Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft

2022

Über Staaten, Container und die politische Einhegung globaler Infrastrukturmacht. Ein Beitrag von Jutta Bakonyi

Debatten um empirisch unterscheidbare Staatsformen, staatliche Schwäche und Fragilität transportieren politische Raum- und skalare Ordnungsvorstellungen, die nur selten thematisiert werden. Der folgende Beitrag diskutiert diese Vorstellungen am Beispiel der Mogadishu International Airport (MIA) Zone, eine militarisierte Enklave inmitten Mogadischus, von der aus internationale Staatenbildung betrieben wird. Er verdeutlicht erstens, dass sich politische Räume in täglichen, oft konflikthaften und widersprüchlichen Praktiken konstituieren. Zweitens zeigt er wie sich dominante, an den Staat gebundene Ordnungsvorstellungen an der weltweiten Ausdehnung und Verdichtung von Infrastrukturnetzwerken und Logistikoperationen brechen. Drittens verweist der Beitrag auf das Zukunftsmodell modularer Souveränität, die sich flexibel kapitalistischen Anforderungen nach Flexibilität, Bewegung und Innovation anpasst.

Raum und Ressourcen – Die politics of scale von Landrechtskonflikten. Ein Beitrag von Alina Brad, Riccarda Flemmer und Jonas Hein

Der Beitrag zeigt am Beispiel der Umsetzung des Klimaschutzprogramms REDD+ (Reducing Emissions from Deforestation and Degradation) und der Ausweitung des agroindustriellen Ölpalmenanbaus in Indonesien, wie räumliche Restrukturierung die Landrechte lokaler Bevölkerungsgruppen einschränken können. Zeitgleich ermöglicht die Entstehung neuer transnationaler Verhandlungs- und Bedeutungsebenen insbesondere indigenen Gruppen,Widerstand gegenüber Landnahmen durch die Agroindustrie zu leisten, indem sie lokale und nationale scales (scale jumping) überspringen und sich auf Regeln transnationaler Zertifizierungssysteme wie dem Roundtable for Sustainable Palmoil (RSPO) beziehen. Allerdings ist die agency der Akteur*innen von deren Wissen um Maßstäbe und ihre Bedeutungen abhängig und das emanzipatorische Potential von Maßstabswechseln muss im Kontext von Forderungen der Dekolonisierung von Ressourcenpolitik gesehen werden.

Die “Politics of Scale” in der deutschsprachigen Politikwissenschaft: Warum sich eine breitere Diskussion des Konzepts lohnt. Ein Beitrag von André Bank, Riccarda Flemmer, Regina Heller, Maren Hofius, Hanna Pfeifer und Jan Wilkens

In der deutschen Politikwissenschaft werden geografische Begriffe oft noch nicht ausreichend kritisch reflektiert. Die zumeist geografisch ausgerichteten subdisziplinären Unterteilungen setzen der Erklärung komplexer und Ebenen-übergreifender, politischer Strukturen und Verflechtungen Grenzen. Zudem zementieren sie die Vorstellung einer quasi-natürlichen Hierarchie. Das der Humangeografie entlehnte Konzept der politics of scale eignet sich für eine Problematisierung von Raumkonstruktionen. Denn es betont die Konstruiertheit von Raum, und die Produktion unterschiedlicher Maßstabsebenen als Ergebnis sozialer Konflikte, ohne dabei a priori zu hierarchisieren. Es erlaubt zudem die Analyse der machtpolitischen Effekte bestimmter Skalierungen. Es kann somit sowohl politikwissenschaftliche Analysen verfeinern als auch die Sprechfähigkeit zwischen den Subdisziplinen verbessern – und schließlich neue Impulse für eine kritische Reflexion des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik geben.

Bundestagswahl 2021: Warum der Wettkampf um den Parteivorsitz die Wahlchancen der CDU beeinträchtigt hat. Ein Beitrag von Jan Berz

Auf ihrem 33. Parteitag hat die CDU Armin Laschet zum neuen Vorsitzenden gewählt. Doch welche Auswirkungen wird der Wettkampf um die innerparteiliche Führungsfrage auf die Wahrnehmung der Partei und auf das Wahlergebnis der CDU bei der kommenden Bundestagswahl am 26. September haben? Während das Profil von Parteivorsitzenden für das Wahlverhalten der Wähler*innen von zunehmender Bedeutung ist, zeigen neuste Studien, dass der öffentliche Wettstreit um den Parteivorsitz in Regierungsparteien wie der CDU zu sinkenden Stimmenanteilen bei der nächsten Parlamentswahl führt.

Die deutsche Ratspräsidentschaft 2020: Wie eine ‚Rolle‘ den Handlungsrahmen verändert. Ein Beitrag von Anja Thomas

Deutschland hatte von 1. Juli bis zum 31. Dezember 2020 die EU-Ratspräsidentschaft inne. Das Treffen des Europäischen Rates am 10. Dezember 2020 hat eine Einigung gebracht, die in den Augen vieler Beobachter einen symbolisch weitreichenden Schritt für die europäische Integration darstellt: Die 27 Staats- und Regierungschef*innen haben sich unter anderem auf die Aufnahme gemeinsamer Schulden geeinigt, um einen europäischen Fonds zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise in den Mitgliedstaaten aufzulegen. Ein solches Instrument wurde bereits im März durch einen Brief von neun Mitgliedsregierungen unter der Führung Frankreichs und Italiens unter dem Stichwort „Coronabonds“ gefordert. Während sich Deutschland in der Eurozonenkrise strikt gegen Formen der kollektiven Schuldenfinanzierung gesperrt hat, hat es schon im Mai zusammen mit Frankreich eine Initiative vorgelegt, die solche Instrumente vorsieht. Wie bestimmte die Übernahme des Vorsitzes im Rat der EU im zweiten Halbjahr 2020 diesen in Europa weithin beachteten „Sinneswandel“ der deutschen Bundesregierung?

Stabile Jugend, der man nicht traut: Politisches Interesse und Wählen mit 16. Ein Beitrag von Thorsten Faas und Arndt Leininger

Die Reform des Bundestagswahlrechts, auf die sich die Große Koalition im August dieses Jahres einigen konnte, wird gemeinhin nicht als großer Wurf gesehen. Im Fahrwasser der eigentlichen Reform aber wurde eine Kommission aus Politiker*innen und Wissenschaftlicher*innen auf den Weg gebracht, die sich mit weitreichenden Fragen rund um das Wahlrecht befassen soll – u.a. mit einer möglichen Absenkung des Wahlalters für Bundestagswahlen. Es mag überraschen, aber wir verfügen tatsächlich über nur wenige empirische Erkenntnisse über Chancen und Risiken eines abgesenkten Wahlalters. Stimmt es etwa, dass junge Menschen sich weniger, ja vielleicht sogar zu wenig für Politik interessieren, wie Skeptiker*innen gerne vermuten? Und falls das stimmt: Ist ihr Interesse geringer, weil sie nicht wählen dürfen? Warum sollte man sich für etwas interessieren, an dem man ohnehin nicht teilnehmen darf – was Befürworter*innen gerne als Argument einbringen? Dieser Beitrag präsentiert die Ergebnisse der Jugendwahlstudie zu den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen am 1. September 2019.

75 Jahre Vereinte Nationen, 30 Jahre globale Klimagovernance: Zwischen Transformationsdynamik und kollektivem Beschwörungsritual. Ein Beitrag von Stefan Aykut

Globale Klimagovernance ist zu einem Experimentierfeld für neue Regulierungsformen geworden. Das war historisch nicht unbedingt so angelegt. Internationale Klimapolitik gründet zunächst auf der 1992 in Rio de Janeiro verabschiedeten Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (United Framework Convention on Climate Change, UNFCCC). Die ab 1995 regelmäßig abgehaltenen Klimakonferenzen (COPs) mündeten dann 1997 in das Kyoto Protokoll. Nach dem Vorbild der Vereinbarungen zum Schutz der Ozonschicht legt dieses Vertragswerk rechtlich verbindliche Reduktionsziele für Treibhausgasemissionen in Industriestaaten fest, und sieht die Bereitstellung von Finanzmitteln für Klimaanpassung und saubere Energiegewinnung in Entwicklungsstaaten vor. Dieser Ansatz gilt heute als gescheitert. Besiegelt wurde sein Ende durch die erfolglosen Verhandlungen über ein Kyoto-Nachfolgeabkommen in Kopenhagen im Jahr 2009. Entscheidend war dabei der Widerstand der USA, aber auch großer Schwellenländer wie China, gegen verbindliche Emissionsreduktionsverpflichtungen. Die folgende Neuausrichtung der Verhandlungen mündete 2015 in das Übereinkommen von Paris (Englisch „Paris Agreement“).

75 Jahre Vereinte Nationen, 40 Jahre humanitäre Rüsungskontrolle: Weshalb das Konsensprinzip auf den Prüfstand gehört. Ein Beitrag von Elvira Rosert

Die Vereinten Nationen (United Nations, UN) werden in diesem Herbst 75, doch dies ist nicht der einzige besondere Geburtstag in der UN-Familie – auch die UN-Konvention über bestimmte konventionelle Waffen (Convention on Certain Conventional Weapons, CCW) wurde im Oktober vierzig Jahre alt. Für die CCW war diese Zeit weniger erfolgreich als für die humanitäre Rüstungskontrolle insgesamt: Nur einer von drei wichtigen Verträgen (das Protokoll über blindmachende Laserwaffen) konnte in der CCW verabschiedet werden, während die beiden anderen (die Konventionen zu Antipersonenminen und zu Streumunition) außerhalb der UN zu Ende verhandelt werden mussten, nachdem in der CCW keine Einigung möglich war. Seit einigen Jahren diskutiert die Konferenz über autonome Waffensysteme – und die Option, die CCW zu verlassen, um eine verbindliche Regulierung zu erringen, steht erneut im Raum. Warum dies keine gute Lösung ist und welcher prozedurale Schritt angeraten ist, um Beschlüsse in der CCW zu ermöglichen, diskutiert dieser Beitrag.

75 Jahre Vereinte Nationen, 170 Jahre internationale Kooperation in Gesundheitsfragen: Welche Zukunft für globale Gesundheitspolitik? Ein Beitrag von Anna Holzscheiter

Die COVID-19 Pandemie wird gerne als eine Rückkehr zum Gesundheits-Nationalismus, als der Anfang vom Ende der Globalisierung und als symptomatisch für die Handlungsunfähigkeit internationaler Organisationen, allen voran der Vereinten Nationen (UN), charakterisiert. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die stark nach innen gewandte öffentliche Debatte und Medienberichterstattung über die Pandemie. So standen die Vereinten Nationen im Jahr 2020 vor allem im Kontext des Austritts der USA aus der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Debatte über das Versagen der WHO als Frühwarnsystem bei Gesundheitsnotständen im Rampenlicht. Die Gleichzeitigkeit der Pandemie und des 75-jährigen Jubiläums der Vereinten Nationen wirft daher die Frage auf, welchen Einfluss die Vereinten Nationen gegenwärtig und auch in Zukunft auf globale Gesundheitspolitik haben werden. Dieser Beitrag stellt kurz dar, wie sich die institutionelle (Un-)Ordnung globaler Gesundheitspolitik über Zeit verändert hat und welche Herausforderungen sich für insbesondere für die WHO in einer komplexen Landschaft traditioneller und hybrider, öffentlicher und privater Akteure stellen. Aufbauend darauf entwirft der Beitrag abschließend drei Szenarien für die Zukunft der globalen Gesundheitspolitik.

Clausewitz lesen – aber wie? Plädoyer für eine genealogische Perspektive. Ein Beitrag von Tobias Wille

Carl von Clausewitz (1780–1831) ist auch heute noch ein wichtiger Stichwortgeber in politikwissenschaftlichen und verteidigungspolitischen Debatten. Insbesondere seine Aussage, der Krieg sei eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, ist zu einem geflügelten Wort geworden. Allerdings wirkt es manchmal etwas befremdlich, wie die Gedanken des immerhin seit fast zwei Jahrhunderten toten preußischen Generals auf gegenwärtige theoretische und politische Probleme bezogen werden. In diesem Blog-Beitrag umreiße ich die gängigen Positionen zur „Aktualität“ von Clausewitz und plädiere für eine genealogische Lesart, die seinen Einfluss auf die politische Praxis der Gegenwart betont.