Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Was wäre, wenn bei Europawahlen die Wahlbeteiligung anstiege?

Die Beteiligung bei Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) fällt deutlich geringer aus als bei den nationalen Parlamentswahlen. Seit den ersten Direktwahlen 1979 ist die Wahlbeteiligung bei EP-Wahlen kontinuierlich zurückgegangen, doch der Trend hat sich zuletzt verlangsamt und ist 2014 fast zum Stillstand gekommen. Zu diesem Zeitpunkt konnten euroskeptische Parteien deutliche Zuwächse verzeichnen und einige Kommentatoren haben dies mit einer stärkeren Wahlbeteiligung in Verbindung gebracht. Unlängst haben Expert*innen des European Council on Foreign Relations geäußert, dass eine stärkere Mobilisierung der Wähler*innen bei den Europawahlen 2019 dazu führen könnte, dass eine pro-europäische schweigende Mehrheit übertönt wird, wenn zwischen dem 23. und 26. Mai 2019 das neue Europaparlament gewählt wird. Tatsächlich könnte die Wahlbeteiligung Auswirkungen auf das Ergebnis haben. Unsere Analyse zeigt jedoch, dass eine stärkere Wahlbeteiligung eher zu Lasten extremistischer Parteien gehen könnte.

Warum sollte die Wahlbeteiligung bei Europawahlen eine Rolle spielen?

Bei den Europawahlen handelt es sich um nationale Nebenwahlen, bei denen die Wahlentscheidung vor allem durch innenpolitische Konflikte und Debatten beeinflusst wird. Dabei fällt die Wahlbeteiligung viel geringer aus, so dass eine Erhöhung der Wahlbeteiligung potenziell größere Folgen für Kandidat*innen und Parteien haben kann. Bei den EP-Wahlen 2014 lag die durchschnittliche Wahlbeteiligung um 24 Prozentpunkte niedriger als bei den letzten nationalen Hauptwahlen in den Mitgliedstaaten (2009 betrug die Differenz 25 Prozentpunkte). Darüber hinaus schneiden extremistische Parteien bei EP-Wahlen relativ gut ab, da es für große und moderate Parteien ungleich schwieriger ist, das Mobilisierungsniveau unter ihrer Anhängerschaft aufrecht zu halten. Häufig sind es auch die extremistischen Parteien, welche die deutlichsten europaskeptischen Positionen vertreten. Rechtsextreme Parteien lehnen die europäische Integration ab, weil sie nationale Identität und Souveränität durch EU bedroht sehen, während linksextreme Parteien den neoliberalen Charakter des europäischen Projekts ablehnen. Die Einstellungen und Positionen zur europäischen Integration bilden jedoch eine eigenständige politische Dimension, und einige euroskeptische Parteien, wie die ChristenUnion (CU) in den Niederlanden, sind in Bezug auf die ideologische Links-Rechts-Dimension nicht besonders extrem.

Die Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2007/2008 und ihre Folgen haben dem Euroskeptizismus deutlichen Auftrieb gegeben. Während es bei den EP-Wahlen 2009 für euroskeptische Parteien, wenn überhaupt, nur bescheidene Gewinne gab, konnten sie ihre Stimmanteile bei den Wahlen 2014 deutlich ausbauen. Da dies vor dem Hintergrund einer nahezu stagnierenden Wahlbeteiligung geschah, könnte man vermuten, dass euroskeptische und extremistische Parteien von einer Mobilisierung ehemaliger Nichtwähler*innen profitieren. Ob dies tatsächlich der Fall ist, lässt sich nur beantworten, wenn man ermitteln kann, wie Nichtwähler*innen abstimmen, wenn sie doch zur Wahl gingen.

Eine höhere Beteiligung würde linke und moderate Parteien stärken.

Auf Basis von Umfragedaten aus den Europäischen Wahlstudien 2009 und 2014 können wir durch Simulationen plausible (kontrafaktische) Stimmenanteile berechnen, die Parteien unter einer höheren Wahlbeteiligung erhalten würden. Zu diesem Zweck werden die Wahlentscheidungen von Nichtwählern*innen anhand soziodemographischer Merkmale und politischer Einstellungen simuliert. Diese simulierten Stimmen der Nichtwähler*innen werden in dem Umfang den vorliegenden Stimmen der Wählerinnen hinzugefügt, bis eine höhere Wahlbeteiligung erreicht wird. Dabei werden die simulierten Stimmen der Nichtwähler*innen der Reihe nach ausgewählt, beginnend mit denjenigen, welche die höchste Wahrscheinlichkeit haben, mobilisiert zu werden. Als plausiblen Wert für eine kontrafaktisch höhere Wahlbeteiligung wurde die Wahlbeteiligung der letzten nationalen Hauptwahlen des jeweiligen Mitgliedstaates herangezogen, um so das länderspezifische Mobilisierungspotential zu berücksichtigen. Schließlich werden die Daten noch in Bezug auf spezifische erhebungsbezogene Phänomene des Befragtenverhaltens kontrolliert (das betrifft sogenanntes Overreporting der Wahlbeteiligung, als auch Verzerrungen in der berichteten Wahlentscheidung).

Für etwa ein Drittel aller Parteien hätte eine höhere Wahlbeteiligung in den Jahren 2009 oder 2014 keinen Einfluss auf ihren Stimmenanteil gehabt. Einige Parteien hätten jedoch erhebliche Gewinne und Verluste erlitten. Abbildung 1 zeigt, die Effekte einer höheren Wahlbeteiligung bei den EP-Wahlen 2009 und 2014 für Deutschland. Die dunkelgrauen Balken zeigen den Stimmenanteil der Parteien gemäß der Wahlstudien, die hellgrauen Balken zeigen die simulierten kontrafaktischen Stimmenanteile, die zu erwarten sind, wenn die Wahlbeteiligung so hoch wie bei den Bundestagswahlen 2005 bzw. 2013 gewesen wäre. Die dünnen Fehlerbalken berichten das 95-Prozent-Vertrauensintervall der Schätzung und vermitteln einen Eindruck der Unsicherheit, die natürlicherweise mit Ergebnissen aus Simulationen verbunden sind. Während im Jahr 2009 keine statistisch belastbaren Effekte höherer Wahlbeteiligung für deutsche Parteien bei der Europawahl zu finden sind, liegen 2014 für alle Parteien außer der Linken und der AfD statistisch signifikante Veränderungen in den Stimmanteilen bei kontrafaktisch höherer Wahlbeteiligung vor. Dabei würden FDP, Grüne und CDU/CSU jeweils Stimmanteile einbüßen, SPD und die Gruppe der „sonstigen“ würden an Stimmen hinzugewinnen.

 

Bei Betrachtung aller Parteien in der EU zeigt sich, dass sowohl linke als auch gemäßigte Parteien erheblich von einer höheren Wahlbeteiligung profitieren würden. Mit jedem Skalenpunkt, den sich eine Partei vom gemäßigten Ende der Extremismus-Skala des Links-Rechts entfernt, würde 0,75 Prozentpunkte ihres Stimmenanteils verlieren, wenn die Wahlbeteiligung bei den EP-Wahlen 2009 so hoch gewesen wäre wie bei den letzten vorangegangenen nationalen Parlamentswahlen (1,05 Prozentpunkte im Jahr 2014, vgl. Abbildung 2; Nach Kontrolle weiterer Eigenschaften der Parteien liegt dieser Wert 2014 noch bei 0,65 Prozentpunkten, 2009 bleibt er unverändert bei 0,75 Prozentpunkten). Die Haltung der Parteien zur europäischen Integration allein steht jedoch in keinem Zusammenhang mit der Wahlbeteiligung. Schließlich hätten Parteien, die zugleich euroskeptisch und extremistisch sind, von einer höheren Wahlbeteiligung bei den Wahlen 2014 etwas profitiert, aber nicht 2009.

Mobilisierung zusätzlicher Wähler führt zu dem Verlust von Stimmenanteilen rechter und extremer Parteien.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass aufgrund der geringen Wahlbeteiligung erheblicher Spielraum dafür besteht, dass eine Mobilisierung zusätzlicher Wähler*innen die Stimmenanteile der Parteien verändert. Im Durchschnitt hätten rechte und extreme Parteien sowohl 2009 als auch 2014 unter einem Szenario höherer Wahlbeteiligung Verluste erlitten. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse wären linke und gemäßigte Parteien gut beraten, ihre Bemühungen zu intensivieren, mehr Menschen zur Wahlteilnahme zu bewegen. Was die Effekte in Bezug auf euroskeptische Positionen bedeuten, so lassen sich weder Hinweise auf eine Verstärkung noch eine Eindämmung finden (lediglich solche euroskeptischen Parteien, die zugleich links- oder rechtsextremistisch sind, hätten 2014 leicht von einer höheren Wahlbeteiligung profitiert. Bei der Interpretation unserer Befunde gilt es zu berücksichtigen, dass ein Anstieg der Wahlbeteiligung dazu führen könnte, dass Parteien ihre Wahlkampfbemühungen anpassen, um die Unterstützung neu mobilisierter, aber unentschlossener Wähler zu gewinnen. Ferner könnte jeder Anreiz, der bisher passive Bürger*innen mobilisiert dazu führen, dass sie ihre Parteineigungen überdenken. Für die gesamte EU deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass extremistische Parteien im Falle steigender Wahlbeteiligung motiviert sein müssten, ihre Wählerbasis in die bürgerliche Mitte hinein auszudehnen, da sie ansonsten Stimmenanteile verlieren. Und schließlich würden die Anreize für alle Parteien, ihre Anstrengungen sowohl bei der Mobilisierung zusätzlicher Wähler als auch bei der Ansprache unentschlossener Personen zu intensivieren, die repräsentativen Bindungen zwischen den Bürgern und den Eliten in Eu