Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft
Politik und Geschichte

"Geschichtspolitik: Theoretische Ansätze und empirische Fallstudien"


Tagung des Arbeitskreises "Geschichte und Politik" in der DVPW in Siegen vom 4./5. Juni 2004


Freitag, 4. Juni 2004

13:00 Begrüßung

1. Definitorische Klarstellungen und theoretische Einordnungen
Moderation: Claudia Fröhlich, M.A., Berlin

13:15-13:30
Malte Thießen, Hamburg
Einige Anmerkungen zu den Begriffen des kollektiven, kommunikativen, kulturellen und sozialen Gedächtnisses sowie zum floating gap.

13:30-13:40
Dr. Birgit Schwelling, Frankfurt / Oder
Anmerkungen zur theoretischen Beziehung zwischen Geschichtspolitik und Konstruktion von Identität

13:40-13:50
PD Dr. Horst-Alfred Heinrich, Stuttgart
Anmerkungen zur theoretischen Beziehung zwischen Geschichtspolitik und Konstruktion von Identität

13:50-14:00 kurze Diskussion

2. Thematischer Schwerpunkt: Geschichtspolitik und Identitäten
Moderation: Dr. Horst-Alfred Heinrich

14:00-15:00 (Referat und Diskussion)
Barbara Könczöl, Leipzig
Sakralisierung, Mythos und Identität. Der 15. Januar 1919 als politischer Gedenktag der DDR in der Ära Ulbricht

15.00-15:15 Pause

15:15-16:15 (Referat und Diskussion)
Dr. Franz Mauelshagen, Historisches Seminar, Universität Zürich
Das Osmanische Reich als Argument. Geschichte und Geschichtswissenschaft in der politischen Debatte über einen EU-Beitritt der Türkei

16:20-17:30 (Filmvorführung zum Abendvortrag)
es wird gezeigt: "Jud Süß" von Veit Harlan (1940)

17:30-20:00 Abendimbiss

20:00-21:30 Abendvortrag
Moderation: Dr. Michael Kohlstruck

Dr. Thomas Henne, Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte
Der geschichtspolitische Konflikt um Veit Harlan in der frühen Bundesrepublik


Samstag, 5. Juni 2004

3. Einstiege
Moderation: Dipl. Soz.-Wiss. Karsten Stephan

9:00-9:15
Dr. Claudia Lenz, Oslo/Hamburg
Anmerkungen zu Geschichtspolitik und Vergleich

9:15-9:30
PD Dr. Marc Arenhövel, Gießen
Braucht Geschichtspolitik eine Theorie?

9:30-9:45 kurze Diskussion

4. Thematischer Schwerpunkt: Geschichtspolitik in vergleichenden Studien

Moderation: Dr. Peter Krause

9:45-10:45 (Referat und Diskussion)
Oliver Diepes, PhD-student, University of Leiden, Netherlands
Die postkoloniale Erinnerung der Kolonialmächte: Deutschlands Geschichtspolitik im europäischen Vergleich

10.45-11:00 Pause

11:00-12:00 (Referat und Diskussion)
Dr. Harald Schmid, Institut für Politikwissenschaft, Universität Hamburg
Systemwechsel und Geschichtsbild. Zur Debatte um die "doppelte Vergangenheitsbewältigung" von NS- und SED-Vergangenheit

12:00 Ende der Tagung anschließend AK-Sitzung

Abstracts der Vorträge


Barbara Könczöl, Leipzig
Sakralisierung, Mythos und Identität. Der 15. Januar 1919 als politischer Gedenktag der DDR in der Ära Ulbricht

In diesem Vortrag soll der Versuch der SED nachgezeichnet werden, durch die Aneignung des "kollektiven Gedächtnisses" (Halbwachs) die Bevölkerung zu integrieren und Legitimität zu erzeugen. Es wird davon ausgegangen, dass dies nicht einfach mit Hilfe eines Interpretationsmonopols über die Geschichte geschah, sondern auch durch politische Mythen und die Inszenierung quasi-religiöser Massenereignisse. Indem die SED bestimmte Ereignisse und Personen sakralisierte, schuf sie Mythen, die Werte und Normen transportieren und eine kollektive Identität erzeugen sollten. Unter Mythen werden hier - in Anlehnung an Blumenberg - Geschichten verstanden, "in denen und durch die der human unverfügbaren Faktizität der Welt eine Bedeutung für den Menschen beigelegt wird". Es handelt sich dabei also um Sinnstiftung. Die Schaffung dieser politischer Mythen ist m.E. einem Prozess zuzuordnen, den ich nach Emilio Gentile "Sakralisierung der Politik" nenne.
Neben dem Antifaschismus - dem Gründungsmythos des Staates DDR - gab es einen weiteren Mythos, der eine zentrale identitätsverbürgende Bedeutung inne hatte. Über das Gedenken an die Ermordung der beiden kommunistischen Führer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurde ein Ursprungsmythos der Partei geschaffen. Dieser war zentral für die Identitätskonstruktion der deutschen Kommunisten. Gerade für die SED war es wichtig, ihre kommunistische Tradition zu betonen, weil die DDR kein eigenständiger Nationalstaat war und sich in ständiger Systemkonkurrenz zur Bundesrepublik befand. Allerdings wohnte dem Gedenken eine Ambivalenz inne. Der Umgang mit den Werken der beiden Arbeiterführer - vor allem mit Luxemburgs - stellte auf Grund des ideologischen Rahmens ein Problem dar.
Dieser Vortrag will für die 50er und 60er Jahre den Versuch der SED-Führung nachzeichnen, diese ambivalenten Seiten durch die Sakralisierung Luxemburgs und Liebknechts zu neutralisieren, um so das Erbe der deutschen Arbeiterbewegung für sich in Anspruch nehmen zu können.


Dr. Franz Mauelshagen, Historisches Seminar, Universität Zürich
Das Osmanische Reich als Argument. Geschichte und Geschichtswissenschaft in der politischen Debatte über einen EU-Beitritt der Türkei

Das Osmanische Reich als historischer Vorgänger der Türkei spielt in der aktuellen Debatte über Pro und Contra eines türkischen EU-Beitritts eine wichtige Rolle. In der deutschsprachigen Öffentlichkeit kreisen die Argumente immer wieder um die gleichen historischen Bezugspunkte: von der Eroberung Konstantinopels 1453, den osmanischen Belagerungen Wiens 1529 und 1683 bis zum Genozid an den Armeniern 1915-18. Im Schatten solcher "Erinnerungen" scheint sich die Geschichte des Verhältnisses der Türkei zu Europa auf Konfrontation zu reduzieren. Es sind vor allem die Gegner einer türkischen EU-Mitgliedschaft - unter ihnen eine Reihe prominenter deutscher Historiker -, die mit dem Hinweis auf das "Kollektivgedächtnis" (H.-U. Wehler) für eine solche Verkürzung argumentieren. Eine zweite Argumentationslinie stützt sich auf die vermeintliche Existenz fester Kulturgrenzen zwischen "Europa" und der Türkei. Dabei geht es vor allem um die religiöse Trennlinie zwischen Christentum und Islam.
Es soll im Beitrag vor allem darum gehen, die Grundlagen der Argumentation zu durchleuchten. In der Konstruktion eines diffusen "Kollektivgedächtnisses" wird die Tatsache, dass die Beziehungen europäischer "Nationen" zu den Osmanen über Jahrhunderte ebenso verschieden wie umstritten waren, zum Verschwinden gebracht. Eine letztlich dezidiert deutsche Perspektive kann aber nicht mehr beanspruchen, repräsentativ für Europa zu sprechen. Überdies gilt es, einen Kulturbegriff zu hinterfragen, der den von Huntington prognostizierten "clash" geradezu provoziert. Bei alledem geht es um die Rolle der Geschichtswissenschaft in einer der wichtigsten Gegenwartsfragen: Dient sie sich einer Politik an, die nach dem älteren Kunstruktionsmuster "nationalen Bewusstseins" Historie und Historien nach ihrer Eignung für die Bildung eines übernational-europäisches Identitätsbewusstseins selegiert? Oder behält sie sich solchen Reduktionismen gegenüber eine kritische Funktion vor?


Dr. Thomas Henne, Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte
Der geschichtspolitische Konflikt um Veit Harlan in der frühen Bundesrepublik

Die Auseinandersetzungen um Harlan und sein antisemitisches Filmmelodram "Jud Süß" zogen sich über die gesamten 1950er Jahre hin und waren ein Musterbeispiel für die Konstruktion nationaler Identität anhand einer Geschichtsdebatte.
Der Film, in der NS-Zeit ein großer Publikumserfolg mit rund 20 Millionen Zuschauern, polarisierte die Gesellschaft nach 1945: Die Studenten, die gegen Aufführungen von Harlans Nachkriegsfilme protestierten, zogen aus der Geschichte die Konsequenz, dass Harlan, der seine Beteiligung an dem Film marginalisierte, nicht mehr als Filmemacher im Nachkriegsdeutschland auftreten könne. Andererseits warb Harlan auf Vortragsreisen, mit Abstimmungen und mit Gegendemonstranten dafür, dass ein Schlussstrich gezogen werden müsse. Mit einem langjährigen Strafverfahren gegen Harlan und einem Zivilverfahren gegen Erich Lüth, der zum Boykott der Filme Harlans aufgerufen hatte, wurde der Konflikt auch auf der Ebene des Rechts ausgetragen. Die daraus hervorgegangene "Lüth"-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist noch heute jedem Juristen bekannt.
Die von Harlan verfochtene Geschichtspolitik konnte sich letztlich nicht durchsetzen: Wer wie Harlan seine eigene Beteiligung am Antisemitismus der NS-Zeit offensiv marginalisierte, stellte sich außerhalb des gesellschaftlichen Konsens, der in den 1950er Jahren das Schweigen über die eigene Mitwirkung gebot.
Der Vortrag wird diesen geschichtspolitischen Konflikt beleuchten und dazu auch den heute weitgehend unsichtbaren "Jud Süß"-Film kurz vorstellen.


Oliver Diepes, PhD-student, University of Leiden, Netherlands
Die postkoloniale Erinnerung der Kolonialmächte: Deutschlands Geschichtspolitik im europäischen Vergleich

Dieser Beitrag analysiert die verschiedenen Instrumente der postkolonialen Erinnerungspraktiken, die aktuell in Deutschland zur Anwendung kommen, und vergleicht sie mit der Situation anderer Ex-Kolonialmächte. Als Protagonisten des Erinnerungsdiskurses in Deutschland werden dabei vor allem Repräsentanten des Staates, der Bildungsinstitutionen und der Interessengruppen identifiziert.
Die Analyse der deutschen kolonialen Erinnerung umfasst die Aktivitäten in Zusammenhang mit dem Gedenkjahr 2004 (Ausstellungen, Veröffentlichungen, Veranstaltungen etc.) und in einer erweiterten Perspektive Regierungsaktivitäten, z.B. Staatsbesuche, bilaterale Abkommen usw. Die deutschen Reaktionen auf die Entschädigungsforderungen der Herero-Gemeinschaft werden in Hinblick auf diese beiden Aspekte betrachtet.
Die deutsche Position wird mit verschiedenen europäischen Ländern (Frankreich, Niederlande, Belgien, Großbritannien) verglichen, in denen die Kolonialvergangenheit Gegenstand öffentlicher Reflexion ist. Der Schwerpunkt liegt dabei auf aktuellen Fallbeispielen (z.B. französische Militärinterventionen in afrikanischen Staaten oder der Konflikt zwischen dem Commonwealth und Simbabwe).
Das Ziel der Untersuchung besteht darin, Kolonialgeschichte als Argument für eine spezifische politische Haltung oder für ein politisches Handeln europäischer Staaten in einen globalen "Nord-Süd"- Zusammenhang zu stellen.


Dr. Harald Schmid, Institut für Politikwissenschaft, Universität Hamburg
Systemwechsel und Geschichtsbild. Zur Debatte um die "doppelte Vergangenheitsbewältigung" von NS- und SED-Vergangenheit

Der Beitrag fragt nach dem Stellenwert von Auseinandersetzungen um Geschichtsbilder im Prozess des politischen Regimewechsels. Dazu greift er eine theoretisch-konzeptionelle Problemstellung auf (I.) und diskutiert diese anhand einer empirischen Fallstudie (II.).
1.) Die vor allem im Zuge der epochalen Veränderungen zwischen 1989 und 1991 intensivierte und verbreiterte Forschung zum politischen Systemwechsel hat inzwischen verschiedenste Bereiche der gesellschaftlichen und politischen Transformationsprozesse detailliert untersucht. Neben den politisch-institutionellen und sozioökonomischen Faktoren des Umbruchs ist freilich die Veränderung von Geschichtsbildern als konstitutiver Bestandteil der Transition bislang erkennbar unterbelichtet. Diese Vernachlässigung - eine Vernachlässigung des Faktors der politischen Kultur - wird zunächst mit einer Rekonstruktion zentraler Konzepte dieses Forschungszweigs konturiert, aus denen dann der systematische Stellenwert der hier interessierenden Such- und Orientierungsprozesse im Medium der Geschichte skizziert entwickelt wird.
2) Die Felder des historischen Orientierungsprozesses in Deutschland seit 1989/90 sind mannigfaltig. Sie kreisen letztlich um eine Neubestimmung des kollektiven, nun dezidiert sowohl national als auch europäisch ausgerichteten Selbstverständnisses - von Kontroversen über die Bedeutung der deutschen Geschichte im Allgemeinen bis zu Einzeldiskussionen etwa um die "Berliner Republik", um eine "Normalisierung" oder auch die "Historisierung" des Nationalsozialismus. In diesem geschichtspolitischen Argumentations- und Handlungsfeld zählt die Auseinandersetzung um die "doppelte Vergangenheitsbewältigung" von NS- und SED-Vergangenheit zu den zentralen Feldern einer Neujustierung der politischen Kultur. Diese Debatte wird in ihrer Problemlage beschrieben und mit Blick auf den spezifisch deutschen Transformationskontext analysiert.