Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

Die entscheidende Rolle der Wahlbeteiligung bei der anstehenden Europawahl

Das Europäische Parlament wurde 1979 das erste Mal von den Bürger*innen der damaligen Europäischen Gemeinschaft direkt gewählt. Schon nach dieser ersten Wahl galten Europawahlen in der Politikwissenschaft als nationale Nebenwahlen: Da weniger auf dem Spiel steht, wählen die Bürger*innen weniger strategisch. Überlegungen zur Regierungsbeteiligung oder zur Überwindung einer Sperrhürde fließen weniger stark in die Wahlentscheidung ein und Protestwählen ist häufiger. Außerdem sind weniger Bürger*innen motiviert, überhaupt ihre Stimme abzugeben. In der Summe sind diese Faktoren nicht nur dafür verantwortlich, dass Regierungsparteien bei Europawahlen häufig verlieren und Oppositionsparteien, insbesondere kleinere und polar positionierte Parteien gewinnen, sondern sie sorgen auch für eine insgesamt niedrigere Wahlbeteiligung. Dieser letzte Punkt gilt, wie Abbildung eins zeigt, für alle Europawahlen in Deutschland. Eine Annäherung der Beteiligungsquoten an die Bundestagswahlen ist nicht in Sicht.

Im Gegensatz zur Wahlbeteiligung fallen die empirischen Ergebnisse zu den anderen Punkten weniger eindeutig aus. Analysen zu den letzten Europawahlen in Deutschland widersprechen der Annahme unterschiedlicher Wahlmotive zwischen nationaler und europäischer Parlamentswahl. Betrachtet man nur Personen, die an beiden Wahlen teilnehmen, finden sich kaum relevante Unterschiede in den Motiven der Wahl. In beiden Fällen fühlen sich die Bürger*innen aus ähnlichen Gründen zu den jeweiligen Parteien hingezogen. 2013/14 profitierte beispielsweise die AfD auf Bundes- wie auf Europaebene in ähnlichem Maße von EU-skeptischen bis -feindlichen Einstellungen, was eher auf sachfragenorientiertes Wählen denn auf ein reines Protestwählen verweist. Wenn nun die Kriterien der Wahlentscheidung ähnliche sind, müssen die Unterschiede in den Wahlergebnissen ein Effekt unterschiedlicher Beteiligungen sein: Die Wähler*innenschaften sind bei beiden Wahlen schlichtweg nicht identisch und in der Folge schneiden die Partei unterschiedlich ab. Verantwortlich für die relativen Gewinne und Verluste sind damit Kompositionseffekte – verursacht durch die niedrigere Wahlbeteiligung bei Europawahlen.

Parteibindungen lassen nach

Nun ist die Situation 2019 selbstredend eine andere als 2014 oder 2009. Die deutsche Parteienlandschaft hat sich deutlich gewandelt, so ist beispielsweise die AfD keine vornehmlich auf Euro(pa)-Kritik orientierte Partei mehr, sondern ähnelt stärker anderen rechtspopulistischen Parteien in Europa. Auch haben sich die Dimensionen des politischen Wettbewerbs verschoben: Klassische sozio-ökonomische Fragen haben gegenüber sozio-kulturellen Fragen an Relevanz eingebüßt. Zudem sind Polarisierung und Fragmentierung stark gestiegen.

Mitverantwortlich für diesen Wandel bzw. eine Vorbedingung dafür ist eine höhere Bereitschaft der WählerInnen, bei der nächsten Wahl auch einmal eine andere Partei zu wählen oder anders formuliert: eine höhere elektorale Verfügbarkeit von Wähler*innenstimmen auf dem politischen Markt, die durch in Umfragen ermittelte Wahlneigungen (Propensity to Vote – PTV) erfasst wird. Sie bilden für jede Person und jede relevante Partei die individuell geäußerte Neigung ab, ihr in der Zukunft die Stimme zu geben. Eine parteipolitisch offene Person gibt z.B. an, dass alle Parteien die gleiche Chance haben, ihre Stimme zu erhalten. Gibt es dagegen nur eine Partei, der sie jemals ihre Stimme geben würde, gilt die Stimme dieser Person als auf dem Wähler*innenmarkt nicht verfügbar. Ein Wert von „2“, wie er in Abbildung 2 für die WählerInnen der CDU/CSU 2013 angegeben wird, bedeutet somit, dass für diese im Durchschnitt zwei weitere Parteien in Frage kommen, ihre Stimme zu erhalten. Der Befund gestiegener Verfügbarkeit passt dabei zu dem seit längerem zu beobachteten Nachlassen von Parteibindungen (dealignment) und ist in den meisten europäischen Demokratien zu beobachten.

Genau diese zwischenzeitliche Offenheit für eine geänderte Parteiwahl ist notwendig, damit politischer Wettbewerb funktioniert. Erst wenn sich Parteien einerseits nicht sicher sein können, dass ihre Wähler*innen ihnen treu bleiben, und sie sich andererseits in der Lage sehen, Wähler*innen von anderen Parteien gewinnen zu können, entsteht politischer Wettstreit, der seinerseits Repräsentation und accountability (Rechenschaftspflichten) erhöhen kann. Insofern ist elektorale Verfügbarkeit prinzipiell ein demokratietheoretisch wünschenswerter Zustand. Dabei ist anzunehmen, dass Wahlgewinner eine verfügbarere und damit unsichere Wähler*innenschaft haben und umgekehrt Wahlverlierer eher geschlossene Wähler*innenschaften aufweisen – übrig sind bei starken Wahlverlusten schließlich nur noch überzeugte Anhänger*innen, die, komme was wolle, ihrer Partei stets treu sein werden.

Daher sind die Ergebnisse aus Abbildung 2 einerseits plausibel, andererseits überraschend. Dass auch im Vergleich von 2013 und 2017 die Wähler*innen insgesamt verfügbarer sind, leuchtet vor dem Hintergrund nachlassender Parteibindungen durchaus ein. Für die Union und die SPD als klare Verlierer*innen gilt dies allerdings weniger. Dieser Befund verweist auf die durchaus prekäre Situation der Volksparteien. Die zweite Ausnahme ist die AfD – ihr Elektorat ist trotz massiver Gewinne 2017 geschlossener als 2013. Wie weitergehende Differenzierungen zeigen, gilt dies auch umgekehrt: Nicht nur sind AfD-Wähler*innen weniger verfügbar für andere Parteien, auch sind die Wähler*innen der anderen Parteien kaum noch für die AfD erreichbar. Dies verweist auf eine wechselseitige elektorale Schließung bzw. Segmentierung des Elektorats.

Höhe der Wahlbeteiligung ist entscheidend

Vor diesem Hintergrund, dass eine Wechselwahl zwischen den Etablierten und den Rechtspopulisten unwahrscheinlich(er) ist und nicht in erster Linie unterschiedliche Motive der Wahl, sondern die niedrigere Partizipationsrate die unterschiedlichen Ergebnisse produziert, wird auch 2019 die Wahlbeteiligung für die Frage entscheidend sein, wie stark EU-Befürworter*innen im Gegensatz zu EU-Gegner*innen abschneiden werden.