Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Wann gehen Menschen für Diktatoren auf die Straße?

Die Rolle von politischem Protest in nicht-demokratischen Staaten ist ein zentraler Untersuchungsgegenstand in der vergleichenden Politikwissenschaft. Soziale Bewegungen und Massenproteste können autokratische Herrscher aus dem Amt drängen und Demokratisierungsprozesse anstoßen. Die Ereignisse im Sudan und in Algerien in den letzten Monaten belegen dies in eindrucksvoller Weise. Weit weniger Beachtung finden in der Forschung Massenproteste, bei denen Bürgerinnen und Bürger nicht gegen, sondern für Machthaber und Regierungen demonstrieren, die nicht demokratisch legitimiert sind. Dennoch beobachten wir solche Proteste in einer Vielzahl autoritär geführter Länder, von Iran über Russland hin zu Venezuela. Unter welchen Umständen kommt es zu Pro-Regierungsdemonstrationen?


Der Staat als zentraler Akteur im Mobilisierungsprozess

Auf den ersten Blick scheint es paradox. Warum sollten Bürger auf die Straße gehen, um politische Führer zu unterstützen, die nicht demokratisch gewählt sind, und die Politik machen, von der vor allem eine kleine Elite profitiert? Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten werden in diesen Ländern oft nur ungenügend geschützt. Doch bei genauerem Hinsehen wird zum einen klar, dass viele Menschen gute Gründe haben, um sich für den Verbleib eines autokratischen Herrschers einzusetzen. Entweder sie gehören einer gesellschaftlichen Gruppe an, die von der Politik der aktuellen Regierung profitiert, oder die politischen Alternativen sind noch weniger attraktiv. Darüber hinaus verfügen autokratische Regierungen über weitreichende Möglichkeiten, politische Unterstützung zu mobilisieren: Neben direktem Zwang, können das finanzielle und soziale Anreize oder auch staatliche Propaganda sein. Um das Auftreten von Pro-Regierungsdemonstrationen zu verstehen, liegt es daher nahe, nach dem Nutzen dieser Mobilisierung für Autokraten zu fragen.


Mobilisierung zur Abwehr politischer Herausforderer

Pro-Regierungsdemonstrationen können zwei zentrale Funktionen erfüllen. Zum einen signalisieren sie Stärke der Regierung gegenüber denjenigen, die deren Sturz beabsichtigen. Mit Massendemonstrationen zeigt die Regierung, dass sie einen Teil der Bevölkerung für ihre Sache auf die Straße bringen kann. Herausforderer aus den Reihen des Militärs oder großer Oppositionsparteien können dadurch in ihren strategischen Überlegungen beeinflusst werden und von einem Umsturzversuch absehen. Zum anderen sind manche Erscheinungsformen von Pro-Regierungsdemonstrationen auch als eine Art der Repression zu werten. Häufig treten sie in Form von Gegendemonstrationen auf und Gewalt von Regierungsanhängern gegen oppositionelle Aktivisten wird in vielen Fällen nur unzureichend durch die Sicherheitsbehörden verfolgt. Gleichzeitig kann die Regierung die Verantwortung für Gewalt in den Straßen von sich weisen. Darüber hinaus dienen gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern auch als Vorwand für ein hartes Durchgreifen der Sicherheitskräfte zur Wahrung der öffentlichen Ordnung.


Kosten und unbeabsichtigte Konsequenzen

Dennoch treten Pro-Regierungsdemonstrationen eher selektiv auf und nicht jedes Mal, wenn eine autokratisch geführte Regierung unter Druck gerät. Der Hauptgrund hierfür ist, dass Mobilisierung signifikante Kosten verursacht und dass die Regierung nur eine begrenzte Kontrolle über das Handeln ihrer Anhänger hat. Hierzu muss man wissen, dass Autokraten in der Regel ihren aktuellen Beliebtheitsgrad nur schwer einschätzen können, da die Bevölkerung ihre politische Meinung aufgrund möglicher Repressionen nicht (oder nur verzerrt) kundtut. Wie viele Bürger*innen tatsächlich bereit sind für die Regierung zu demonstrieren, ist daher ungewiss. Ein Aufruf zur Demonstration, dem nur wenige folgen, hätte eine verheerende Außenwirkung. Hinzu kommt, dass Menschen ein rationales Interesse haben, nicht teilzunehmen. Ihnen reicht es, wenn die Anderen teilnehmen und sich für das Gemeingut, in dem Fall den Verbleib der Regierung im Amt, engagieren. Darüber hinaus können Auseinandersetzungen zwischen Gegnern und Unterstützern eskalieren. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Autokraten zwar von Mobilisierung profitieren können, diese aber auch beachtliche Kosten mit sich bringt. Andere Mittel des Machterhalts wie beispielsweise der Einsatz von Polizei und Militär sollten daher bevorzugt eingesetzt werden.


Empirische Befunde

Um das Phänomen der Pro-Regierungsdemonstrationen besser zu verstehen und systematische Muster hinsichtlich ihres Auftretens zu erkennen, haben wir eine Datenbank mit Protestereignissen in allen Autokratien zwischen 2003 und 2015 erstellt. Die Mass Mobilization in Autocracies Database (MMAD) beinhaltet mehr als 2.000 Pro-Regierungsdemonstrationen für eine große Anzahl autokratischer Regierungen. Wenn wir Demonstrationen für die Regierung mit denen gegen die Regierung vergleichen, zeigt sich, dass Pro-Regierungsdemonstrationen eher gewalttätig werden, staatliche Sicherheitskräfte jedoch weniger häufig gegen Regierungsunterstützer vorgehen. Eine statistische Analyse über Zeit zeigt weitere interessante Zusammenhänge in Bezug auf das Auftreten von Pro-Regierungsdemonstrationen. Wir beobachten signifikante Anstiege, wenn das Risiko eines Staatsstreiches hoch ist, oppositionelle Bewegungen in Nachbarländern mobilisieren sowie im Vorfeld von Wahlen. Diese Umstände haben gemeinsam, dass direkte Repression hier wenig erfolgsversprechend ist. Vor Wahlen beispielsweise ist es wichtig einen fairen Wettbewerb zumindest vorzutäuschen. Zwangsmaßnahmen gegen die Bevölkerung können in diesem Fall zu mehr Opposition gegen das Regime führen. Welche Rolle die Zivilgesellschaft bei der Stützung autokratischer Regierung übernimmt, ist Gegenstand weitere Forschung zu deren Mobilisierungsstrategien.


Zum frei zugänglichen Artikel in Comparative Political Studies.


Sebastian Hellmeier ist Mitglied der “Communication, Networks and Contention” Research Group und promoviert an der Graduate School of Decision Sciences der Universität Konstanz. Seine Forschungsinteressen liegen in der Vergleichenden Politikwissenschaft im Allgemeinen und den Themen political protest, authoritarian regimes and the political impacts of information and communication technologies im Speziellen.