Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Das Wahlrecht zum deutschen Bundestag und seine Auswirkungen auf die Wahlchancen von Frauen

Im Fokus der aktuellen Debatte zur Wahlrechtsreform in Deutschland steht vor allem das mögliche weitere Anwachsen des Bundestages sowie die Auswirkungen verschiedener Lösungsansätze auf die Mandatszahlen der großen und kleinen Parteien. Dabei ist davon auszugehen, dass jede Änderung des Wahlrechts sich auf eine Vielzahl von Faktoren auswirkt, angefangen von den Verhaltensanreizen für Abgeordnete, sich in den Wahlkreisen verstärkt zu engagieren, über die Demokratiezufriedenheit der Bevölkerung bis hin zu den Wahlchancen für Menschen mit Migrationshintergrund oder Frauen. In diesem Beitrag möchte ich die Repräsentation von Frauen in den Blick nehmen und beleuchten, wie sich das deutsche Wahlrecht aktuell und nach einer möglichen Reform auf den Frauenanteil im Bundestag auswirkt.

Charakteristisch für den deutschen Fall ist das personalisierte Verhältniswahlsystem: Ein Teil der Abgeordneten wird in Wahlkreisen gewählt, dabei erhält der Kandidat oder die Kandidatin mit den meisten Erststimmen das Mandat. Ein zweiter Teil der Sitze wird über Listenplätze vergeben, wodurch die proportionale Verteilung der Sitze relativ zu den abgegebenen Zweitstimmen sichergestellt wird. Dieses doppelte Verfahren hat Konsequenzen für die Repräsentation von Frauen: Es ziehen nämlich deutlich mehr Frauen über die Landeslisten in den Bundestag ein als über in Wahlkreisen gewonnene Direktmandate: 154 zu 64.[1] Anders gesagt: Frauen gewannen 38% der Listenmandate, aber nur 21% der Direktmandate.

2017 ist dabei keine Ausnahme: Abbildung 1 schlüsselt diese Zahlen für SPD und CDU für die Bundestagswahlen seit 1990 auf. Auch wenn die SPD in beiden Gruppen deutlich höhere Frauenanteile aufweist als die CDU, zeigt sich für beide Parteien eine Lücke zwischen dem Frauenanteil der über Liste bzw. in Wahlkreisen Gewählten. Bei der letzten Wahl betrug diese für die SPD 24 Prozentpunkte (51% zu 27%), bei der CDU 14 (33% zu 19%). Über die letzten drei Jahrzehnte ist dieser Abstand trotz vereinzelter Schwankungen weitgehend konstant geblieben.

Abbildung 1: Frauenanteil unten der über Liste und Direktmandate gewählten von CDU und SPD im Zeitverlauf.

 

Die Erklärungen für den geringen Frauenanteil unter den direkt gewählten Abgeordneten unterscheiden zwischen Angebot- und Nachfrageproblemen. Einerseits, so die angebotsseitige Erklärung, stünden nicht ausreichend Anwärterinnen für Wahlkreiskandidaturen zur Verfügung (Lawless und Fox 2013). Begründet wird diese vor allem mit geringem Selbstvertrauen qualifizierter Kandidatinnen (Clark, Hadley und Darcy 1989, Crowder-Meyer und Lauderdale 2014) sowie einer Abneigung gegenüber direkten Wettbewerbssituationen wie sie bei personalisierten Wahlkämpfen um ein einzelnes Direktmandat zwangsläufig entstehen (Preece und Stoddard 2015). Andererseits, so die nachfrageseitige Erklärung, würden diejenigen, die über Wahlkreiskandidaturen entscheiden, männlichen Kandidaten höhere Erfolgschancen zuschreiben (Norris 1985). Empirische Studien zeigen jedoch, dass diese nachfrageseitige Vermutung unbegründet ist. Wählende stimmen unabhängig vom Geschlecht der Kandidierenden ab, sondern treffen Wahlentscheidungen in Mehrheitswahlen vor allem basierend auf Parteizugehörigkeit (Darcy und Slavin Schramm 1977, Ono und Burden 2019).

An diesen Ursachen der Unterrepräsentation von Frauen unter den Wahlkreismandaten wird sich auch durch eine mögliche Wahlrechtsreform nichts ändern. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch, dass eine reformbedingte Verschiebung des Verhältnisses von Wahlkreis- zu Listenmandaten den Frauenanteil im Bundestag beeinflussen würde. Ursprünglich vorgesehen ist eine gleiche Anzahl an über Wahlkreise und Listen gewählten Abgeordneten für den Bundestag, also ein Verhältnis von 1:1. Im aktuellen Bundestag kommen auf 410 Listenmandate 299 Wahlkreismandate, was einem Verhältnis von 1,4:1 entspricht. Obwohl die Ist-Zusammensetzung des Bundestages mit dem höheren Anteil an Listenmandaten somit eine positive Wirkung auf den Frauenanteil hat, wurde das Ziel Geschlechterparität trotzdem deutlich verfehlt.

Der Vorstoß von Grünen, Linke und FDP sieht eine Erhöhung der Gesamtgröße des Bundestages auf 630 Sitze vor, zeitgleich mit einer Reduktion der Zahl der Wahlkreise von 299 auf 250, wodurch es zu einer Aufwertung der Listenmandate kommen würde (1,5:1) und der Frauenanteil (bei bleibender Lücke zwischen den Mandatstypen, von der aktuell auszugehen ist) marginal ansteigen könnte. Die Vorschläge aus den Reihen der CDU dagegen sehen in der ein oder anderen Weise eine proportionale Aufwertung der Wahlkreismandate im Vergleich zum aktuellen Ist-Zustand vor. Die von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble etwa vorgeschlagene Senkung der Direktmandate auf 270 mit 15 unausgeglichenen Überhangmandaten würde deutlich zu Lasten des Anteils an Listenplätzen gehen. Es ist somit davon auszugehen, dass keiner dieser Vorschläge einen deutlichen Anstieg im Frauenanteil mit sich bringt, eine weitere Stagnation, aber auch deutliche Rückschritte sind dagegen durchaus möglich.

Was bleibt ist die Erkenntnis, dass es weder im aktuellen Wahlsystem noch bei einer möglichen Reform zur Reduktion der Sitzzahl im Bundestag weitere Fortschritte bei der Einbindung von Frauen zu erwarten sind. In anderen Ländern weltweit sehen wir, dass in solchen Fällen gesetzliche Quoten die effektivste Lösung darstellen. Eine reine Quotierung der Listenmandate, wie für die Landtagswahlen in Brandenburg vorgesehen, würde insbesondere zu einem höheren Frauenanteil unten den Abgeordneten der AfD und FDP führen, die auch über die Liste wenige Frauen in den Bundestag bringen (14% bzw. 29%). Aber geschlechtergerechte Repräsentation kann im deutschen personalisierten Verhältniswahlsystem nur erreicht werden, wenn darüber hinaus auch die Wahlkreismandate zu gleichen Teilen an Frauen vergeben werden. Im Rahmen der Reformdiskussion gab es beispielsweise den Vorschlag, die Anzahl der Wahlkreismandate zu halbieren und dafür jeweils einen Mann und eine Frau im Team zu wählen. Die aktuelle Debatte um die Wahlrechtsreform bietet die Gelegenheit eine breite gesellschaftliche Diskussion über gesetzliche Quoten zu führen und neben der Größe des Bundestags andere demokratisch wünschenswerte Effekte des Wahlsystems zu steuern.

 

[1] Alle Berechnungen basieren auf eigenen Auswertungen der Daten des Bundeswahlleiters.

 

Referenzen:

Carey, J. M., & Shugart, M. S. (1995). Incentives to cultivate a personal vote: A rank ordering of electoral formulas. Electoral studies, 14(4), 417-439.

Clark, J., Hadley, C. D., & Darcy, R. (1989). Political ambition among men and women state party leaders: Testing the counter-socialization perspective. American Politics Quarterly 17 (2), 194-207.

Darcy, R. & Slavin Schramm, S. (1977). When women run against men. Public Opinion Quarterly 41 (1), 1-12.

Lawless, J. L. & Fox, R. L. (2013). Girls just wanna not run – The gender gap in young Americans’ political ambition. Washington: Women & Politics Institute.

Norris, P. (1985). Women's legislative participation in Western Europe. Western European Politics 8, 90-101.

Ono, Y. & Burden, B. C. (2019). The contingent effects of candidate sex on voter choice. Political Behavior 41 (3), 583-607.

Preece, J. & Stoddard, O. (2015). Why women don’t run: Experimental evidence on gender differences in political competition aversion. Journal of Economic Behavior & Organization 117, 296-308.

 

 

 

Information über die Autorin:

Corinna Kröber ist Inhaberin des Lehrstuhls für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Greifswald.