Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Demokratische Kontrolle regionaler Organisationen? Die wahren Gründe, warum regionale Organisationen Parlamente und Gerichtshöfe haben

Autor*innen: Anja Jetschke und Sören Münch

 

Regionalorganisationen wie die EU haben zum Teil weitreichende Kompetenzen über ihre Mitgliedstaaten. Prominente Beispiele sind das Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts gegen den Europäischen Gerichtshof, in dem das höchste deutsche Gericht dem europäischen Gericht Kontrollversagen vorwirft, oder die Forderung des EU-Parlaments nach stärkeren Sanktionen gegen Ungarn, das nach internationalen Demokratieindizes nicht mehr als „demokratisch“ gelten kann: Mitgliedstaaten und Regionalorganisationen ringen nicht nur um wechselseitige Kontrolle, sondern der Ruf nach der demokratischen Kontrolle der Organisationen durch entsprechende Organe wird immer lauter.

Fokus des demokratischen Kontrollbegehrens sind in der Regel Gerichtshöfe und Parlamente, da sie zwei wichtige Dimensionen demokratischer Kontrolle zu repräsentieren scheinen: die Repräsentation von Interessen im Fall von Parlamenten (Inklusionsfunktion) und die Überwachung von Entscheidungen im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit rechtsstaatlichen Prinzipien durch Gerichtshöfe (konstitutionelle Funktion).

Von 72 existierenden Regionalorganisationen weltweit haben 42 entweder einen Gerichtshof, ein Parlament, oder beides eingerichtet. Von diesen „demokratischen Organen“ sind 19 interparlamentarische Versammlungen, 17 Gerichtshöfe und sogar neun supranationale Parlamente, also Parlamente, bei denen die Parlamentarier*innen extra gewählt werden.

 

Abbildung 1

Anzahl der Gerichtshöfe, Parlamente und Gesamtzahl der ROs über Zeit, 1945–2018

 

Tatsächlich konkurrieren drei Erklärungen für dieses Phänomen miteinander, die grob unterteilt werden können in solche, die bei den Charakteristika der Mitgliedstaaten ansetzen, und solche, die bei den funktionalen Erfordernissen der Organisation ansetzen. Die Unterscheidung ist deshalb wichtig, weil wir im Idealfall wissen wollen, wie viel Entscheidungsfreiheit Staaten darüber haben, ob beispielsweise ein Gerichtshof eingerichtet wird oder nicht. Das ist vielleicht für die EU nicht mehr entscheidend, weil sie seit den 1950er-Jahren einen Gerichtshof hat, wohl aber für die 55 anderen weltweit existierenden Regionalorganisationen, von denen wir gerne wüssten, wovon es abhängt, ob sie einen Gerichtshof oder ein Parlament etablieren. Müssen wir erst warten, bis ausreichend Mitglieder demokratisch sind (was beide Organe beispielsweise für die Assoziation Südostasiatischer Staaten unwahrscheinlich macht), oder ist auch unter autokratischen Staaten ein regionaler Gerichtshof oder ein regionales Parlament zu erwarten?

 

 

Kein Grund: Demokratien wollen demokratisch kontrollierte Regionalorganisationen

Ein möglicher Grund, der immer wieder dafür genannt wird, dass Regionalorganisationen Gerichtshöfe und Parlamente haben, ist der Demokratiestatus der Mitglieder. Folglich würden sie Gerichtshöfe und Parlamente schaffen, weil beide wichtige Dimensionen einer Demokratie widerspiegeln. Die Idee, dass mehrheitlich demokratische Staaten ihre innerstaatlichen Kontrollstandards auf Regionalorganisationen anwenden, ist intuitiv überzeugend.

Ein alternativer Grund wird in den besonderen Erfordernissen sich demokratisierender Staaten gesehen. Staaten, die gerade eine Transition von einer Diktatur zu einer Demokratie durchgemacht haben, brauchen ein demokratisches Sicherheitsnetz, das einen Rückfall verhindert. Diese Funktion können Parlamente oder Gerichtshöfe übernehmen, wie an den Urteilen des Europäischen Gerichtshofes am Beispiel Ungarns deutlich wird. So plausibel der Zusammenhang klingt, statistisch gesehen gibt es keinen Zusammenhang zwischen dem Demokratiestatus der Mitglieder und der Existenz solcher Organisationen. Auch Organisationen mit mehrheitlich autokratischen Mitgliedern etablieren Gerichtshöfe und Parlamente, wie die Eurasische Union. Dass Mitglieder einfach solche Organe schaffen, weil sie damit ähnliche Erwartungen an demokratische Kontrolle hegen wie sie es innerstaatlich tun, ist unwahrscheinlich.

 

Zwei starke Gründe: die Kompetenzen von Regionalorganisationen und ihr Handel

Zwei starke Gründe liefern hingegen funktionale Überlegungen für die Etablierung von Gerichtshöfen und Parlamenten. Demnach sind Gerichtshöfe und Parlamente eher da anzutreffen, wo die Organisationen komplexere Aufgaben zu bewältigen haben und diese Organe – wie den Gerichtshof – brauchen, um die Vertragsverpflichtungen aus dem Binnenmarkt überwachen zu lassen.

Je mehr Kompetenzen Mitglieder an eine Organisation delegieren, wie beispielsweise zur Schaffung eines Binnenmarktes oder der Sicherung von Frieden, wie in vielen afrikanischen Regionalorganisationen, umso wahrscheinlicher ist es, dass sie dies mit der Schaffung eines Gerichtshofes und eines Parlaments verbinden. Zwar fällt es der Politikwissenschaft schwer zu begründen, warum eine Regionalorganisation ein Parlament benötigt, um komplexere Aufgaben zu bewältigen. Wir können aber schon mal mit relativ großer Wahrscheinlichkeit ausschließen, dass Demokratien notwendig sind, um Parlamente zu schaffen. Deshalb hat beispielsweise die Eurasische Union ein Parlament.

 

Ein überraschender Grund: ein friedliches Umfeld

Einen weiteren Grund liefert der Kontext von Regionalorganisationen. Denn tatsächlich haben die Regionalorganisationen, bei denen Mitglieder mehr miteinander handeln und die weniger Konflikte untereinander haben, eher einen Gerichtshof oder ein Parlament. Dieser zunächst unerwartete Befund ist weniger überraschend, wenn man von den funktionalen Erfordernissen einer durchschnittlichen Regionalorganisation ausgeht. Denn die meisten werden gegründet, um den Handel unter den Mitgliedern zu steigern. Und dieser floriert eher, wenn die Mitglieder nicht gerade miteinander Krieg führen oder durch einen Bürgerkrieg geschwächt sind und deshalb andere Probleme haben, als über einen Gerichtshof und ein Parlament nachzudenken.

 

Fazit: von der Externalisierung demokratischer Standards zur internationalen Organisation

Die Einrichtung von Gerichtshöfen und Parlamenten in Regionalorganisationen ist umso wahrscheinlicher, wenn die Mitgliedstaaten viele Kompetenzen delegieren, sie viel Handeln und wenig Konflikte untereinander haben. Alle Faktoren weisen eher auf die funktionale Nachfrage oder begünstigende Bedingungen hin als darauf, dass Demokratien ihre innerstaatlichen Erwartungen an demokratische Kontrolle externalisieren. Für die Debatte um das demokratische Defizit von regionalen und internationalen Organisationen bedeutet das konkret, dass der demokratische Staat nicht der beste Maßstab ist, um zu bewerten, wie gut Regionalorganisationen funktionieren. Eine hilfreiche alternative Perspektive ist, sie sich als das vorzustellen, was sie sind: Eine Art von internationaler Organisation, die geschaffen wurde, um Probleme des transnationalen Regierens zu lösen und die Umsetzung vereinbarter Regelungen zu überwachen.

 

  

Über die Autor*innen:

Anja Jetschke ist Professorin für Internationale Beziehungen am Institut für Politikwissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen.

Sören Münch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen des Instituts für Politikwissenschaft der Georg-August-Universität Göttingen.