigung außer Acht zu lassen, bot sich doch erst in der Verknüpfung beider Deutungsstränge die Grundlage für eine wirkungsvolle, von Schuld- und Verratsvorwürfen dominierte Kriegspropaganda.
Die Arbeit bezieht den Erinnerungsdiskurs neben der Nations- insbesondere auf die Revolutions- und Kriegsvorstellungen der politischen Öffentlichkeit und legt einen besonderen Schwerpunkt auf die Bedeutung religiöser und konfessioneller Prägungen. Zentraler Aspekt ist die Frage nach der Kriegslastigkeit und Friedensfähigkeit des Geschichtsbildes, bzw. der konkurrierenden Geschichtsbilder vom Dreißigjährigen Krieg. In der Erwartung eines "Prinzipienkrieges" (sei es als Bürgerkrieg oder Nationalkrieg, als revolutionärer Weltbürgerkrieg, Religionskrieg oder "Racekrieg") fungierte die Epoche der Glaubenskämpfe als historisches Vorbild. Der Bezug ist in den von mir untersuchten öffentlichen und privaten Zeugnissen als Ausdruck für die erwartete Enthegung eines befürchteten oder herbei gesehnten Krieges zu sehen. Dabei ging es aber weniger um die Beschreibung einer militärischen Realität, als vielmehr um die politischen Konsequenzen, um seine politische Deutung. Gerade die konfessionelle Aufladung des erwarteten Krieges durch die Erinnerung an die Glaubenskriege zielte im politischen Diskurs mehr auf den ideologischen Gehalt der Konfession und den daraus jeweils abgeleiteten machtpolitischen Anspruch Preußens und Österreichs. Die Vorstellungen vom Dreißigjährigen Krieg wurden hier endgültig auf prägnante Kernbotschaften verdichtet, die zu polemischen Kampfmitteln avancierten.


Dr. Elke Seefried, Augsburg
"Gesamtdeutsche" versus "Christlich-Österreichische Geschichtsauffassung". Geschichtspolitischer Dualismus im österreichischem "Ständestaat"

Geschichtspolitik als Versuch, Geschichte zur politischen Legitimation zu nutzen, gewinnt vor allem in Krisenzeiten an Bedeutung – wenn sich alte Strukturen auflösen und neue Legitimationsmuster geschaffen bzw. Gruppenidentitäten gestiftet werden müssen. Diese These bestätigte sich im Österreich der Zwischenkriegszeit, im sogenannten christlichen Ständestaat 1933 bis 1938. Zwei politisch aufgeladene Geschichtsideologien – die gesamtdeutsche und eine "christlich-österreichische" – standen sich unversöhnlich gegenüber. Hintergrund war der Kampf um die österreichische Unabhängigkeit, der angesichts des Anschlussdruckes des Dritten Reiches existenzielle Bedeutung entfaltete und sich mit der Problematik der umstrittenen Konstruktion österreichischer nationaler Identität vermengte.
In der multinationalen Habsburgermonarchie hatte das Gros der deutschsprachigen Österreicher eine doppelte Identität als Österreicher und Deutsche entwickelt, sich aber im Kern als "Deutsche" verstanden. Folglich lag es nahe, dass in der Realität der Ersten Republik mit ihren eminenten wirtschaftlichen Schwierigkeiten der weit überwiegende Teil der Österreicher einen Zusammenschluss mit dem Deutschen Reich herbeiwünschte – wenn auch nicht einen Anschluss unter völliger Aufgabe kultureller Eigenständigkeit. Diese Selbstwahrnehmung der Österreicher als deutsches Volk herrschte bis Anfang der 30er Jahre vor. Der Aufstieg des österreichischen Nationalsozialismus mit seiner aggressiven Anschlusspropaganda 1931/32 und die nationalsozialistische Machtübernahme in Deutschland 1933 bildeten dann einen Kristallisationspunkt für das Identitätsbewusstsein Österreichs und den Kampf der Geschichtsbilder. Die Spannbreite der Identitätskonzeptionen reichte vom dezidierten Österreichertum der Monarchisten (sog. Legitimisten), die sich dem Bild einer eigenen österreichischen Nation abseits Deutschlands näherten, über die offizielle Österreich-Ideologie des "Ständestaates", welche Deutschtum und Österreichertum verbinden wollte, um Österreich und das österreichische Regime als Antithese zum Nationalsozialismus zu legitimieren, bis zu den sogenannten Katholisch-Nationalen, welche eine katholische, aber doch gesamtdeutsche Identität propagierten, und schließlich der nationalen Opposition, die von einem großdeutschen Reich träumte.
Die Frage der nationalen Identitätskonstruktion überwölbte auch die österreichische Historiographie. Hier hatte sich aus einer Debatte um groß- und kleindeutsche Geschichtsbetrachtung schon Ende der zwanziger Jahre eine "gesamtdeutsche Geschichtsauffassung" herausentwickelt. Im Gegensatz zur großdeutschen Geschichtsschreibung postulierte diese den Ausgleich zwischen groß- und kleindeutscher Historiographie. Unter Anerkennung des Bismarckreiches als zeitbedingt notwendigem Phänomen wollte man auch dem Habsburgerreich gerecht werden. Schließlich sei, so das Credo, der alte Gegensatz zwischen klein- und großdeutscher Doktrin für den nationalen Niedergang der Deutschen verantwortlich zu machen. Deshalb proklamierte man "die Schaffung eines gemeinsamen deutschen Volksbewußtseins auf der Grundlage eines gemeinsamen Geschichtsbewußtseins". (Ritter von Srbik, 1932, S. 5). Nach 1933 entfaltete die gesamtdeutsche Geschichtsphilosophie durch den nationalsozialistischen Anschlussdruck immer stärkere Wirkung. Als Hauptexponent dieser gesamtdeutschen Geschichtsauffassung agierte Heinrich von Srbik, dessen Thesen nach 1938 kurzzeitig in einer Apologie des Anschlusses gipfeln sollten, wenngleich die gesamtdeutsche Geschichtsauffassung nicht ex post als faschistisch oder nationalsozialistisch abqualifiziert werden darf. Dennoch ist nicht wegzudiskutieren, dass Srbik mit seiner Forderung nach Rückbesinnung auf Nation, Volkstum und raumpolitisches Denken nicht nur begrifflich den erstarkenden Nationalsozialisten Argumentationsmaterial lieferte und eine völkisch durchsetzte Geschichtsdeutung propagierte. Unterstützung erhielt Srbik und ein Kreis katholisch-national oder "betont-nationaler" Historiker, der sich vor allem an der Wiener Universität sammelte, von deutschnationalen Politikern, welche nach dem Juliabkommen 1936 als Zugeständnis Kanzler Schuschniggs an das Dritte Reich in die Regierung des "Ständestaates" integriert wurden, aber auch von der deutschen Historiographie.
Gegen diese gesamtdeutsche Geschichtsinterpretation wandte sich eine "christlich-österreichische Geschichtsauffassung", die ihre Wurzeln in den mythisierenden Reichsromantik der Legitimisten besaß, im Kern aber die österreichische Unabhängigkeit, den Ständestaat und langfristig zum Teil die Restauration der Habsburger legitimieren sollte. Getragen wurde sie vom christlichsozialen Teil des offiziellen Ständestaates, nämlich von Kanzler Dollfuß, vor allem aber von Historikern im Umfeld der legitimistischen Bewegung. Österreich habe, so Dollfuß, eine besondere, abendländische Sendung, die aus Geschichte und Kultur herzuleiten sei: Schon seit dem Mittelalter habe Österreich als "Ostmark" nicht nur das Christentum, sondern auch das Deutschtum vor dem Osten verteidigt. Zugleich habe Österreich aber den Osten integriert und eine ausgleichende Funktion ausgefüllt – im Gegensatz zum militaristischen Preußen. Angesichts der nationalsozialistischen Bedrohung, die man in die Traditionslinie des militaristischen, protestantischen Preußentums einordnete, müsse Österreich seiner alten Aufgabe nachkommen, das wahre, nämlich christlich-katholische, friedenswillige, abendländische Deutschtum zu verteidigen. Österreich und der "Ständestaat" avancierten so zur Antithese gegen den Nationalsozialismus.
Im engeren Historikerkreis der christlich-österreichischen Geschichtsinterpretation argumentierte man noch stärker als im offiziellen Geschichtsbild des „Ständestaates“ mit einer Sendung Österreichs nach Mitteleuropa und der besonderen Mission der Habsburger-Dynastie. Österreichs Geschichte sei stets von einer Verbindung der christlich-katholischen Mission und einer übernational-abendländischen Reichsidee bestimmt worden. Diese österreichische – nicht deutsche! – Reichsidee sei schon seit dem Mittelalter auf das innigste mit dem Hause Habsburg verknüpft gewesen. Mit der Verbindung Österreichs mit dem Haus Habsburg habe Österreich einem übernationalen Prinzip gehuldigt und christliche (eigentlich katholische!) betrieben. Habsburg stünde für die Durchsetzung des Donauraumes mit christlichem und abendländischem Geist, aber auch die Integration östlicher Kultureinflüsse. Kaiser Franz habe als legitimer Erbe die Krone und den Reichsgedanken in das neue österreichische Kaisertum gerettet und damit ihre völkerverbindende und katholische Mission bewahrt. Auch hier argumentierte man mit der Kategorie des Raumes: Die Donau verbände den österreichisch-böhmisch-ungarischen Raum, der durch Berggürtel nach außen abgeschlossen sei und in dem elf verschiedene Völker lebten. Folglich deckten sich Raum und Volk nicht, so dass ein übernationales Gebilde – das Habsburgerreich – politische Konflikte habe verhindern müssen.
Durch die Negierung habsburgischer Machtpolitik begab sich die österreichische Geschichtsauffassung auf wackeliges Terrain. Dieser patriarchalisch angereicherte Ansatz, der auch die nicht-deutschsprachigen alten Länder der Habsburgermonarchie unter „Österreich“ subsumierte, verbrämte österreichische Macht- und Raumpolitik; so stellte man Parallelen zu einer deutschen Reichsidee her, welche – katholisch-national oder nationalistisch aufgeladen – als explosives Programmgemisch in der späten Weimarer Republik und im Dritten Reich aus einer mythisierten Verklärung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation verschwommene Entwürfe deutscher „Sendung“ begründete. Damit legitimierte die österreichische Geschichtsauffassung einerseits die Unabhängigkeit Österreichs gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland, zum anderen sollte geschichtspolitisch einer neuen Donaumonarchie unter den Habsburgern der Weg geebnet werden, ohne dass diese angesichts der internationalen Situation zu realisieren gewesen wäre. Implizites Ziel war so zunächst eine Donauföderation, welche Schutz vor Deutschland bieten und eine Annäherung der alten Länder der Donaumonarchie ermöglichen sollte. Die christlich-österreichische Geschichtsauffassung wurde vom „Ständestaat“ gefördert – unter anderem durch das Traditionsreferat der Einheitspartei des autoritären Staates, der Vaterländischen Front – wenngleich Dollfuß’ Nachfolger auch Kontakte zur gesamtdeutschen Historiographie, zu Srbik, herstellte. Hier zeichnete sich also sogar ein geschichtspolitischer Dualismus innerhalb der Regierung ab. Historiker wirkten so nicht nur an der Formierung von Gedächtniskultur mit, indem sie als Deutungseliten agieren, sondern an einer bewussten politischen Instrumentalisierung von Geschichte.
Die katholisch durchdrungene, Österreichs Geschichte verklärende und auch elitär-autoritär aufgeladene christlich-österreichische Variante blieb wie das Wirken der ganzen legitimistischen Bewegung gegenüber der realpolitischen Situation chancenlos. Die Konstruktion einer eigenen österreichischen Identität und die Wiederbeschwörung der Donaumonarchie entfaltete nicht genug Wirkungskraft gegenüber der gesamtdeutschen Geschichtsauffassung, hinter deren Bild vom gemeinsamem Volkstum auch der Bewegungscharakter des Nationalsozialismus und dessen – auf Pump finanzierter – wirtschaftlicher Aufschwung standen. Die gesamtdeutsche Geschichtsinterpretation wurde aber nach 1938 ebenfalls von der nationalsozialistischen Dynamik überrollt. Ein kollektive österreichische Identität bildete sich so erst nach Ende des Zweiten Weltkrieges heraus.


Dr. Eberhard Birk, Fürstenfeldbruck
Militärische Tradition - Kontinuitätsstiftung zwischen Legitimation und Identität

'Geschichtspolitik' ist bei Streitkräften die 'Gretchenfrage' nach der Definition militärischer Tradition. Auch beim Militär gilt: Geschichtsbilder prägen Geschichtsbewusstsein, die über die 'Geschichtspolitik' zum Indikator der Identifikation mit dem zu verteidigenden Staatswesen werden. Das Forschungsfeld 'Militärische Tradition' ist ein Stiefkind der politikwissenschaftlichen und historischen Forschung. Die Politikwissenschaft (als 'kritische Ordnungswissenschaft' [E. Voegelin]) hat keine Modelle anzubieten, die abseits chronologischer und narrativer Deskription eine systematische Kategorisierung und Einordnung des historisch-politischen Selbstverständnisses von Streitkräften ermöglichen. Diese 'Theorielücke' gilt es zu schließen; Traditionsmodelle sind zu bilden, institutionelle Vorgaben (die Bundeswehr hat einen sog. 'Traditionserlass') sind ggfs. zu integrieren sowie ihre reale Umsetzung kritisch zu hinterfragen, um eine Perspektive für die generelle Anwendbarkeit zu entwerfen.

Folgende Modelle und Thesen dienen als Grundlage:
1.) In Zeiten der Auflösung kollektiver Erinnerungskulturen von Staaten und Gesellschaften (die mediale Aufarbeitung folgt dem chronologischen 'Zufall') bieten verschiedene Formen von 'Tradition' mentale Stabilitätsanker. Traditionsvorstellungen sind beim Militär besonders stark ausgeprägt, formalisiert und verinnerlicht. 'Geschichte' fungiert dabei als Katalysator – als Verstärker (Argument) oder durch Negation (Loslösung des militärischen Handelns von den Rahmenbedingungen). Aber: Geschichte ist nicht gleich Tradition.
2.) Das vormoderne Traditionsmodell folgt einem innermilitärischen Professionalismus-Begriff, der das zeitlose militärisch-funktionale 'Handwerk' präferiert. Es schafft Legitimation, ist nicht zu hinterfragen, es gilt unabhängig vom politischen System. Es zielt auf die 'Seele' der Soldaten.
3.) Das moderne Traditionsmodell bindet die bewaffnete Macht im Traditionsverständnis an die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Gegenwart und schließt daher große Teile der Vergangenheit aus. Es bildet Identität und ist eng an die Politische Kultur, i.e. auch die 'Geschichtspolitik' des politischen Systems angebunden. Militärische Tugenden sind nicht von der Werteorientierung der Gesellschaft zu trennen. Es zielt auf den 'Kopf' des Soldaten.
4.) Stufenmodelle benutzen eklektizistisch Bausteine der beiden Modelle. Sie entstehen in Übergangszeiten zwischen 'alt' und 'neu' (vergleichbar dem Modell von Thomas S. Kuhn).
5.) Die Bundeswehr beruft sich in ihrem Traditionsverständnis auf die Preußischen Militärreformen, den militärischen Widerstand gegen Hitler und das NS-System sowie ihre eigene Geschichte. Dieses offizielle Verständnis lässt sich ohne große Probleme in das moderne Traditionsmodelle einfügen.
6.) 'Reibungsverluste' entstehen durch die reale Gestaltung, die sich in der Benennung von Kasernen (z.B. Rommel), Verbänden (z.B. Mölders) und Straßen (z.B. Marseille) niederschlägt. Eine offene und kritische Diskussion ist notwendig.
7.) Das moderne Traditionsmodell ist in Demokratien (theoretisch) alternativlos und als Typus generell übertragbar – auch für ein mögliches zukünftiges gemeinsames Traditionsverständnis europäischer Streitkräfte.
8.) Dennoch könnte der Versuch der Übertragung auf andere europäische Streitkräfte schwierig werden. So wie eine europäische Öffentlichkeit fehlt, folgen die meisten Armeen dem vormodernen Traditionsmodell.