Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft
Politik und Geschichte

"Vergangenheitspolitik als Interaktion zwischen Gesellschaft und ihren Mitgliedern"


Tagung des Arbeitskreises "Geschichte und Politik" am 28./29.04.2000


Tagungsprogramm:


Raimund Ottow, Berlin:
Edmund Burke über die Gebundenheit der Individuen durch die Tradition

Vormoderne Gesellschaften, so lässt sich argumentieren, reproduzieren sich ideell stets auf diese oder jene Weise in einem traditionalistischen Modus. Im Zuge der Renaissance und Aufklärung wird dieser Reproduktionsmodus in Frage gestellt und wird - das ist die These - dadurch erst in eine Reflexivität gezwungen, die sich meiner Einschätzung nach paradigmatisch im (Spät-) Werk von Edmund Burke darstellt. Burke argumentiert für die Traditionsgebundenheit der Individuen und Gesellschaften und muss diese Position, im Gegensatz zu einem vorreflexiven Traditionalismus, gegen rationalistische Positionen begründen. Dadurch gerät er in die paradoxe Situation, im Rahmen einer rationalen Argumentation für die Geltung nicht-rationaler Prinzipien zu werben. Ein interessanter Nebenaspekt dessen ist die rhetorische Strategie, auf die er dabei zurückgreift. Inhaltlich ist jedoch deutlich, dass der emphatische Bezug auf die Vergangenheit wesentliches Strukturprinzip seiner Argumentation ist. Das wäre im Einzelnen zu zeigen und zu konkretisieren. Da es sich dabei um eine (fast möchte ich sagen: wüste) Polemik handelt, wäre seine Position aus dem Kontext des Gegensatzes gegen die englischen 'Rational Dissenter', gegen Thomas Paine und gegen die französische Aufklärung und Revolution zu entwickeln, die alle - jedenfalls in der Perzeption Burkes - einem gleichsam zeitlosen Universalismus huldigen.


Claudia Fröhlich und Michael Kohlstruck, Berlin:
Thematisierungsstrategien und Handlungsbedingungen einer kritischen Vergangenheitspolitik. Eine Analyse der politischen Akteure Fritz Bauer und Reinhard Strecker

Die Vergangenheitspolitik der Bundesregierung unter Kanzler Konrad Adenauer stand unter dem Leitmotiv einer weitreichenden Integration und Amnestierung der ehemaligen Träger des NS-Regimes sowie einer Abwehr des Neonationalsozialismus. In den 50er und 60er Jahren erhoben einzelne politische Individuen gegen diesen wirkungsmächtigen vergangenheitspolitischen Konsens Einspruch und setzten eine kritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit auf die öffentliche Agenda. Der Vortrag nimmt exemplarisch zwei recht unterschiedliche politische Akteure, Fritz Bauer und Reinhard Strecker, zum Ausgangspunkt und analysiert sowohl Thematisierungsstrategien wie Handlungsbedingungen ihrer kritischen Vergangenheitspolitik. In einem zweiten Teil zeigt der Beitrag, daß der "Erfolg" der politischen Akteure auf einer normativen Ebene der politischen Kultur der Bundesrepublik zu verorten ist.


Birgit Seemann, Frankfurt am Main:
Vergangenheitspolitik aus deutsch-jüdischer Perspektive: Jeanette Wolff (1888-1976)

Jeanette Wolff wurde 1888 als älteste Tochter jüdischer Eltern in der katholischen Textilarbeiterstadt Bocholt geboren und starb 1976 in Berlin. Schon als Jugendliche engagierte sie sich in der Sozialdemokratie und gehörte als Bocholter Stadtverordnete zu den wenigen Kommunalpolitikerinnen Westfalens. Nach der NS-Machtübernahme wurde sie als eine der ersten weiblichen politischen Oppositionellen verhaftet und in zweijährige "Schutzhaft" genommen. Sie überlebte das Rigaer Getto und das KZ Stutthof; außer einer Tochter wurde ihre gesamte Familie unter dem NS-Regime ermordet. Als eine von wenigen deutschen Schoa-Überlebenden kehrte Jeanette Wolff mit dem konkreten Willen zur gesellschaftspolitischen Neugestaltung nach Deutschland zurück. Demokratie im "Land der Täter" verband sich für sie unauflösbar mit Vergangenheitsaufklärung, Erinnerungspflege und der Entwicklung einer politischen "Zivilcourage"-Kultur. Für ihr Engagement in Wort und Schrift erhielt die spätere Berliner SPD-Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden das Grosse Bundesverdienstkreuz. Mit dem methodischen Zugang einer politikwissenschaftlichen Biographieforschung würde ich in meinem Tagungsbeitrag die Interdependenzen von privatem Leben, öffentlichem Handeln und politischem Denken der deutsch-jüdischen "Vergangenheitspolitikerin" Jeanette Wolff im gesellschaftlichen Kontext reflektieren.


Harald Wydra, Regensburg:
Vergangenheitspolitik und zweite Realität im post-kommunistischen Ost- und Mitteleuropa

Dieses Paper konzeptualisiert Vergangenheitspolitik im post-kommunistischen Ost- und Mitteleuropa im Hinblick auf die Herausbildung neuer individueller und kollektiver Identitäten in Politik und Gesellschaft. Das Paper vertritt die These, dass der Zusammenbruch des Kommunismus als staatliches und ideologisches System keinen Bruchpunkt in kollektiven Bewusstseinsstrukturen in post-kommunistischen Gesellschaften darstellte. Der liminalen Situation eines nicht erfolgten Übergangs zum Kommunismus folgte ein liminaler Zwischenzustand zwischen Ende des Kommunismus und nicht erreichter Demokratie. Der fehlende psychologische und biographische Bruch zwischen kommunistischer Vergangenheit und erhoffter demokratischer Zukunft verstärkte die bereits stark auf Mythen und Bildern ruhenden Wahrnehmungen der eigenen Vergangenheit. Dieser erfahrungsgeschichtliche Hintergrund hat in großen Teilen Osteuropas eine Bewusstseinsspaltung zwischen erster Realität (objektiv-institutioneller) und zweiter Realität (subjektiv-emotionaler) befördert. Gestützt auf empirisches Material v.a. aus Polen, Ex-Jugoslawien, Ex-Tschechoslowakei und Russland werden politische und gesellschaftliche Identitäten auf deren Prägung durch die nicht abgeschlossene Vergangenheit analysiert. Im Einzelnen behandelt das Paper Vergangenheitspolitik unter den Aspekten der Kontinuität von Mentalitäten, der Kontinuität historischer Antagonismen in Politik und Gesellschaft, sowie der Reziprozität kontroverser Bildern und Mythen der Vergangenheit.


Horst-Alfred Heinrich, Gießen:
Geschichtswahrnehmung in Deutschland und den USA

Jede Gesellschaft muss sich in mehr oder weniger ausgeprägter Form mit negativen Ereignissen in ihrer Geschichte herumschlagen. Früher erfahrene Traumata drohen das kollektive Selbstbild zu zerstören, relativieren die Glorie von Gründungsmythen und sind nicht selten Quell permanenter innergesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Die Konflikte um die Frage, wie mit dem Nationalsozialismus im heutigen Deutschland umzugehen sei, sind Legende und liefern einen Beleg für die Schwierigkeiten, die negative Teile der eigenen Geschichte bereiten können. Da aber jede Nation auf solche Weise mit sich hadern dürfte, stellt sich die Frage, inwieweit das Schicksal der anderen in die Sicht auf das eigene Selbst einbezogen wird. Gibt es gegenseitige Aufrechnungen? Oder werden die eigenen Negativanteile unabhängig von dem Handeln von Fremdgruppen betrachtet? Um diese Fragen zu beantworten, führte ich sowohl in Deutschland als auch in den USA Interviews mit Studierenden durch. Sie zielten auf das Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Verbrechen, die früher durch die eigene Gesellschaft begangen wurden. Gleichzeitig ging es aber auch darum, die Untaten in der jeweils anderen Nation zu bewerten.


Ingrid Miethe, Geifswald:
Die Bedeutung des Verständnisses der DDR als Diktatur für Akteure der Oppositions- und Bürgerbewegungen der DDR

Die Frage danach, ob die DDR als Diktatur zu verstehen ist oder nicht, hat nach der deutschen Vereinigung zu einer neuerlichen wissenschaftlichen und politischen Debatte geführt. Nicht zuletzt aus den Reihen der Akteure der ehemaligen Oppositions- und Bürgerbewegung der DDR wird diese Frage zumeist heftig bejaht. In der Art und Weise und der Vehemenz mit der diese Debatte heute geführt wird, bekommt bereits der oberflächliche Betrachter den Eindruck, dass sich dabei politische und persönliche Argumentationen untrennbar miteinander verwirren. Am Beispiel von Akteurinnen aus der DDR-Opposition soll aufgezeigt werden, wie das heutige Verständnis der DDR als Diktatur mit der eigenen (Familien-)Biographie korrespondiert. Empirische Basis sind lebensgeschichtliche Interviews mit Frauen aus den Oppositions- und Bürgerbewegungen der DDR, die als hermeneutische Fallrekonstruktionen ausgewertet wurden, sowie eine Gruppendiskussion mit einer Gruppe "Frauen für den Frieden". In der Untersuchung wird deutlich, dass die oppositionelle Aktivität in der DDR eine indirekte Auseinandersetzung mit der in den Nationalsozialismus involvierten Elterngeneration darstellt. Die Frauen leisteten in der DDR stellvertretend für die Eltern einen Widerstand, den diese während der NS-Zeit nicht geleistet hatten. Die politische Aktivität der untersuchten Frauen ist dabei konstitutiv an das Verständnis der DDR als Diktatur gebunden, da nur in einem System das strukturell mit dem NS verbunden gesehen werden kann, das eigene Handeln einen Bezug zum NS-System bekommt. Deutlich wird, dass auch die heutige Diskussion um das Verständnis der DDR als "Diktatur" nicht eine theoretische Diskussion darstellt, sondern implizit bestimmte für die eigene (Familien-)Biographie relevante Aspekte mittransportiert und mit dieser Diskussion der zentralste Aspekt für die Bewertung des eigenen oppositionellen Handelns verbunden ist.