Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Demokratische Argumente für Einwanderung

Politische Debatten über Immigration sind in der Öffentlichkeit demokratischer Einwanderungsstaaten allgegenwärtig. Seit den 1980er-Jahren wird auch in der normativen politischen Theorie heftig über die Frage gestritten, ob liberale Demokratien das Recht haben, Einwanderung zu kontrollieren und zu begrenzen. Dass faktisch alle Staaten dieses Recht für sich in Anspruch nehmen, ist unbestreitbar. Die Frage ist, ob Einwanderungskontrolle aus demokratischer Sicht normativ gerechtfertigt werden kann.

Die Frontlinie in dieser Debatte verläuft meist zwischen Befürworten allgemeiner Menschenrechte auf Bewegungsfreiheit und Verbesserung der eigenen Lebenschancen durch Migration sowie Verteidigern von Einwanderungskontrollen als Voraussetzung für demokratische Selbstbestimmung einer politischen Gemeinschaft über ihre Zusammensetzung.

In meinem jüngsten Beitrag zu dieser Auseinandersetzung versuche ich, diese Frontlinie zu durchbrechen. Einerseits ist die Ermächtigung zur Einwanderungskontrolle ein Wesensmerkmal staatlicher Souveränität, nicht jedoch von demokratischen Regierungsformen. Das kann man daran erkennen, dass auf substaatlicher Ebene (in Kommunen und Bundesländern) demokratische Gemeinwesen mit offenen Grenzen existieren. In einer pluralistischen Staatenwelt ist es für Demokratien allerdings unabdingbar, Einwanderung kontrollieren zu können. Nur so können sie ein selbstgestaltes Bündel von zivilen, politischen und sozialen Bürgerrechten in einer Umwelt aufrecht erhalten, in der von anderen Staaten keine vergleichbaren Rechte gewährleistet werden. Andererseits ist die Ausübung von Einwanderungskontrolle immer rechtfertigungsbedürftig und es muss im konkreten Fall geklärt werden, ob eine Öffnung für Zuwanderung tatsächlich die Fähigkeit zur demokratischen Selbstregierung untergraben würde. Demokratische Staaten besitzen daher kein Willkürrecht auf Abweisung, sondern müssen jeweils begründen können, warum und für wen sie Zuwanderung begrenzen.

Diese Begründung kann sich nicht auf ein allgemeines Selbstbestimmungsrecht über die Zusammensetzung des Staatsvolks berufen. Ein solches Recht ist ohnehin eine paradoxe Konstruktion. Es enthält einen Zirkelschluss, weil es ein legitim zusammengesetztes Staatsvolk voraussetzt, in dessen Namen Entscheidungen über die Zusammensetzung desselben Volks getroffen werden. Daher kann die Begründung für Einwanderungskontrollen nur auf die konkreten Bedingungen demokratischer Selbstregierung hier und jetzt verweisen.

 

Demokratische Gründe für Freizügigkeit und Einwanderungsprogramme

Diese Bedingungen erfordern nicht nur eine Einwanderungskontrolle, sondern auch die Öffnung gegenüber bestimmten Kategorien von Migrant*innen. Ein unmittelbarer Zusammenhang besteht beim Recht auf internationale Freizügigkeit, das im gegenwärtigen Staatensystem nicht als Menschenrecht, sehr wohl aber als Bürgerrecht verankert ist. Staatsbürger*innen haben ein unbedingtes Rückkehrrecht, was für Menschen mit mehreren Staatsangehörigkeiten individuelle Korridore der Freizügigkeit zwischen diesen Staaten erzeugt. Staaten können darüber hinaus für alle ihre Bürger*innen Vereinbarungen über wechselseitige Freizügigkeit treffen, wie es in regionalen Staatenunionen in Europa, Südamerika, Afrika und Ozeanien geschehen ist. Sowohl Doppelstaatsbürgerschaft für Migrant*innen als auch das Streben nach erweiterten Mobilitätsrechten für die eigenen Bürger*innen mittels wechselseitiger Vereinbarungen mit anderen Staaten werden durch demokratische Prinzipien und Interessen gestützt.

Personenfreizügigkeit muss von kontrollierter Einwanderung für andere Gruppen unterschieden werden. Für die Öffnung gegenüber diesen ist wiederum entscheidend, ob die Gründe für ihre Aufnahme nicht nur von allgemeinen Menschenrechten, sondern auch von demokratischen Interessen gestützt werden. Das ist in meinen Augen nicht nur bei der Familienzusammenführung für zugelassene Migrant*innen aus Drittstaaten und der Aufnahme von Geflüchteten der Fall, sondern auch bei Arbeitsmigration, deren Motiv die Verbesserung von Einkommen und Lebenschancen ist. Dazu müssen wir lediglich annehmen, dass vernünftig geregelte ökonomische Migration aus ärmeren Staaten einen dreifachen Nutzen (triple win) für die Herkunftsstaaten, die Aufnahmestaaten und die Migrant*innen erzielen kann. Der Nutzen für das Aufnahmeland begründet, warum die Forderung nach einem ökonomischen Einwanderungsprogramm in dessen wohlverstandenem Eigeninteresse und mit sozialen Bürgerrechten kompatibel ist, solange eventuell benachteiligte untere Einkommensschichten durch die erzielten Gewinne entschädigt werden. Die Berücksichtigung des Nutzens für Migrant*innen und Herkunftsstaaten muss sich dagegen auf globale Gerechtigkeitspflichten stützen. Liberale Demokratien können sich diesen Gerechtigkeitspflichten nicht entziehen, wenn sie ohne Nachteile für die eigenen Bürger*innen erfüllt werden können. Ein Gleichgewicht in der Vertretung der betroffenen Interessen kann allerdings nur dann erzielt werden, wenn die Regulierung von Arbeitsmigration nicht ausschließlich durch die Aufnahmestaaten oder über bilaterale Abkommen mit den Herkunftsstaaten erfolgt, sondern durch internationale Organisationen, in denen auch die Interessen der Migrant*innen zu Wort kommen.

 

Die Wahl zwischen offenen und geschlossenen Demokratien in Europa

Meine Argumente für eine stärkere Öffnung demokratischer Staaten für Einwanderung stützen sich also auf drei Aspekte: auf die Bedingungen demokratischer Selbstregierung im Rahmen des internationalen Staatensystems, auf die Erhaltung und Erweiterung eines Systems demokratischer Bürgerrechte und auf die legitime Verfolgung kollektiver Eigeninteressen, welche durch globale Gerechtigkeitspflichten begrenzt, aber nicht verhindert wird. Der nahe liegende Einwand lautet, dass ein Wesensmerkmal von Demokratie hier noch ausgeklammert wurde: Sowohl die behaupteten Prinzipien als auch konkrete politische Entscheidungen zur Öffnung von Grenzen brauchen in einem demokratischen Staat ausreichende Unterstützung seitens der Bürger*innen. Eine gängige Auffassung demokratischer Selbstbestimmung ist, dass gleiche und freie Bürger*innen durch ihre Stimmen in demokratischen Wahlen selbst entscheiden müssen, ob sie eine Politik der Öffnung oder Schließung für Immigration wollen.

Politikwissenschaftler*innen haben für das letzte Viertel des vergangenen Jahrhunderts diagnostiziert, dass eine allmähliche Liberalisierung von Einwanderungspolitiken von politischen Eliten und Gerichten vorangetrieben werden konnte, weil und solange das Thema nicht in demokratischen Wahlkämpfen politisiert wurde. Diese Rahmenbedingung hat sich geändert. Rechtspopulistische Parteien greifen das Thema auf und mobilisieren Wähler*innen für eine Politik der nationalen Schließung. Wie bei den Attacken derselben Parteien auf den demokratischen Rechtsstaat stellt sich die Frage, ob eine radikale Schließung europäischer Gesellschaften für Immigration eine legitime demokratische Option ist, oder vielmehr Fundamente der demokratischen Ordnung untergraben würde, die nicht selbst zur Disposition durch demokratische Entscheidungen gestellt werden dürfen.

Auch diese Frage lässt sich besser beantworten, wenn wir die Veränderung historischer Kontexte berücksichtigen. Es mag sein, dass die US amerikanische Demokratie die lange Phase der Schließung gegenüber Einwanderung von 1921 bis 1965 – wenn auch sicherlich nicht ohne Schaden – überlebt hat. Doch der heutige europäische Kontext ist anders. Es gibt in der Europäischen Union (EU) keine klare Unterscheidung zwischen Zuwanderern und Einheimischen mehr, bei der die Präferenzen der letzteren bezüglich der Bedingungen für die Auswahl und Integration von Immigranten demokratisch ermittelt werden können. Die EU-Staaten sind untereinander stark vernetzte Migrationsgesellschaften geworden. Während die Differenzen zwischen grenzüberschreitender Mobilität und Einwanderung verschwimmen, gibt es eine starke Polarisierung der politischen Einstellungen zu diesen Fragen. In diesem Kontext könnte eine durch demokratische Wahlentscheidungen legitimierte Renationalisierung und Schließung sowohl ein Katalysator für demokratischen Niedergang sein, als auch dessen erwartbare Folge. Dieses letzte Paradox demokratischer Selbstbestimmung über Immigration ist nicht mehr theoretisch, sondern nur mehr praktisch aufzulösen: Die Öffnung bedarf demokratischer Mehrheiten, die sie unterstützen, aber die Schließung wäre eine Gefahr für demokratische Stabilität in Europa und sollte nicht als eine demokratisch legitime Option akzeptiert werden. Es gibt in Demokratien immer ein Potenzial der fundamentalen Selbstbeschädigung, das nur in politischen Auseinandersetzungen und abhängig von deren Ausgang entschärft werden kann. Die Frage der Offenheit gegenüber Immigration birgt im heutigen Europa ein solches Potenzial.

  

Drei Thesen zur demokratischen Legitimität von Einwanderung

  1. Souveräne Staaten sind zur Einwanderungskontrolle ermächtigt; demokratische Staaten müssen deren Ausübung aber damit rechtfertigen, dass sie in der konkreten Situation zur Aufrechterhaltung demokratischer Selbstregierung und Bürgerrechte notwendig ist.
  2. Demokratien sind gegenüber ihren eigenen Bürger*innen verpflichtet, deren internationale Bewegungsfreiheit durch die Toleranz mehrfacher Staatsbürgerschaften und wechselseitige Abkommen mit anderen Staaten zu erweitern. Sie haben auch Gründe, geregelte Arbeitsmigration aus ärmeren Staaten zu ermöglichen, sofern diese für alle beteiligten Staaten und Migrant*innen von Nutzen ist, weil in diesem Fall rationale Eigeninteressen durch globale Gerechtigkeitspflichten gestützt werden.
  3. In europäisch vernetzten Migrationsgesellschaften gibt es keine klare Unterscheidung mehr zwischen Einheimischen und Migrant*innen und diese Gesellschaften sind intern in Fragen der Migrationspolitik tief gespalten. In diesem Kontext berühren Entscheidungen über die Öffnung oder Schließung für Einwanderung Fundamente des liberalen und demokratischen Rechtsstaats und sollten nicht als für demokratische Selbstbestimmung offene Fragen aufgefasst werden.
 
  

Über den Autor:

Rainer Bauböck ist Professor am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz und Obmann der Kommission für Migrations- und Integrationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.